Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 15.10.2003

Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/30/542330/multi.htm


Ich habe gespürt: Die Freude, von der das Präsidium gesprochen hat, ist durchaus begrenzt. Ich bin auch nicht hier, um Beifall zu erbitten, sondern ich bin hier, um die Politik, die ich für notwendig halte, für unser Land zu erklären und vielleicht zu erreichen, dass es eine faire Auseinandersetzung über die Bedingungen und über den Inhalt dieser Politik gibt. Das jedenfalls ist die Absicht, mit der ich bekommen bin.

Ich will zu drei Punkten etwas sagen.

Erstens: Wie ist die Situation in unserem Land und darüber hinaus?

Zweitens: Was haben wir getan, um unser Land international und europäisch neu zu positionieren?

Drittens: Was ist erforderlich, um die notwendigen Reformen in Deutschland so zu bewerkstelligen, dass ökonomische Prosperität auf der einen Seite und soziale Gerechtigkeit auf der anderen Seite zusammenkommen?

Wir sollten uns zunächst zwischen SPD und Gewerkschaften darauf verständigen, was diese Gesellschaft gegenwärtig beschäftigt und beschäftigen muss. Wie ist also die Situation in unserem Land?

Ich will drei Probleme nennen, die uns, die mich bedrücken.

Erstens. Wir sind im dritten Jahr einer stagnativen Phase unserer Wirtschaft in Deutschland - und keineswegs nur in Deutschland, sondern in Europa und über Europa hinaus. Das heißt, jene Wachstumsraten, die wir vorausgesetzt haben und die wir in den 90er Jahren einmal hatten, um umfassende Sozialstaatlichkeit und um Erwartungen an den Staat erfüllen zu können, sind in diesem Maße nicht mehr gegeben.

Zweitens. Wir befinden uns in einer Situation, in der wir radikale Veränderungen im Aufbau der Alterspyramide unserer Gesellschaft erleben. Wir sind heute in einer Situation, in der - nur als Beispiel gesagt - die Bezugsdauer von Renten, verglichen mit 1960, um über 70 Prozent angestiegen ist. Dass dies - wie auch mangelnde Wachstumsraten in unserer Wirtschaft - Druck auf die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme ausübt, kann nicht bestritten werden. Die Frage, die sich stellt, ist also folgende: Was ist angesichts einer solchen Situation zu tun? Wie schaffen wir es, auf der einen Seite eine in sich gerechte Gesellschaft zu erhalten und auf der anderen Seite Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um die Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft erfüllen zu können? Dies ist die zentrale Frage, die wir beantworten müssen.

Jeder - ob Gewerkschafter oder politisch Handelnder - , der glaubt, es könne nur eine in sich geschlossene nationale Strategie zur Lösung dieser Probleme geben, unterliegt einem verhängnisvollen Irrtum. Es gibt keine Lösung im nationalen Maßstab mehr. Ich werde darauf noch zurückkommen, wenn ich erläutere, was auch in Bezug auf die Vorhaben, die euch in besonderer Weise interessieren, gegenwärtig europäisch diskutiert wird und zum Teil entschieden worden ist.

Angesichts der Zusammenhänge zwischen der internationalen Politik und Deutschlands Rolle in der internationalen Politik liegt mir daran, auch deutlich zu machen, wo wir - das scheint vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte fast vergessen zu sein - Gemeinsamkeiten hatten. Es sind Gemeinsamkeiten, die ein Maß an politischen Anstrengungen brauchten, das man nicht unterschätzen sollte.

Wir haben eine schwierige Phase der Neupositionierung unseres Landes in der internationalen Politik hinter uns. Seit der Regierungsübernahme 1998 standen wir vor der Aufgabe, Deutschlands Rolle in der internationalen Politik neu zu bestimmen. Wir haben das getan. In diesem Zusammenhang bitte ich, daran erinnern zu dürfen, wie die Lage davor war. Deutschland hat sich seiner internationalen Rolle und den Erwartungen der Partner an sein Engagement mit dem Hinweis verweigert, Deutschland sei ein geteiltes Land, und als Folge dessen hätte es zwar als Bündnispartner Rechte, aber gleichberechtigte Pflichten seien der historischen Situation wegen nicht im gleichen Maße zu erfüllen. Dass das seit der Wiedererlangung der vollen Souveränität Deutschlands nicht fortgesetzt werden konnte, lag auf der Hand. Wir haben in den ersten fünf Jahren unserer Regierungszeit dafür zu sorgen gehabt, dass Deutschland als ein Land im westlichen Bündnis nicht nur Bündnisrechte - also Schutzrechte - für sich in Anspruch nimmt, wie wir es seit der Existenz der NATO und seit der Existenz der EU getan haben, sondern auch gleichberechtigte Pflichten in diesem Bündnis zur Kenntnis nimmt und sie realisiert.

