Redner(in): Christina Weiss
Datum: 27.10.2003

Untertitel: Der Deutsche Kinematheksverbund ist ein Kind des Föderalismus. Er erfüllt die Aufgaben einer zentralen deutschen Kinemathek, und das bestens. Die Geschichte des Verbundes ist ein Beleg für eine wirksame, geräuschlose Kooperation zwischen Bund und Ländern, führte Kulturstaatsministerin Weiss in ihrem Grußwort am 27. Oktober in Wiesbaden aus.
Anrede: Sehr geehrter Herr Beyer, sehr geehrter Herr Prinzlermeine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/26/547926/multi.htm


wir sind heute Abend zusammengekommen, um das 25-jährige Bestehen des Deutschen Kinematheksverbundes zu feiern. Wir treffen uns in Wiesbaden. Dieser Ort beansprucht auf der Landkarte des deutschen Kinos seinen festen Platz. Dies ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass hier die Spitzenorganisation der Deutschen Filmwirtschaft beheimatet ist und zudem der Verband der Filmverleiher, das Filmarchiv des Deutschen Filminstituts und die Murnau-Stiftung ansässig sind. Nicht zu vergessen natürlich die Filmbewertungsstelle und die Freiwillige Selbstkontrolle.

Nein, Wiesbaden ist auch der Geburtsort eines unserer bekanntesten Regisseure. Volker Schlöndorff kam hier 1939 zur Welt. Und er machte hier die erste Bekanntschaft mit dem Kino, das er später als "kulturelles Nahrungsmittel" bezeichnen wird. Amüsanterweise verdankte sich die frühe Liaison zwischen Schlöndorff und dem Kino der Freiwilligen Selbstkontrolle. Schlöndorff war 14, 15 Jahre alt, als er Franz Rath kennen lernte, der später sein Kameramann werden sollte. Mitte der fünfziger Jahre aber führte Franz Rath bei der FSK in Wiesbaden die zu beurteilenden Filme vor, und so stillte der junge Schlöndorff seinen Kinohunger in der Vorführkabine der Freiwilligen Selbstkontrolle.

Gezeigt wurde die aktuelle europäische Filmkunst. Tief beeindruckt aber hat den Gymnasiasten ein anderes Kino. Es waren Werke der deutschen Filmgeschichte, namentlich Stummfilme von Carl Theodor Dreyer oder Fritz Lang, die Schlöndorff auf einem zweimonatigen Schüleraustausch in Frankreich erstmals sah. Auf dem Jesuiteninternat existierte ein Filmclub, der von einem alten Pater geführt wurde. Dort saß der Wiesbadener unter lauter Franzosen und sah u. a. Alain Resnais "Nacht und Nebel". Man kann sich vorstellen, was diese Konstellation kaum zehn Jahre nach Kriegsende für eine Wirkung gehabt haben muss. Schlöndorff hat später erzählt, dass ihn dieses Erlebnis ziemlich traumatisierte. Er habe den Franzosen beweisen wollen, dass es auch gute Deutsche gebe. Er blieb im Nachbarland, beendete die Schule in Frankreich und versuchte anfänglich gar, seine Identität abzustreifen, also ein Franzose zu werden. Erst später spürte er eine gewisse Faszination der Franzosen gegenüber dem Deutschen. Schlöndorff suchte danach in sich und gelangte zu der Überzeugung, dass es wieder einen deutschen Film geben sollte. Vermutlich ist er deswegen Filmemacher geworden.

Was der Filmclub im Jesuiteninternat in der Bretagne für den Schüler Schlöndorff war, wurde die Cinémathéque Française für den Regieassistenten, der in den sechziger Jahren bei Melville, Resnais, Tavernier oder Louis Malle hospitierte. In der Cinémathéque, die Henri Langlois schon 1936 gegründet hatte, traf sich eine ganze Generation von Filmemachern: Godard, Truffaut, Chabrol, kurz: die "Nouvelle Vague". Jeden Abend wurden drei Filme angeschaut, mindestens, und anschließend darüber diskutiert. Die Filmhistorikerin - oder wie Werner Herzog sie nannte - die "Schutzheilige" Lotte Eisner sagte einmal, dass das fortwährende Sehen von guten und schlechten Filmen einer sechzigjährigen reichen Geschichte Schlöndorffs Sehweise verändert hätte.

Meine Damen und Herren, das Beispiel des Wiesbadener Schülers, der auszog, die Sprache der Bilder zu lernen, beschreibt eine Möglichkeit kultureller Sozialisation. Am Anfang dieses Bildungsweges, der sich jenseits der Schule ereignete, steht ein diffuses, ein eher gefühltes denn bewusstes Interesse; am Ende aber ein ausgeprägter, veränderter Blick auf die Welt.

Für die Wahrnehmung von Welt sind in unseren Tagen zuallererst die visuellen Medien verantwortlich. Dem Kino wird dabei häufig eine Rolle als Leitmedium zugedacht. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass alle Archivarbeit, wie sie der Deutsche Kinematheksverbund koordiniert, als wichtige Stütze eines nationalen Gedächtnisses zu gelten hat.

