Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 21.10.2003

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des Tages des industriellen Mittelstandes des Bundesverbandes der Deutschen Industrie am 21. Oktober 2003 in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Dr. Rogowski, sehr geehrter Herr Kirchhoff, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/07/545107/multi.htm


Wir haben - Präsident Rogowski hat darauf hingewiesen - in den vergangenen Tagen zentrale Vorhaben auf den Weg gebracht, die unter dem Begriff "Agenda 2010" bekannt geworden sind. Im Deutschen Bundestag sind die Gesetze zur Neuregelung des Arbeitsmarktes, die Veränderungen bei den Gemeindefinanzen sowie das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerentlastung auf Anfang des nächsten Jahres beschlossen worden. Im Kabinett haben wir die Strategien beraten, um kurz- , mittel- und langfristig die Rentenfinanzierung zu sichern, also sicherzustellen, dass die Altersversorgung auf Dauer bezahlt werden kann und die Beiträge für die Aktiven bezahlbar bleiben.

All diese Maßnahmen - darüber gibt es keinen Zweifel bedeuten für die eine oder andere Seite Einschnitte oder zusätzliche Lasten. Aber mir liegt daran, dass deutlich wird, dass diese Lasten unter dem Strich gerecht verteilt werden.

Sämtliche Reformen haben drei gemeinsame Ziele: Erstens müssen wir - über die einzelnen Maßnahmen werden wir reden - die Steuer- und vor allem die Abgabenlast insgesamt senken.

Zweitens müssen und werden wir den Sozialstaat in seiner Substanz erhalten, aber das heißt zugleich, ihn so zu modernisieren, wie das den veränderten Verhältnissen an der wirtschaftlichen Basis unserer Gesellschaft angesichts der Globalisierung und der Demografie entspricht. Gerade für die sozialen Sicherungssysteme gilt: Wer gegenwärtig meint, nichts tun zu müssen, der wird mittelfristig den Zusammenbruch dieser Systeme erleben, weil sie unfinanzierbar werden. Wenn wir die Maßnahmen nicht ergriffen hätten, dann würden wir dazu beitragen, dass Sozialstaatlichkeit in seiner Substanz und damit auch Gerechtigkeit in Deutschland entscheidend getroffen werden.

Drittens müssen wir die Bedingungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt so gestalten, dass Wachstum wieder möglich wird - und zwar in größerem Ausmaß, als wir es in den letzten drei Jahren hatten.

Alles dient einem zentralen Ziel: Wir müssen bei begrenzten Ressourcen, über die unsere Gesellschaft und erst recht der Staat verfügen, den ernst gemeinten und entschiedenen Versuch machen, große Teile dieser Ressourcen frei zu bekommen, um in drei wesentlichen, unsere Zukunft bestimmenden Felder investieren zu können: Forschung und Entwicklung, Bildung in einem sehr umfassenden Sinne und natürlich Betreuung von Kindern. Dies ist zum einen notwendig, weil wir eine Gesellschaft sind, in der zu wenige Kinder geboren werden. Zum anderen können wir es uns nicht mehr leisten, dass gut ausgebildete Frauen nicht auf den Arbeitsmarkt aktiv werden können, weil sie Familie und Beruf mangels Betreuung ihrer Kinder nicht vereinbaren können.

Um diese Ziele zu erreichen und um die Ressourcen für Zukunftsaufgaben frei zu bekommen, muss jeder seinen Beitrag leisten. Deswegen sage ich hier: Ich freue mich über die Unterstützung, die Sie im Großen und Ganzen gegeben haben.

Angesichts der Machtverteilung in unserem Staat muss auch von der Opposition gesehen werden: Der Bundesrat ist ein Verfassungsorgan des Bundes, keines, das einzelnen Ländern zur Verfügung stehen darf. Ich hoffe auf die Verantwortungsbereitschaft derer, die in diesem Verfassungsorgan die Mehrheit haben. Eine Blockade der auf den Weg gebrachten gesetzlichen Vorschriften im Verfassungsorgan Bundesrat hätte fatale Folgen für Deutschland und würde den begonnenen Reformprozess entscheidend schwächen, wenn nicht sogar auf Dauer verhindern.