Das war eine Phase auch der kritischen Auseinandersetzung - Jürgen Peters, du wirst das noch wissen, ebenso, wie Klaus Zwickel es weiß - über die Frage: Ist es gerechtfertigt, dass Deutschland sich innerhalb Europas etwa im Kosovo militärisch engagiert oder nicht? Harte Auseinandersetzungen, bei denen nicht wenige in unserer eigenen Partei, aber auch in den Gewerkschaften, zumal in der IG Metall, sagten: "Das entspricht nicht den Traditionen, die wir für richtig halten". Ich bestreite gar nicht, dass das Traditionen waren, die wir für richtig gehalten haben. Sie konnten aber nicht aufrechterhalten werden, weil uns niemand - erst recht nicht in Europa - erlaubt, als Partner Rechte für uns zu reklamieren, ohne Pflichten zu übernehmen.

Wir haben das geändert und zwar unter erheblichen Debatten in den Gewerkschaften und in der SPD. Wir haben es verändert, weil wir es den neuen Realitäten wegen verändern mussten. Realitäten, auf die man sich einstellen muss, wenn man den Anspruch nicht nur erheben, sondern auch realisieren will, ein Land von der Größe und Bedeutung Deutschlands regieren zu wollen. Es war keine leichte Debatte, die wir aber inzwischen ausgestanden haben.

Wir haben dann miteinander gestritten und gekämpft über die Frage - erinnert euch noch - , ob Deutschland im Rahmen der Vereinten Nationen und im Rahmen einer internationalen Schutztruppe in Afghanistan militärisch tätig sein darf oder nicht. Das waren harte Auseinandersetzungen. Viele von denen, die ich kenne, auch aus der IG Metall, auch aus anderen Gewerkschaften und aus der eigenen Partei, haben seinerzeit gesagt: "Das geht nicht. Das widerspricht den Friedenstraditionen unserer Bewegung." Aber das war keine haltbare Position. Deswegen haben wir sie verändert.

Mir kommt es darauf an, dass wir uns mit der Bereitschaft, die richtigen Konsequenzen aus der staatlichen Souveränität zu ziehen, nicht nur das Recht, sondern auch die Möglichkeit erworben haben, zu differenzieren. Weil wir uns auf die neuen Realitäten in der Welt einlassen, weil wir diejenigen sind, die sich am Kampf gegen den internationalen Terrorismus beteiligen, haben wir auch das Recht, dann nein zu sagen, wenn wir von einer Maßnahme - auch einer militärischen Maßnahme - nicht überzeugt sind. Diese Situation ist eingetreten, als es um die Frage ging, wie Deutschland sich im Konflikt im Irak verhalten soll. Viele von euch haben damals gesagt: "Das habt ihr ordentlich gemacht." Das war auch so.

Diese Position stand in Übereinstimmung mit dem, was ihr für richtig hieltet und haltet und hatte sozusagen seine Entsprechung in der anderen Position. Man kann keine Rosinenpickerei in der internationalen Politik betreiben, sondern man muss sowohl die Pflicht zur Bündnistreue, die Pflicht zum Verhalten, wie wir es im Kampf gegen den internationalen Terrorismus getan haben, als auch das Recht, in anderen Fragen zu differenzieren, sehen.

