Redner(in): Christina Weiss
Datum: 09.10.2003

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss eröffnet eine Retrospektive mit Porträtaufnahmen des Fotografen August Sander.
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/21/538921/multi.htm


Berlin, die Stadt, die sich eigentlich nichts leisten kann, beschenkt uns heute mit großem Luxus. Sie leistet sich mit August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts eine phantastische Ausstellung, weil es eine Institution gibt, die sich sehr viel leisten kann. Und das meine ich nicht vordergründig finanziell. Denn die Sparkassen-Finanzgruppe, der wir diese Ausstellung verdanken, leistet sich vor allem das Engagement,"Kultur in die Fläche" zu bringen. Umso größer ist also unser Glück, wenn eine so prominente Ausstellung wie die August Sander-Retrospektive von Köln auch nach Berlin kommen kann, was uns zeigt, dass selbst die Zentren eine noch nicht eroberte Fläche sind. Die deutsche Hauptstadt hat noch immer einen enormen Bedarf an Kunst und Kultur. Und ich bin der SK Stiftung Kultur der Stadtsparkasse Köln sehr dankbar - und ich denke, ich darf hier auch in Ihrem Namen sprechen, meine Damen und Herren - ich bin der SK Stiftung Kultur wirklich sehr dankbar, dass sie den größten Teil der hier präsentierten Exponate aus dem Bestand ihres August Sander-Archivs zur Verfügung stellte, das immerhin die weltweit größte Werksammlung dieses Künstlers ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

August Sander kommt nicht allein nach Berlin. Begleitet wird er von zahlreichen seiner Maler- , Graphiker- und Bildhauerfreunden, die von Sanders Porträt-Kompendium der Menschen des 20. Jahrhunderts begeistert waren und ihm im Geist gern folgten. Sie wussten, dass Sander weder den Wettlauf mit den bildenden Künsten suchte noch dem Schnappschuss huldigte, wie es die Amateure tun. Sie erkannten, dass sich August Sander auf einer Expedition befindet, einer Expedition zu den Menschen, für die er mit der biedermeierlich-wilhelmischen Ateliertradition vollständig brach. Er hatte sich für die "absolute Photographie" entschieden, vergleichbar einem Musiker, der absolute Musik komponiert und die Programmmusik verachtet. Seine Künstlerfreunde verstanden das nüchterne Pathos, das für Sander in diesem selbstgewählten Auftrag steckte. Und so werden uns die Arbeiten Sanders durch die Arbeiten seiner Freunde nur mehr verständlicher und ich freue mich, dass die Arbeiten der Künstlerkollegen aus einer Privatsammlung zur Verfügung stehen.

Meine Damen und Herren!

Heute, wo Kultur oft mit Event verwechselt wird, weil man krampfhaft um Zeitnähe bemüht ist, verdanken wir einem wahrhaften Kunst-Ereignis wie der August Sander-Ausstellung die Chance, durch die Einheit von Rückblick und Vorausblick die Eindimensionalität der Zeit zu sprengen. Eine ganze Geschichtszeit, die Zeit zwischen den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts, tritt uns hier deutlicher als in irgendeiner literarischen Aufarbeitung gegenüber. Wir sehen tatsächlich diese Zeit, diese Epoche. Wir werden zwischen Rückbesinnung und Selbstwahrnehmung gefangen und erleben den Photographen August Sander als einen Aufklärer, der uns von uns selbst einen Begriff macht, ohne überflüssige Emotionen zu bedienen. Sanders Fotos waren und sind so etwas wie eine neutrale Bestandsaufnahme der in Berufsstände gefassten deutschen Seele - oder besser: eine Erkundung mit "gleichschwebender Aufmerksamkeit", wie Sigmund Freud sein auf Sander passendes Arbeitsideal beschrieb.

