Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 14.10.2003

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Michael-Otto-Stiftung am 14. Oktober 2003 in Hamburg
Anrede: sehr geehrter Herr Dr. Otto, liebe Familie! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/99/552599/multi.htm


Verehrte Frau Otto,

Es hat schon mit einem außergewöhnlichen bürgerschaftlichen Engagement zu tun, das Sie und Ihre Stiftung die ganze Zeit über so engagiert gezeigt haben. Bürgerschaftliches Engagement hat - das wird in der gegenwärtigen Auseinandersetzung immer klarer, wo die Ressourcen des Staates keineswegs unendlich sind - eine enorme Bedeutung für das Gemeinwohl und damit für die Entwicklung unserer Gesellschaft - und das eben nicht nur, weil der Staat nicht alles machen kann, was man sich von ihm aus unterschiedlichen Bereichen erhofft, und weil wir uns nicht mehr alles leisten können. Bürgerschaftliches Engagement ist vielmehr wichtig, weil viele Fragen des öffentlichen Lebens bei dem, was man Zivilgesellschaft nennt, besser aufgehoben sind als beim Staat.

Ihre Stiftung, sehr geehrter Herr Otto, hat für den Umweltschutz in Deutschland und auch über Deutschland hinaus wirklich Beachtliches geleistet. Ein Beispiel - Sie haben es genannt und ausgeführt - ist der Gewässerschutz, Schwerpunkt der Arbeit der Stiftung. Was wir in der unserer Gesellschaft brauchen, ist das Verständnis der Menschen dafür, dass Flüsse als Lebensader nicht nur für die Natur und ihre Entwicklung wichtig sind, sondern Grundlage für menschliches Leben sind. Wenn über Stiftungen wie Ihre das Bewusstsein dafür vermittelt wird, dann ist viel gewonnen.

Die Stiftung leistet gerade auf diesem Gebiet Wichtiges, und zwar nicht nur durch Projekte, sondern auch durch Information und Erklärung für Menschen, die sich nicht jeden Tag mit ökologischen oder politischen Fragen auseinander setzen können oder wollen. Ihnen zu vermitteln, dass ihr eigenes Leben und Überleben und erst recht das nachfolgender Generationen von den natürlichen Lebensgrundlagen abhängt, ist eine wichtige Aufgabe. Aus dieser Erkenntnis speist sich Ihr Engagement für die Erhaltung und die Renaturierung der Elbe, aber darüber hinaus auch für einen ökologisch verträglichen Hochwasserschutz an der Oder.

Seit den Hochwasserkatastrophen 1997 an der Oder und 2002 an der Elbe symbolisieren beide Flüsse für uns nicht nur herrliche Naturlandschaften, sondern sie symbolisieren auch die Gefahr von Zerstörung und von Tod. Allein das Elbe-Hochwasser im vergangenen Jahr hat nicht nur viele Menschen das Leben gekostet, sondern die unmittelbaren und die mittelbaren Schäden haben einen Betrag von mehr als 9 Milliarden Euro erreicht.

Mit gemeinschaftlicher Hilfe, mit Solidarität und Gemeinsinn haben wir es geschafft, die Katastrophe relativ schnell in den Griff zu bekommen. Die Tatkraft der Deutschen in Ost und West hat in diesen Tagen Großartiges geleistet, übrigens auch Großartiges, was Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und erst recht Zusammenhalt zwischen West und Ost angeht. Wir können es uns aber nicht leisten, einfach abzuwarten, bis in fünf oder zehn Jahren die nächste Flut Verheerungen anrichtet und wir dann versuchen müssen, durch schnelles Handeln Schäden zu vermeiden. Also müssen wir heute schon alles tun, um künftige Hochwasserschäden begrenzbar zu halten oder gar, soweit das möglich ist, ganz zu vermeiden. Das heißt ganz konkret: Wir müssen durch politische Entscheidungen dafür sorgen, dass unsere Flüsse mehr Raum bekommen.

