Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 23.10.2003

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 23. Oktober 2003 in Berlin
Anrede: liebe Renate Schmidt, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/13/546613/multi.htm


Verehrte Frau Ministerin,

Der Rückblick auf die Geschichte des Familienministeriums ist ein Rückblick auf eine abwechslungsreiche Geschichte. Wie in kaum einem anderen Ministerium sind diesem Haus immer wieder Aufgaben zugewachsen und gelegentlich auch Aufgaben genommen worden. Es hat Teilungen und Zusammenlegungen gegeben. Aber der Kern der Arbeit des Ministeriums ist in den vergangenen 50 Jahren unverändert geblieben.

Ich fand es imponierend, wie hier in den kurzen Stellungnahmen der Ministerinnen und Minister - unabhängig von Parteizugehörigkeit - deutlich geworden ist, was verbindet und was die Schwerpunkte in 50 Jahren Geschichte dieses Hauses gewesen sind. Man bekommt auch eine Vorstellung davon, welche Kraft es gekostet hat, das Ministerium zu dem zu machen, was es heute ist: eines der wichtigen im Kreise der Bundesregierung.

In den vergangenen 50 Jahren haben sich die Formen des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft verändert. Wer eine offene, tolerante und pluralistische Gesellschaft will, der kann diese Entwicklung nicht beklagen und er kann sie schon gar nicht zurückdrehen. Aber - das ist die Aufgabe von Politik - wir müssen ständig die Instrumente überprüfen, damit sie den veränderten Lebenswirklichkeiten entsprechen. Und wir müssen Instrumente entwickeln, um uns auf veränderte Lebenswirklichkeiten einzustellen.

Für mich - da stimme ich der Ministerin ausdrücklich zu - gilt der Satz: Familie ist da, wo Kinder sind. Das ist für uns das Entscheidende. Das ist der Programmsatz, der nach Auffassung der Ministerin und auch nach meiner Auffassung die Tätigkeit in den nächsten Jahren bestimmen wird. Für uns ist diese Dekade bis zum Jahre 2010 eine, in der die Frage der Betreuung, und zwar um Familie und Beruf zu vereinbaren, einen wichtigen Stellenwert bekommen wird.

Meine Damen und Herren, das heutige System der Familienförderung hat sich erst nach und nach herausgebildet. 1953, im Gründungsjahr des Familienministeriums, gab es noch kein Kindergeld. Heute ist es selbstverständlich, dass diese Leistung für alle Kinder gezahlt wird. Es ist interessant - darauf ist schon hingewiesen worden - , dass bei den Notwendigkeiten, in den Haushalten zu sparen, diese Leistung Kindergeld in aller Regel nicht angetastet wird. Ich gehe davon aus, dass das auch in dieser Phase der Haushaltskonsolidierung so bleiben wird.

Auch andere Leistungen wie Erziehungsgeld, Elternzeit, der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, aber auch der Anspruch auf BAföG sind als familienpolitische Maßnahmen hinzugekommen. In dem Zusammenhang verstehe ich übrigens die Diskussion um die so genannten Anrechnungsjahre für Akademiker bei der Rente wirklich nur sehr bedingt. Ich jedenfalls hätte auch dann mit aller Kraft zu studieren versucht, wenn es keine drei Jahre Anrechnungszeit für Beiträge zur Rentenversicherung gegeben hätte. Ich finde, dass wir bei allem, was wir jetzt an Zumutungen beschließen müssen, auch ein Gefühl für das richtige Maß der Dinge behalten müssen. Das gilt insbesondere für diejenigen, die aufgrund der immer noch ein Privileg darstellenden akademischen Bildung, die ja von den Steuerzahlern finanziert wird, doch mehr Möglichkeiten haben als andere, im Leben angemessene Einkommen zu erzielen.

Für die familienpolitischen Maßnahmen geben wir viel Geld aus. Beim Bund sind es für die Familienpolitik heute rund 59 Milliarden Euro. Das ist ein Zuwachs von 20 Milliarden Euro allein in der letzten Legislaturperiode. Ich bin davon überzeugt, dass das gut angelegtes Geld ist. Kern der Arbeit der nächsten Zeit wird sein, Betreuung zu gewährleisten, damit Frauen Familie und Beruf besser vereinbaren. Ich bin davon überzeugt, dass das richtig ist, und zwar nicht nur aus Gründen richtig verstandener Geschlechtergerechtigkeit.

Ich bin davon überzeugt, dass das aus einem auch ökonomischen Grund notwendig ist. Diese Gesellschaft wird schon in kurzer Zeit sehen, dass sie es sich buchstäblich überhaupt nicht mehr leisten kann, auf die Kreativität, den Leistungswillen und die Leistungsbereitschaft gut ausgebildeter Frauen zu verzichten.

Durch all die anderen sehr wichtigen Leistungen konnte jedoch eines nicht erreicht werden: Wir haben den vor vier Jahrzehnten einsetzenden Rückgang der Geburtenrate nicht stoppen können. Mitte der 60er Jahre wurde eine halbe Million Kinder mehr geboren als heute. Deutschland hat damit eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit.