Im Bewusstsein unserer Gesellschaft gibt es ja nicht zu wenig Bereitschaft für Reformen. Es gibt allerdings eine Kluft zwischen der allgemeinen Reformbereitschaft und der, bei der es um einen selbst geht. Angesichts der Summe der Verweigerungen könnte die allgemeine Reformbereitschaft in eine allgemeine Verweigerungshaltung umschlagen. Deshalb sage ich: Wir sind gegenwärtig in einer Situation, in der wir die Chance haben, das, was wir jetzt auf den Weg gebracht haben, zu vollenden.

Das macht meinen Appell an die Opposition aus: Es geht nicht um parteipolitische Vorteile, sondern darum in dem Verfassungsorgan Bundesrat Verantwortung zu übernehmen, und zwar Verantwortung für das Ganze. Dann kann man immer noch deutlich machen, an welcher Stelle man weitere Veränderungen möchte und an welcher Stelle man keine Veränderungen möchte. Diese Auseinandersetzung soll und kann in einer demokratischen Gesellschaft nicht aufhören. Aber man darf in der jetzigen Situation nicht sagen: "Wir ziehen uns aus dem Prozess der Verantwortung zurück" - weil man auch selber nicht einig ist. Das würde enorme negative Auswirkungen auf das Reformklima haben und damit natürlich nicht nur auf Deutschlands Rolle, soweit es die Innenpolitik angeht, sondern auch auf Deutschlands Rolle in der Europäischen Union und in der Weltwirtschaft.

Wir haben zudem eine Situation, in der wir uns entscheiden können, ob wir bis zum Ende dieses Jahres die Zeichen stützen wollen, die signalisieren, dass es nach fast drei Jahren einer stagnativen Phase in unserer Wirtschaft aufwärts geht. Ich plädiere dafür, dass wir alles tun, um die Wachstumsprognosen der Forschungsinstitute zu überbieten.

In der Finanzplanung wird der Bundesfinanzminister einen Wert wählen, der im Rahmen der Prognosen nicht der optimistische ist. Die konservative Annahme für die Finanzplanung ist keine, die wir nur erreichen wollen, sondern ist eine, die wir vorsichtigerweise annehmen. Wir müssen gemeinsam alle Anstrengungen darauf richten, dass die Prognose für das nächste Jahr von 1,7 Prozent nicht nur erreicht, sondern auch überboten wird.

Auch die Lage am Arbeitsmarkt wird sich nach Einschätzung der Institute nicht sogleich - das ist auch keine realistische Erwartung - , aber im Laufe des Jahres allmählich bessern. Dies auch aufgrund der Hartz-Reformen, die am Arbeitsmarkt wirken. Vieles spricht dafür - so die Institute - , dass sich die Weltwirtschaft deutlich beleben wird. In Deutschland könnten dann der private Verbrauch und die Investitionen für eine Unterstützung des im Wesentlichen außenwirtschaftlich verursachten Aufschwungs sorgen.

Die entscheidende Voraussetzung dafür, diese Wachstumstendenzen zu stützen, ist, dass wir mit dem Vorziehen der Steuerreformstufe 2005 auf 2004 einen kräftigen Impuls auch und gerade auf dem Binnenmarkt geben. Wir werden mit dem Vorziehen der Steuerreformstufe und der ohnehin beschlossenen Steuerreformstufe für 2004 mehr als 22 Milliarden Euro in den Wirtschaftskreislauf geben, allein durch das Vorziehen der Steuerreformstufe 2005 auf 2004 mehr als 15 Milliarden Euro.