Wir sind davon überzeugt, dass Deutschland seine Rolle in der Welt nicht alleine finden kann, nicht finden darf, sondern dass Deutschland Teil eines zusammenwachsenden Europas bleiben und noch mehr sein muss. Wer nun aber glaubte, das sei bereits geleistet, der irrt. Wir haben die riesige Chance - und ich kenne auch die Schwierigkeiten, die damit für die Menschen in den Betrieben verbunden sind, die verstärkter Konkurrenz ausgesetzt sein werden - , zum ersten Mal in der Geschichte ein einiges Europa zu schaffen, das auf Dauer ein Ort von Frieden und von Wohlergehen seiner Menschen wird. Bei allen Debatten, die wir über die Frage der Freizügigkeit, über die Frage, wie wir in diesem Europa Arbeitnehmerrechte sichern, führen - diese Debatten sind notwendig - , dürfen wir niemals aus den Augen verlieren, dass diese Generation, unsere Generation, diese historische Chance hat. Ich sage: "die Chance". Damit ist nie die Gewissheit verbunden; denn eines gilt auch: Wer etwa glaubte, das, was erreicht worden ist, sei angesichts der dramatischen Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft auf Dauer gesichert und man könne es einfach nur festschreiben, der irrt gründlich.

Es geht darum, ein Europa zu schaffen, das nicht nur aus Westeuropa besteht, zu dem dann Südeuropa und schließlich auch der Norden hinzukam. Nein, es geht darum ein Europa zu schaffen, zu dem auch der Osten und auch der Südosten unseres Kontinentes gehört. Die Beschlüsse dafür sind gefasst. Politisch haben wir diese Aufgabe also gemeistert. Wirtschaftlich und sozial muss sie aber noch gemeistert werden. Auch hier gilt: Wer glaubt, die Rechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die es in Deutschland gibt, seien in diesem größeren Europa bereits durch die Tatsache, dass es sie in Deutschland gibt, erreicht und festgeschrieben, der irrt.

Der Kampf, den wir zusammen führen müssen, wird nicht nur der Kampf um ein einiges Europa mit einer Verfassung sein müssen, sondern es wird ein Kampf um die Frage sein müssen, welchen politischen Inhalt dieses Europa haben soll. Wenn wir uns nicht im wahrsten Sinne des Wortes zusammennehmen und - soweit das bei aller notwendigen Kritik geht - zusammenbleiben, werden wir den Kampf um die soziale Qualität Europas nicht gewinnen können. Auch darüber bitte ich nachzudenken, wenn man die Debatten allzu sehr aus dem nationalen Gesichtspunkt heraus führt.

Ich will in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel nennen, von dem ich hoffe, dass sich der neu gewählte Vorstand damit beschäftigen wird. Vor etwa anderthalb Wochen hat der Europäische Gerichtshof eine Entscheidung getroffen, die bisher überhaupt noch nicht eingeschätzte Auswirkungen auch und gerade auf eure Themenfelder haben wird. Er hat an einem, oberflächlich betrachtet, belanglosen Detail Folgendes entschieden: Die Gründung eines Unternehmens, einer Gesellschaft, die sich in einem Land der Europäischen Union vollzieht - das Beispiel war England - , und zwar nach dem Gesellschaftsrecht dieses Landes, muss verpflichtend in jedem europäischen Land nach dem gleichen Gesellschaftsrecht des Gründungslandes möglich sein. Was so kompliziert klingt heißt: Wir haben zum Beispiel in vielen europäischen Ländern keine überbetriebliche Mitbestimmung. Wenn das, was, bezogen auf andere gesellschaftsrechtliche Fragen, vom Europäischen Gerichtshof für ganz Europa verbindlich entschieden worden ist, auch auf die Frage der Rechte der Betriebsräte und vor allem auf die Rechte der überbetrieblichen Mitbestimmung ausgedehnt wird - noch ist es nicht ganz so weit, aber die Richtung dorthin ist klar - , dann bedeutet das, dass Gesellschaften, die ohne Mitbestimmung in einem anderen Land gegründet worden sind, nach den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auch ohne Mitbestimmung in Deutschland tätig werden können.

Ich bin davon überzeugt, dass die überbetriebliche Mitbestimmung nicht etwas ist, was die Wirtschaft in diesem Lande behindert hat, sondern dass sie etwas ist, was ein Stück ihrer Stärke, ihrer Kraft, ihrer Wandlungsfähigkeit ausmacht. Das bedeutet, dass wir uns darüber unterhalten müssen - meinethalben in ruhigeren Zeiten - , wie man miteinander dies sichert. Wer glaubte, das sei noch weit hin, der irrt auch in diesem Punkt sehr. Und wer glaubte, dass die Bündnispartner für eine die Mitbestimmung verteidigende Politik in anderen europäischen Regierungen oder in anderen Regierungskonstellationen in Deutschland säßen, der sollte die von euch kritisierte Agenda 2010 mit der offiziellen Politik der Union und den Entwürfen von Herrn Herzog und anderen vergleichen.