Unsere Gesellschaft befindet sich also in einem Prozess des sich radikal verändernden Altersaufbau. Bei der Altersversorgung haben sich die Rentenbezugszeiten seit 1960 fast verdoppelt. Wenn wir an diesem Punkt jetzt nicht gegensteuern, hätten wir eine Situation in fernerer Zukunft, in der die sozialen Sicherungssysteme unfinanzierbar geworden wären. Das wäre dann die eigentliche Gerechtigkeitsfrage in unserer Gesellschaft.

Deswegen liegt mir daran, dass wir in unserem Land soziale Gerechtigkeit - und dieses Ministerium hat wirklich dazu beigetragen - erhalten und verbessern wollen.

Gerechtigkeit indessen kann man auf verschiedenen Niveaus herstellen: Man kann Gerechtigkeit auch auf einem sinkenden Wohlstandsniveau schaffen. Aber genau das wollen wir nicht. Wir wollen Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft auf dem gleichen, möglichst wachsenden Wohlstandsniveau herstellen. Wenn man das will, dann knüpft sich daran eine zentrale Aufgabe: Die Aufgabe, dass wir die sozialen Sicherungssysteme umbauen müssen, um Ressourcen frei zu bekommen, um sie für die Zukunftsaufgaben einzusetzen.

Was die Zukunftsaufgaben angeht, sehe ich insbesondere drei Aufgaben in dieser Dekade:

Erstens. Investitionen in Forschung und Entwicklung, um langfristigen Wohlstand zu sichern und auszubauen.

Zweitens. Damit zusammenhängend brauchen wir Investitionen in Bildung, weil in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland der eigentliche Rohstoff gut ausgebildete Menschen sind.

Drittens. Wir brauchen Investitionen in Betreuung, um Frauen, die Familie und Beruf vereinbaren wollen, eine Chance zu geben.

Das sind die drei großen Aufgaben, für die wir mehr Ressourcen benötigen, als wir in der Vergangenheit zur Verfügung hatten. Bei begrenzten volkswirtschaftlichen Ressourcen heißt das, dass wir von Vergangenheits-Subventionen in Zukunfts-Investitionen umsteuern müssen. Das macht die Notwendigkeit aus, die sozialen Sicherungssysteme den veränderten Lebenswelten anzupassen, und zwar nicht, um Menschen zu belasten, sondern weil wir wissen, dass ohne diese Maßnahmen Wohlstandssicherung künftig nicht möglich ist und auch die Finanzierbarkeit der Systeme nicht auf Dauer gesichert werden kann.

Bei der Verbesserung der Betreuung wird es darum gehen, dass wir das nicht nur auf Seiten des Bundes machen. Wir wollen die Betreuung bei den unter Dreijährigen ab 2005 mit jeweils etwa 1,5 Milliarden Euro fördern, die die Kommunen als Folge der Maßnahmen, die wir mit den Hartz-Reformen getroffen haben, behalten werden. Wir stellen 4 Milliarden Euro in der Legislaturperiode für den Ausbau der Ganztagsbetreuung zur Verfügung, obwohl wir in diesem Bereich formal nicht zuständig sind. Wir gehen davon aus, dass das gut und richtig angelegtes Geld ist.

Wir erwarten, dass die Verantwortlichen auf den anderen staatlichen Ebenen, also bei den Kommunen und Ländern, ähnliche politische Prioritäten setzen. Dabei kann es ruhig einen Wettbewerb um die jeweils bessere Maßnahme, das jeweils bessere Instrument geben, wenn nur klar ist, dass dies ein gemeinsames Ziel aller Institutionen im föderalen Staatsaufbau ist.

Darüber hinaus ist an den Äußerungen der Ministerin deutlich geworden, dass wir einen Rahmen schaffen wollen, damit die Familien leben können, wie sie wollen und nicht, wie andere meinen, dass sie leben sollen. Diejenigen, die zum Beispiel in freier Entscheidung sagen, sie wollen nicht berufstätig sein, weil sie in eine Familienphase eintreten, sollen das tun können. Aber es muss auch umgekehrt möglich sein, dass diejenigen, die Familie und Beruf vereinbaren wollen, das genauso gut können, ohne das Gefühl haben zu müssen, ein schlechterer Elternteil zu sein.

Meine Damen und Herren, mein Wunsch ist es, dass die Arbeit des Ministeriums genauso engagiert, wie sie in all den Jahren von unterschiedlichsten Persönlichkeiten getan worden ist, auch in Zukunft getan wird. Ich jedenfalls weiß diese Aufgabe bei Renate Schmidt in sehr, sehr guten Händen. In mancher fair und vor allem Dingen nicht öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung mit ihr habe ich eine Menge dazugelernt.

Renate Schmidt hat meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Unterstützung, wo immer ich das tun kann. Denn diese Ministerin weiß, dass auch das Familienministerium ein Teil eines großen Ganzen ist. In diesem Sinne auch weiterhin auf gute Zusammenarbeit!