Man muss sich klar machen: Heute muss die Elbe, der letzte frei fließende Fluss Europas, mit nur noch 15 Prozent ihres ursprünglichen Bettes auskommen. In Ländern und Gemeinden werden die Planer den Hochwasserschutz deshalb ernster zu nehmen haben, als das jemals zuvor der Fall gewesen ist. Die bessere Vorbeugung, auch auf europäischer Ebene, ist der Kern eines Fünf-Punkte-Programms, das die Bundesregierung noch während des Elbe-Hochwassers beschlossen hat. Wir werden künftig abzuwägen haben zwischen Hochwasserschutz einerseits und Stadtentwicklung und ökonomischen Fragen anderseits. Dabei ist auch die Binnenschifffahrt zu erwähnen, denn natürlich bieten die Flüsse auch Möglichkeiten, ökologisch verträglich Transporte vorzunehmen.

In den Flusslandschaften mit ihrer in Jahrhunderten gewachsenen Siedlungsstruktur kann und wird es keinen totalen Baustopp geben können. Aber wir werden ausschließen müssen - ich hoffe hier auch auf Vernunft anderer Beteiligter, also der Länder und der Gemeinden - , dass neue Baugebiete in die Überschwemmungsgebiete hinein entwickelt werden. Das zu beobachten, hier Monitoring zu betreiben und dann zu mahnen, ist sowohl Aufgabe der Umweltverbände als auch einer so sachkundig operierenden Stiftung wie der Ihren.

Weltweit beobachten wir eine Zunahme extremer Wetterereignisse. Klimawandel ist also keine skeptische Prognose mehr, sondern er ist Realität. Auch diese Herausforderung verlangt entschiedenes Handeln.

Unserer Überzeugung nach ist eine nachhaltige Energieversorgung ein Schlüssel, vielleicht sogar der wichtigste Schlüssel zum Klimaschutz. Nachhaltige Energieversorgung ist für uns eine Politik, die orientiert ist an: 1. Umweltverträglichkeit, 2. Versorgungssicherheit und 3. Wirtschaftlichkeit. Die Bundesregierung setzt dabei sowohl auf eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz als auch auf den Ausbau erneuerbarer Energien.

Deutschland liegt bei der Energieeffizienz an der Spitze der Industrieländer. Aber wir wollen noch besser werden. In der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir uns zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 die Energieproduktivität gegenüber 1990 zu verdoppeln. Wir wollen das durch höhere Wirkungsgrade bei Braun- und Steinkohlekraftwerke sowie durch Investitionen in eine saubere Kohletechnologie erreichen. Wir leisten damit also einen Beitrag für Innovation, für Wettbewerbsfähigkeit und auch für den Klimaschutz.

Ich muss gerade in einem solchen Zusammenhang auch sagen, dass wir in einem Energiemix, den wir brauchen, auf diese Technologien nicht werden verzichten können. Das Verlangen nach mehr Effizienz, auch nach mehr umweltgerechter Umwandlung von Primärenergieträgern ist gewiss richtig, aber wir müssen eben auch an Versorgungssicherheit und an Wirtschaftlichkeit denken.

Braun- und Steinkohlekraftwerke werden noch für viele Jahre das Rückgrat der Energieproduktion bilden, bei uns und in vielen anderen Ländern der Welt. Es muss uns also gelingen, die hohen Effizienzraten moderner Kohletechnologien für eine nachhaltige Energieversorgung nicht nur in Deutschland, sondern auch auf der ganzen Welt zu nutzen.

Es ist, meine Damen und Herren, das Ziel der Bundesregierung, den Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch bis 2010 im Vergleich zum Jahr 2000 auf 12,5 Prozent zu verdoppeln. Ich setze hier auch auf die Innovationsfreude der großen Energieversorger.

Schon heute wird ein Drittel der weltweit erzeugten Windenergie in Deutschland produziert. Wir schaffen damit im Übrigen auch einen Investitionsschub, der zu neuen Arbeitsplätzen führt. Rund 130 000 Menschen arbeiten in dem Bereich der erneuerbaren Energien, und sie sind insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen beschäftigt. Allerdings werden wir beim weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien sehr genau darauf achten, dass die Förderung effizienter gestaltet wird. Nur dann bleibt der Anreiz für Innovationen erhalten, und nur dann bleiben auch Strompreise für Privathaushalte und Wirtschaft wettbewerbsfähig, also bezahlbar. Wir brauchen für die weitere Förderung erneuerbarer Energieträger gesellschaftliche Akzeptanz, und die ist nur vorhanden, wenn wir deutlich machen können, dass Ökologie und Ökonomie auch in diesem Feld nicht gegeneinander stehen.