Wenn wir die Auseinandersetzung um den sozialen Ort Europa gewinnen wollen, dann lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob das nicht Felder sind, wo wir die Pflicht haben - auch bezogen auf diejenigen in den Betrieben und Verwaltungen - , bei allem notwendigen Streit über die Einzelheiten, zusammenzuarbeiten. Denn zu einem sozialen Europa braucht man bestimmte Regierungen ebenso wie starke Gewerkschaften.

Ich komme jetzt zu dem, was Gegenstand unserer Auseinandersetzung ist. Dabei werde ich mich auf das beziehen, was ich einleitend gesagt habe: Welches sind die Probleme, vor denen wir stehen? Ich habe es gesagt: Wachstumsraten, die, anders als in früheren Zeiten, es nicht mehr ermöglichen, die Probleme, die wir bei der Sozialstaatlichkeit haben, einfach über Wachstum zu lösen. Ich habe es gesagt: Wir haben in unserer Gesellschaft eine Altersstruktur, die zusätzlich Druck auf die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme ausübt, und zwar auf die Finanzierbarkeit aller sozialen Sicherungssysteme. Das Dritte - das muss man genauso klar sagen - ist, dass die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland bekanntlich durch Beiträge geleistet wird. Diese Beiträge werden aufgebracht einerseits von den Unternehmen, die verschärftem Wettbewerb auf den Märkten ausgesetzt sind, aber andererseits auch von den aktiv Beschäftigten. Die aktiv Beschäftigten wollen aber auch nicht, dass das, was sie vom brutto netto überhaben, geschmälert wird, nicht zuletzt durch wachsende Lohnnebenkosten, die nicht nur die Unternehmen zahlen, sondern zu denen auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Beitrag leisten müssen.

Ich sage also: Zu glauben, dass die Tatsache, dass wir in den letzten Jahren ein ständiges Ansteigen der Beiträge für die Rente, für die Krankenversicherung, für die Pflege hatten, nicht ein Problem der aktiv Beschäftigen auch in den Metallbetrieben sei, ist falsch. Es rächt sich, wenn man weiter dieser Meinung sein wird.

Aus diesen drei Gründen war Handeln nötig - und bleibt nötig. Der Streit, den wir miteinander haben, kann doch nur um die Frage gehen, ob das, was wir tun, vertretbar, weil gerecht ist oder nicht. Das ist die entscheidende Frage.

Wir sind zum Beispiel der Auffassung, dass es richtig ist, dafür zu sorgen, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt werden. Wir halten es auch für richtig, dass dafür gesorgt wird, dass diejenigen, die Kinder haben, bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe besser abschneiden, als es bisher der Fall war. Ich möchte gerne wissen, und zwar sehr konkret, was ein Gewerkschaftstag wie dieser dagegen hat. Ich möchte gerne wissen, wer als Gewerkschafter etwas dagegen hat, dass jeder unter 25 Jahren ein Angebot auf Ausbildung, auf Weiterbildung oder Arbeit, das er auch anzunehmen hat, bekommt. Und wenn er das nicht tut, dann hat er mit Sanktionen zu rechnen. Solidarität, die wir für richtig halten, heißt doch nicht, dass man vom Staat gleichsam das bekommt, was man will, sondern Solidarität heißt, dass man das, was vernünftigerweise zumutbar ist, für sich und für seine Familie tut, und erst, wenn das nicht geht, hat man Anspruch auf die Hilfe der Gesellschaft, für die der Staat handelt. Es ist nicht unsolidarisch, so zu verfahren, sondern das ist vernünftig und im Interesse der Beschäftigten in den Betrieben und in den Verwaltungen. Wir werden das durchsetzen. Es ist notwendig. Also wird es gemacht werden, weil wir es tun müssen.

Wer hat eigentlich etwas dagegen, wenn wir die Bundesanstalt für Arbeit so umbauen - das ist in vollem Gange und mit mehr Erfolg, als die Berichterstattung gelegentlich zeigt - , dass im Mittelpunkt die Vermittlung in vorhandene Arbeit steht?