Die drei Verbundsmitglieder Bundesfilmarchiv, Stiftung Deutsche Kinemathek und Deutsches Filminstitut, die kooptierten Filmmuseen in Düsseldorf, Frankfurt, München und Potsdam sowie die Murnau-Stiftung, CineGraph Hamburg und die Cinémathéque Lübeck, die als Gäste dem Kinematheksverbund angehören, wirken also nicht allein als Hüter eines rein filmästhetischen Schatzes, dessen Sichtung und Diskussion in abgegrenzten Zirkeln verbleibt. Nein, die Ausstattung der Filmarchive bildet so etwas wie das kulturelle Innenfutter unserer Gesellschaft. Als Beispiel sei nur auf das Filmerbe der DDR verwiesen, das mit dem Einigungsvertrag in die Bestände des Bundesarchivs überging und seither in Berlin unter der Obhut meiner Behörde gepflegt wird: Hier findet sich ein riesiger zeitgeschichtlicher Fundus, der den Alltag in der sozialistischen Lebenswelt viel differenzierter und genauer abbildet - und ihm damit auch gerechter wird - , als es die Ampelmännchen-Retrospektiven dieses Fernseh-Sommers getan haben.

Der Deutsche Kinematheksverbund, ließe sich analog zum berühmten Vorbild sagen, ist eine Cinémathéque allemande, wenngleich die deutsche Einrichtung und die Pariser Institution auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein könnten. Der Deutsche Kinematheksverbund ist "keine Notlösung und kein Provisorium", wie der damalige Innenminister Baum meinte, als vor fünfundzwanzig Jahren die Bundesregierung und das Land Berlin zur Gründung übereinkamen. Der Deutsche Kinematheksverbund ist ein Kind unseres Föderalismus. Er erfüllt die Aufgaben einer zentralen deutschen Kinemathek, und das bestens. Die Geschichte des Verbundes ist ein Beleg für eine wirksame, geräuschlose Kooperation zwischen Bund und Ländern.

An dieser günstigen Gemengelage ändert sich auch nichts, wenn nun zwei der drei Mitglieder in der Verantwortung des Bundes stehen. Mit der Übernahme der Stiftung Deutsche Kinemathek durch den Bund wurde sowohl die nationale Bedeutung dieser Institution bestätigt als natürlich auch der Berliner Haushalt entlastet. Trotzdem bleibt die Stiftung weiterhin ihrer Stadt verbunden und umgekehrt. Der Bund rundet damit sein filmpolitisches Engagement ab, bestreitet aber keineswegs die Vielfalt der filmkulturellen Initiativen. Auf diese Vielfalt sind wir stolz, auf die Früchte dieser Arbeit erst recht.

Der Kinematheksverbund befördert nicht nur den kollegialen Austausch von Informationen und Abstimmungen, sondern ermöglicht auch ein Netzwerk für gemeinsame Projekte. Wenn wir heute auf Geleistetes zurückschauen, fällt natürlich zuerst das in mehrjähriger Arbeit erstellte digitale Datenverzeichnis "Deutsche Filmographie" ins Auge. Hier werden alle in Deutschland hergestellten Spielfilme und die bis 1960 produzierten Dokumentar- und Kurzspielfilme erfasst. Darauf basiert die CD-ROM "Die deutschen Filme", die neben den Grunddaten der rund 18.000 Spielfilme ausführliche filmografische Angaben zu den 100 wichtigsten deutschen Filmen bietet und damit einen Querschnitt durch die deutsche Filmgeschichte liefert.

Daran soll in einem Jahr das "Internet-Portal zum deutschen Film" anknüpfen: ein Vorhaben von Deutschem Filminstitut und CineGraph Hamburg, das zu großen Hoffnungen berechtigt, weil es die Früchte der zumeist unsichtbaren Archivarbeit im dafür am besten geeigneten Forum präsentiert. Deswegen unterstützt meine Behörde dieses Projekt, das dem Fachbesucher ebenso wie dem Liebhaber und dem Neuling einen kundigen Überblick über die nationale Filmgeschichte bieten soll. Wenn Volker Schlöndorff heute noch einmal vierzehn wäre, würde er sich wohl nicht nur heimlich in Vorführkabinen schleichen, sondern sicher auch www.filmportal.de eingeben.

Denn abgesehen davon, dass das Internet die Vernetzung vorantreibt und damit das Suchen in der Filmgeschichte vereinfacht, erreichen Sie damit vor allem junge Leute. Zugleich erfordert die verästelte Komplexität des Internets eine stärkere Akzentuierung im Umgang mit Informationen. Deswegen lege ich Ihnen die Filmbildung ans Herz. Der kürzlich zusammengestellte Kanon von 35 Werken der internationalen Filmkunst mag umstritten sein, aber er bietet eine gute Grundlage für die Filmerziehung, die wir beherzt auf die Lehrpläne bringen sollten. Im Kanon finden Sie auch Alain Resnais' "Nacht und Nebel", also jenen Film, der so stark zur Identitätsbildung des jungen Volker Schlöndorff beigetragen hat.

Lassen Sie mich Ihnen allen für Ihre Arbeit danken, die große Kenntnis und Liebe zum Film voraussetzt, Kenntnis und Liebe, die sich lehren und lernen lassen. Ich möchte Ihnen einige Worte Godards mit auf den Weg geben. Der nämlich verstand die Tätigkeit von Henri Langlois und seiner Cinémathéque folgendermaßen: "Zuerst die Werke, dann die Menschen. Wenn ihr jene achtet, werdet ihr diese achten." In diesem Sinne herzlichen Glückwunsch.