In diesem Sinne werden wir beim Ausbau der Windenergie in Zukunft die Akzente anders setzen müssen. Die Zahl der geeigneten Standorte an Land ist begrenzt. Die Zukunft der Windenergie liegt nach unserer Einschätzung auf dem Wasser, und dieses Potenzial muss und wird verstärkt genutzt werden. Bis 2010 wollen wir die so genannten Offshore-Windparks mit einer Leistung von 3 000 Megawatt errichten. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, das hohe Investitionen und technologische Spitzenleistungen erfordert und das ebenso die Lösung von Interessenkonflikten erfordert. Windparks auf offener See dürfen weder die empfindlichen Ökosysteme Nord- und Ostsee beeinträchtigen, noch dürfen sie auf der anderen Seite die Schifffahrt gefährden. Wir haben daher am Ende der letzten Legislaturperiode die gesetzlichen Grundlagen für einen vernünftigen Interessenausgleich gelegt.

Meine Damen und Herren, keine Frage: Wir wollen Deutschlands Spitzenstellung im Umwelt- und im Klimaschutz nicht nur behaupten, sondern wir wollen sie durchaus weiter ausbauen. Aber wir müssen aufpassen, dass wir als Vorreiter nicht irgendwann alleine unterwegs sind. Niemandem ist damit gedient - übrigens zu allerletzt dem Klimaschutz- , wenn nur Deutschland im nationalen Maßstab seine Ziele erreicht und wenn wir uns dabei zwar Wettbewerbsvorteile durch technologischen Fortschritt erarbeiten, aber im Gegenzug Märkte verlieren. Das bedeutet zum einen, dass auch die anderen Industriestaaten sich im Klimaschutz zu vergleichbar anspruchsvollen Zielsetzungen verpflichten müssen.

Das ist übrigens ein Grund, warum es so wichtig ist, dass das Klimaschutzprotokoll von Kyoto in Kraft treten kann. Das bedeutet zum anderen aber auch, dass wir das Fundament unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht gefährden dürfen, und das ist und bleibt nun einmal die industrielle Produktion.

Deshalb sieht sich die Bundesregierung weiter in der Verpflichtung, Industrie- und Umweltpolitik miteinander vernünftig in Einklang zu bringen. Um ein Beispiel zu nennen, das auch Auswirkungen auf die Arbeit der Stiftung hat: Auch bei der europäischen Chemiepolitik wird es den einen oder anderen Konflikt mit engagierten Verbänden geben. Auf diesem Gebiet verbinden wir ein hohes Niveau für den Schutz von Gesundheit und Umwelt mit Vorschlägen für eine solche kostengünstige als auch unbürokratische Verfahrensweise.

Meine Damen und Herren, demographischer Wandel sowie die fortschreitende Globalisierung zwingen zu tief greifenden Veränderungen, und zwar in einer guten Balance von wirtschaftlicher Dynamik auf der einen und sozialer wie ökologischer Verträglichkeit auf der anderen Seite. Ich glaube, dass unser Land hervorragende Potenziale hat, um den wirtschaftlichen, den sozialen und den ebenso notwendigen ökologischen Strukturwandel offensiv und sehr selbstbewusst anzugehen und zu gestalten. Innovative Unternehmen, ein hoher Stand von Forschung und Entwicklung, aber eben auch Engagement von Stiftungen wie dieser, also mitten aus der Zivilgesellschaft heraus, bringen das in Gang.

Nachhaltigkeit kann nicht alleine Sache der Bundesregierung, der Politik insgesamt sein. Alle gesellschaftlichen Gruppen, jeder Einzelne ist gefordert, seinen Beitrag zu leisten. Das ist einer der Gründe, warum es so wichtig ist, dass mit Mitteln der Stiftung eine Stiftungsprofessur errichtet worden ist. Nachhaltige Umweltentwicklung ist sicherlich ein hochinteressantes Forschungsgebiet und ist auch geeignet, als Rat für unsere Arbeit zur Verfügung zu stehen.

Diese Stiftung hat in den zehn Jahren, in denen sie besteht, nicht nur wichtige Sacharbeit geleistet, sondern auch Beispiele gegeben, sich zu engagieren. Das können wir in unserem Land gut gebrauchen. Genau das ist der Grund, warum ich der Stiftung, warum ich der Familie Otto zu diesem Jubiläum herzlich gratuliere.