Ich weiß sehr wohl, dass ihr Probleme mit den Reformen in der Gesundheitspolitik hattet. Wir konnten jedoch nicht zusehen wie die Leistungsanbieter auf der einen Seite, aber auch diejenigen, die die Leistungen bekommen, die solidarischen Systeme nicht so genutzt haben, wie sie konzipiert worden sind. Wir haben eine Mentalität in unserem Land zugelassen, die da hieß, dass man das Recht habe, das, was man in die sozialen Sicherungssysteme eingezahlt hat, auch wieder herauszubekommen. Aber das ist nicht das Prinzip, nach dem diese Systeme aufgebaut worden sind. Das Prinzip, nach dem diese Systeme aufgebaut worden sind, heißt, dass jeder sparsam mit dem umgeht was solidarisch von den Systemen angeboten wird. Wo dieses Prinzip verletzt wird, kommt es notwendigerweise zu Fehlentwicklungen, die abgestellt werden müssen.

Natürlich ist es so, dass bis 1998 alles liegengeblieben ist, weil man gehofft hat, im Einigungsboom das über Wachstum zudecken zu können. Aber das war falsch, und das rächt sich jetzt. Und wer glaubt, mit wunderbaren Stichworten wie etwa Bürgerversicherung, über die man ja diskutieren kann, die Notwendigkeit der Begrenzung von Ausgaben aus dem Weg gehen zu können, der irrt gleichermaßen. Das wird nicht funktionieren. So viele Beitragszahler, wie man bräuchte, um über Ausgabensteigerung hinwegsehen zu können, gibt es gar nicht in dieser Gesellschaft. Das ist das Problem, das wir endlich beim Namen nennen müssen, für das wir Lösungen brauchten und für das wir Lösungen gefunden haben. Ich weiß, dass das Belastungen mit sich gebracht hat. Aber ich weiß auch, dass angesichts der ständig steigenden Defizite in den Systemen und der damit verbundenen Gefahr, die Beitragsentwicklung uferlos werden zu lassen, keine andere Wahl bestand.

Ich komme zur Alterssicherung. Wir haben in der letzten Legislaturperiode angesichts des veränderten Altersaufbaus neben der Umlagefinanzierung der Rente gleichsam die Säule der Kapitaldeckung aufgebaut. Aber wir haben die Entwicklung des Altersaufbaus in unserer Gesellschaft, also die Rentenbezugsdauer, unterschätzt und die Wachstumsraten überschätzt. Das ist der Grund, warum wir hier nachjustieren müssen. Kern dessen, was wir tun müssen und tun werden, ist - da hoffe ich auf Mittun aus den Betrieben - , dass wir das reale Renteneintrittsalter näher an das nominale Renteneintrittsalter bringen. Das ist die eigentliche Aufgabe, die wir haben, und das kann nur gelingen in einer Gemeinschaftsarbeit von Politik einerseits und Wirtschaft - und das sind immer auch die Gewerkschaften - andererseits.

Daneben wird es in diesem Bereich auch eine Reihe von Einschnitten geben und geben müssen, weil die Gleichung nicht aufgeht, dass in einer alternden Gesellschaft bei einer stagnierenden Volkswirtschaft soziale Sicherungssysteme einfach nur wachsen könnten. Das kann niemand bewerkstelligen, kein Politiker und auch kein Gewerkschafter. Deswegen ist es unsere Aufgabe, dass wir auch in diesen Bereichen - wir werden das in der nächsten Woche zu tun haben - die notwendigen Schritte machen, um auch hier das Verhältnis zwischen denen, die als aktiv Beschäftigte für die Finanzierung sorgen, und denen, die die Finanzierung bekommen, neu zu justieren. Dies ist keine leichte Aufgabe - ich weiß das wohl - , aber ebenso eine notwendige.

Ich will noch etwas zu dem sagen, was uns in besonderer Weise beschäftigt, nämlich zur Frage von Ausbildung und auch zur Frage der Tarifautonomie. Ich bin ja nicht hier, um diesen Fragen auszuweichen.