Wir haben gesagt: Wir finanzieren diesen Impuls für das eine Jahr durch einen Mix aus Subventionsabbau, Privatisierungserlösen und Verschuldung. Es hat eine Diskussion über die Frage gegeben, ob es verantwortbar ist, für dieses eine Jahr auf Verschuldung zurückzugreifen. Ich kann auch verstehen, dass es diese Diskussion gibt. Aber wenn dieser Impuls von 22 Milliarden Euro auf dem Binnenmarkt für Belebung sorgen soll, dann macht es keinen Sinn, dass man das, was auf der einen Seite in den Wirtschaftskreislauf gegeben wird, auf der anderen Seite sofort wieder heraus nimmt. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass unser Problem, - trotz der Euro-Dollar-Kursentwicklung - nicht der Export, sondern immer noch der Binnenmarkt ist.

Ich glaube, dass beim Studium der wirtschaftswissenschaftlichen Empfehlungen der fünf Institute deutlich wird, dass man die Finanzierung so machen muss, wie wir es vorgesehen haben. Auch insofern geht der Appell an die Mehrheit im Bundesrat, jetzt nicht zu blockieren. Blockieren hieße, die Aufschwungtendenzen zu konterkarieren, und das kann im Interesse unseres Landes keiner verantworten.

Ich komme noch einmal zur Steuerbelastung. Natürlich verstehe ich Ihre Forderung, die Steuerbelastung weiter zu senken. Aber ich möchte darauf verweisen - weil das leicht vergessen wird - , was wir in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Steuerpolitik gemacht haben. Der Eingangssteuersatz wird ab dem nächsten Jahr - beim Vorziehen der 3. Stufe - von 25,9 Prozent auf 15 Prozent sinken. Das schafft Möglichkeiten, die Binnennachfrage zu entwickeln. Das ist übrigens der niedrigste Satz in der Geschichte unseres Landes. Der Spitzensteuersatz wird dann auf 42 Prozent sinken. Vor fünf Jahren - damals regierten wir ja nicht - lag dieser Spitzensteuersatz bei 53 Prozent. Es kommt noch hinzu: Wir haben dafür gesorgt, dass die Gewerbesteuer bis zu einer bestimmten Größenordnung - 380 Punkte - auf die Einkommensteuer angerechnet werden kann. Das hat geholfen, die Finanzierung gerade mittelständischer Unternehmen zu verbessern.

In der jetzigen Situation muss es darum gehen, die Wachstumskräfte der Wirtschaft zu stärken. Das Fundament in Deutschland ist dabei gut. Die Bundesbank kommt in ihrem jüngsten Monatsbericht zu dem Schluss, dass die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft so gut wie schon lange nicht mehr ist. Das hat viele Probleme mit sich gebracht, so zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Aber über die Tatsache, dass wir wieder Export-Weltmeister sind, kann man und darf man sich auch einmal freuen. Dabei spielen die Verschiebungen im Wechselkurverhältnis von Euro und Dollar eine Rolle. Aber es besteht trotzdem kein Anlass, diesen Erfolg klein zu reden, weil Deutschland seine Position auch wechselkursbereinigt erheblich verbessert hat. Nach jüngsten Berechnungen, die die Bundesbank vorgelegt hat, ist der deutsche Weltmarktanteil seit Mitte der neunziger Jahre real von 9 Prozent auf inzwischen 10,5 Prozent gewachsen. Dieser Erfolg der deutschen Wirtschaft ist trotz der bestehenden Tatsache geleistet worden, dass wir weiterhin die Lasten der deutschen Einheit zu tragen haben. Wir tragen dies gerne, aber dass muss keine andere Volkswirtschaft dieser Welt.

Bei den Erfolgen unserer Exportwirtschaft zeigt sich, dass es den deutschen Unternehmen besonders gut gelungen ist, im Handel mit den Ländern Mittel- und Osteuropas Fuß zu fassen und dort Spitzenpositionen einzunehmen. Es zeigt sich damit zugleich, welche Bedeutung die Erweiterung der Europäischen Union für uns auch ökonomisch hat.