Nie wäre es August Sander möglich gewesen, diese Fotos, die auf uns oft so entlarvend wirken, ohne die Zustimmung der Modelle zu machen: Ihr dürft euch, ihr sollt euch in Szene setzen, so lautete sein Konzept. Und so setzten sie sich in Szene: der Hauptmann, mit der Pickelhaube vor dem Winterwald. Der Komponist Hindemith, der vor einem steht, als ob er selbst der geballte Ludus tonalis wäre. Der Demokrat, der den Schirm hochhält, als imitiere er seinen Vater, der schon 1848 auf den Barrikaden kämpfte. Die Möglichkeit der Positur gehört zur Person und ist vielleicht genau das, was sie am deutlichsten in ihrer Zeit verankert. Das Sich-in-Positur-setzen stiftet die Gemeinsamkeit zwischen den porträtierten Subjekten. Allen Sander-Porträts sieht man daher an: das ist die Weimarer Zeit. Diese Bindung ist uns heute längst verloren gegangen, denn die meisten Künstler und Photographen haben intuitiv darauf reagiert, dass die ökonomisch-sozialen Einbindungen wegbrechen und unsicher geworden sind. Auf der letzten documenta 11 zum Beispiel gab es `Bewegtfotos ` der Engländerin Fiona Tan. Kurze 16 mm Filmaufnahmen Berliner Berufsstände, 3 bis 10 Sekunden lang. Bei diesen photographischen Filmaufnahmen gelingt es den Leuten längst nicht mehr, sich'in Szene'zu setzen. Und so wirken die Personen heute sehr viel fragiler als zu Sanders Zeit. Das hat zwei Gründe: Filmaufnahmen erschweren rein technisch den Weg in eine narzißtische Selbstpose. Wichtiger aber ist die Erfahrung, das die eigene Situation in der politisch-sozialen Raumzeit heute beständig wechselt, gewollt oder nicht. Diese Dynamik wird durch Sanders "Statik" geradezu spürbar und erklärt zum Teil die Faszination, die von den Sander-Porträts ausgeht und von der auch diese Ausstellung lebt.

Die Photographie, das haben wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, von Walter Benjamin gelernt, hat die Aura beseitigt. Wenn wir die Fotos von August Sander heute sehen, so nehmen wir sie jedoch vor allem als auratische wahr. Doch wir sehen vor allem die Aura der Zeit. Eine unheimliche Verschwisterung ist eingetreten: jeder Dargestellte ist Repräsentant, aber keiner verliert seine Individualität dadurch, dass er Repräsentant ist. Der unverwechselbare Repräsentant - das ist die Formel für diesen geschichtsphilosophischen Widerspruch, durch den uns plötzlich diese ferne Zeit unglaublich nah steht. Und indem sie uns so nahe steht, rückt sie zugleich in eine Ferne, die wir Geschichtsferne nennen müssen. Sanders Objekte repräsentieren zwar ihre Stände. Doch die Industriegesellschaft hat diese Stände vernichtet. Das, was sie als Wirklichkeit zu sein beanspruchen, ist eigentlich schon virtuell geworden. Und so wie es die Familie als Institution zu Freuds Zeiten schon nicht mehr gab und gerade deshalb noch einmal ganz und gar sichtbar werden konnte, so wird in den Repräsentationsformen der Sander-Porträts der aufgelöste Ständestaat auf das Podest gehoben. Die Figuren scheinen zu rufen: guckt mal, so war es, und wir möchten zurückrufen: bleibt doch! Die ganz und gar zeitgenössische Gesellschaft ist paradoxerweise das, was nicht mehr zeitgemäß ist. Sie ist sich allerdings noch nicht bewusst, dass das, was sie darstellt, auch für sie schon den Bach hinuntergegangen ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Es gibt im 20. Jahrhundert drei monumentale Werke, die die menschliche Gesellschaft der Großstadt oder des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Medien erfassen wollten: Das Passagenwerk Benjamins, der Bilderatlas Mnemosyne von Aby Warburg und August Sanders Menschen des 20. Jahrhunderts. Alle drei sind Zeitgenossen, alle haben Objektivitätsanspruch, und all diese Lebenswerke sind nicht vollendet, können gar nicht vollendet sein. Die Sanderschen Bilder sind insofern von besonderer Art, als sie alles mögliche nicht sind: Sie sind keine Ikonen, keine Idole, keine Fetische, keine Zertrümmerungsaktionen. Will man das Dokumentarische an ihnen bestimmen, müsste man sagen, sie sind Transporteure. Sie transportieren eine Zeit, die an sich vorbei ist, und plötzlich merken wir, dass wir uns mit ihr noch immer auseinandersetzen müssen. Hier ist ein Spiegel der deutschen Gesellschaft, die nicht nur widergespiegelt wird. Uns wird ein Spiegel vorgehalten, den wir noch heute betrachten können. Womöglich sehen wir uns durch die Ferne sogar etwas besser. Ich zumindest wünsche Ihnen eine, wie heute das ernsthafteste Modewort für vieles lautet, nachhaltige Erfahrung beim Betrachten der Bilder.

Vielen Dank!