Zur Ausbildung: In allen Reden, die gehalten werden, ob von Gewerkschaften, von Politik oder von Unternehmen, wird gesagt: "Wir haben ein duales Ausbildungssystem, das hoch leistungsfähig und beispielhaft in der Welt ist." Das stimmt auch. Aber duales Ausbildungssystem heißt schlicht: praktische Ausbildung in den Betrieben, theoretische Ausbildung in den Berufsschulen und in den überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Das Verhältnis zwischen der Inanspruchnahme des Staates und der Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen hat sich dramatisch und zwar zulasten des Staates verschoben. Diese Entwicklung muss aufgehalten werden. Die Verstaatlichung der Berufsausbildung ist hierbei kein geeignetes Mittel, um ein Mehr an Ausbildungsplätzen zu schaffen. Der Staat und die gesellschaftlichen Institutionen wären überhaupt nicht in der Lage, zu vertretbaren Kosten in vertretbarer Zeit Ausbildungsbetriebe zu ersetzen. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass die Betriebe - das ist eine gemeinsame Aufgabe - ihrer Ausbildungspflicht auch nachkommen. Wir haben deutlich gemacht, dass wir uns, wenn das nicht passiert, geeignete gesetzliche Möglichkeiten überlegen müssen, Möglichkeiten indes, die - und das ist auch eine Forderung aus den Gewerkschaften heraus - tarifvertragliche Regelungen respektieren und unterstützen. Es geht also um Möglichkeiten, die sich nicht einfach in der Forderung nach dieser oder jener Abgabe erschöpfen, weil man dann das Problem gelöst zu haben glaubt, sondern die klar machen müssen: Es ist Aufgabe der Wirtschaft auszubilden. Wir können das in erster Linie nur auf der Basis von Freiwilligkeit erreichen, aber wenn das nicht zureicht, müssen wir geeignete Maßnahmen ergreifen - auch gesetzliche Maßnahmen - , die dieses Ziel sicherstellen.

Ich will eine Bemerkung zu dem machen, was hier auf dem Kongress wiederholt und intensiv diskutiert worden ist, nämlich zur Frage der Tarifautonomie. Worum geht es dabei? Wer sich die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland anschaut, der wird feststellen, dass das freie Aushandeln der Tarifbedingungen, also die Tatsache, dass wir das nicht staatlich regeln, sondern dass das auf der Basis freier Gewerkschaften auf der einen Seite und der Arbeitgeberverbände auf der anderen Seite geschieht, zum Erfolg der Bundesrepublik und zu ihrer wirtschaftlichen Kraft beigetragen hat. Natürlich weiß jeder von uns, dass die Frage, wie man in Zukunft das Verhältnis zwischen zentraler Verhandlungsmacht und betrieblichen Möglichkeiten justiert, die eigentlich spannende in der Diskussion ist. Das wird innerhalb der deutschen Gewerkschaftsbewegung ja sehr unterschiedlich diskutiert. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die diese Frage der Balance zwischen zentraler Verhandlungsmacht und betrieblichen Möglichkeiten gelöst haben oder fast gelöst haben. Es gibt andere, bei denen das nicht der Fall ist. Ich will zu diesem Punkt nur sehr deutlich sagen: Ich finde, dass es gut war, dass das Sache der Tarifparteien ist und dass die Tarifparteien in der Verantwortung sind, und zwar in alleiniger Verantwortung, das, was an neuen Problemen aufgetaucht ist, das, was an neuer Balance zwischen betrieblicher und zentraler Verhandlungsmacht geregelt werden muss und in der Praxis ja längst geregelt wird, zu regeln. Es ist Verantwortung der Tarifparteien und soll es bleiben, das in eigener Autonomie zu regeln. Dafür bin ich jedenfalls.

Ich will in diesem Zusammenhang nur Folgendes sagen. Ich habe in der letzten Zeit viel darüber gelesen, wer denn in diesen Auseinandersetzungen über Agenda 2010 oder über die Tarifautonomie - weil ja die rot-grüne Regierung angeblich vom Pfad der Tugend abgewichen sei - der neue Bündnispartner sein könnte. Ich habe viele Presseerklärungen und auch viele Interviews darüber gelesen, wie die Hinwendung der IG Metall, aber auch anderer Gewerkschaften zu der jetzigen Opposition ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung gerückt ist. Ich wünsche da viel Glück, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich rate dringend dazu, bevor man eine solche Orientierung vornimmt, sich genau anzuschauen, was in diesem Lager nicht nur formuliert worden ist, sondern was über die Jahre und Jahrzehnte hinweg auch Politik gewesen ist. Deswegen glaube ich schon, dass wir gerade in dieser Frage miteinander dafür streiten sollten, dass es die Tarifparteien selber sind, die in überschaubarem Zeitraum diese neue Balance zwischen zentraler Verhandlungsmacht, die nicht zerstört werden darf, und betrieblichen Möglichkeiten selber neu bestimmen. Das jedenfalls ist die Position, die ich für richtig halte und für die ich in dieser Gesellschaft werben und streiten werde.