Ich denke, das sollten wir miteinander nach außen vertreten, weil es natürlich bei dieser Erweiterung auch in unserem Land gewisse Befürchtungen gibt, denen wir entgegentreten müssen. Wir müssen erklären, dass in der Erweiterung nach Osten nicht nur, was die Außen- und Sicherheitspolitik angeht, historische Chancen liegen, sondern dass eben auch ökonomisch die Chancen gewaltig sind.

Meine Damen und Herren, in diesem Vierteljahr wird folgendes entscheidend sein: Erstens. Wir brauchen einem Dreiklang aus dem Setzen von Wachstumsimpulsen, nachhaltiger Konsolidierung und Strukturreformen, die wir jetzt auf den Weg gebracht haben.

Die zweite Aufgabe, die wir haben, ist, dass wir die Strukturreform in den sozialen Sicherungssystemen entschieden voranbringen und durch den Bundesrat bekommen.

Drittens. Unsere Reformen auf dem Arbeitsmarkt werden dazu beitragen, dass Menschen, die beschäftigungslos geworden sind, schneller wieder in Beschäftigung kommen. Alle Veränderungen in der Bundesanstalt für Arbeit dienen dazu, arbeitslose Menschen nicht mehr einfach nur zu betreuen und ihnen und ihren Familien die Möglichkeit zu geben, in Würde zu überleben, sondern sie vor allen Dingen bei der Vermittlung in neue Arbeit zu unterstützen.

Dazu brauchen wir Instrumente, um dieses leisten zu können. Wir haben mit der Ich-AG einer rasch steigenden Zahl von Arbeitssuchenden den Weg in eine Existenzgründung ermöglicht. Das ist ein erfolgreicher Weg. Mit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe verbessern wir die Vermittlung in vorhandene Arbeit. Es gilt, dass die Arbeit, die es in Deutschland gibt, auch von den Menschen in Deutschland getan werden muss. Bei der Flexibilität in Sachen Kündigungsschutz müssen wir eine Balance finden zwischen den Erfordernissen in den Unternehmen und dem berechtigten Wunsch von Arbeitnehmerinnern und Arbeitnehmern für sich selbst und ihren Familien ein Maß an Sicherheit zu bekommen, das ihnen Planbarkeit gestattet. Das gehört auch zu einer Gesellschaft, in der es sozialen Zusammenhalt gibt.

Ich will eine Bemerkung dazu machen, was wir an Mittelstandsfinanzierung auf den Weg gebracht haben. Das, was wir mit der Mittelstandsbank geschaffen haben, ist eine Voraussetzung für effiziente und transparente Fördermaßnahmen des Bundes. Wir beziehen das auch auf junge, innovative Technologie-Unternehmen, aber ebenso auf die mittelständische Wirtschaft insgesamt.

Darüber hinaus müssen wir den erst gemeinten Versuch machen, Refinanzierungsmöglichkeiten der Wirtschaft, insbesondere der mittelständischen Wirtschaft zu verbessern. Die Kreditwirtschaft bleibt aufgerufen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Die Bundesregierung hat hierbei bereits gehandelt. Wir haben die mittelstandsgerechte Gestaltung der neuen Eigenkapitalvorschriften für Banken - Basel II - durchgesetzt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind in einer ziemlich entscheidenden wirtschaftlichen Phase. Das Motto, das Sie gewählt haben, dass wir es nämlich nicht nur schaffen können, sondern auch schaffen werden, ist richtig. Die entscheidenden zwei Punkte hierbei sind: Schaffen wir es, die Sozialreformen als eine Anstrengung einer großen Kooperation in dieser Gesellschaft durchzusetzen? Schaffen wir es, die Steuerreform auf 2004 vorzuziehen, um die Wachstumselemente zu stärken? Das sind die beiden zentralen Aufgaben.

Die Bundesregierung hat nach einer sehr schwierigen internen und öffentlichen Debatte diesen richtigen Weg eingeschlagen. Diejenigen, die eine Mehrheit im Verfassungsorgan Bundesrat haben, stehen jetzt vor einer großen Verantwortung, damit diese beiden zentralen Aufgaben, die für Deutschlands Zukunft wichtig sind, auch gelöst werden. Vielen Dank!