Ich bin zu euch gekommen, um deutlich zu machen, dass wir Veränderungen in unserer Gesellschaft brauchen. Ich will abschließend noch erläutern, wofür diese Veränderungen eigentlich brauchen. Warum können wir nicht alles so lassen, wie es ist? Warum können wir nicht den bequemen Weg gehen - er ist ja lange genug gegangen worden - und sagen: Am wenigsten Konflikte und die beste Chance, wiedergewählt zu werden, hat man, wenn man nichts tut. Ich glaube, damit kommt man in dieser Gesellschaft nicht mehr aus. In unserer Gesellschaft gibt es unendlich viel Kraft, unendlich viel Kreativität, unendlich viele Möglichkeiten. Wir gehören immer noch zur Spitze der Welt. Aber der Abstand zwischen uns und denen, die in Asien, die in Südamerika, die in Amerika und die auch in Europa früher hinter uns lagen, ist, wenn dieser Abstand denn überhaupt noch besteht, kleiner geworden. Dieses Problem wird sich mit der Einheit Europas noch verschärfen. Deswegen müssen wir das, was wir an Sozialstaatlichkeit haben, veränderten Bedingungen anpassen, um es finanzierbar und damit realisierbar zu halten. Wir müssen das tun, weil wir staatliche und gesellschaftliche Ressourcen, kurzum: Geld brauchen, um in drei Bereiche zu investieren.

Der erste Bereich: Wir müssen in Forschung und Entwicklung investieren. Es hat noch keine Regierung gegeben, die unter extremen Sparzwängen - und unter denen stehen wir wirklich - so massiv den Haushalt für Forschung und Entwicklung aufgestockt hat. Das ist Zukunftssicherung für unsere Gesellschaft und für die nach uns kommenden Generationen.

Das Zweite, wofür wir Ressourcen brauchen und wofür wir sie mobilisieren werden, ist, dass Betreuung von Kindern in dieser Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit wird. Es wird keine wirkliche Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern geben, wenn man nicht dafür sorgen kann und sorgen will, dass jene Frauen - gut ausgebildet und sowohl fähig als auch bereit, am Erwerbsleben teilzunehmen - das auch können, ohne das ungute Gefühl zu haben, ihre Kinder zu vernachlässigen. Das ist der Grund, warum wir allein in dieser Legislaturperiode, obwohl nicht zuständig, vier Milliarden Euro in die Hand nehmen werden, um diesem Übel in dieser Gesellschaft abzuhelfen.

Das Dritte, was wir tun müssen: Wenn man sich das zerstückelte Bildungswesen in Deutschland ansieht, dann habe ich nicht die Absicht - weil ich wüsste, dass das schwer durchzusetzen wäre - Föderalismus und die damit verbundene Aufteilung von Kompetenzen zu ändern. Aber eines müssen wir schaffen: Die Zerstückelung, was die Schulabschlüsse angeht und die Unterschiede, die es dabei gibt, müssen wir durch eine nationale Kraftanstrengung beseitigen. Wir können mit einem solchen Bildungssystem auf Dauer nicht in einer Gesellschaft überleben, die ja Gerechtigkeit auf einem möglichst hohen Niveau realisieren soll.

Für diese drei Aufgaben - neben den internationalen Verpflichtungen, die wir haben - brauchen wir Ressourcen, und diese Ressourcen sind und bleiben knapp, weil wir natürlich ein allgemeines Bewusstsein dafür haben, und zwar in allen gesellschaftlichen Schichten, dass der Staat möglichst viel leisten muss, aber kein zureichendes Bewusstsein dafür, dass er es auch können muss. Deswegen werden wir eine Phase knapper Ressourcen nicht nur gegenwärtig erleben, sondern behalten. Deswegen werden wir angesichts knapper Ressourcen die sozialen Sicherungssysteme neu justieren müssen, um Möglichkeiten für die Zukunftsaufgaben freizubekommen. Das ist letztlich das, was hinter der Agenda 2010 steht. Ich habe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, nicht den Mut, euch um Unterstützung zu bitten, weil ich wüsste, dass ihr das nicht wollt. Aber was ich habe, ist die Bitte um Nachdenklichkeit.