Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 17.11.1999
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident Stihl, sehr geehrter Herr von Oppenheim, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/40/11740/multi.htm
Die heutige Festveranstaltung würdigt drei Ereignisse, die jeweils für sich gesehen bereits Anlass genug zum Feiern gäben:
den fünfzigsten Jahrestag der Wiederbegründung des Deutschen Industrie- und Handelstages nach dem Zweiten Weltkrieg,
den hundertsten Geburtstag des Systems der Auslandshandelskammern und
die Einweihung des neuen DIHT-Gebäudes im Haus der Deutschen Wirtschaft in Berlin. Zu allen drei Anlässen übermittle ich Ihnen die herzlichen Glückwünsche der Bundesregierung.
Ihr neuer Standort, Herr Präsident, befindet sich nur wenige Schritte entfernt vom derzeitigen Sitz des Bundeskanzlers.
Schon deshalb kann der DIHT für sich in Anspruch nehmen, ganz nah dran zu sein an den Schaltstellen der Politik in Deutschland.
Und dies ist gut so. Wir brauchen den "kurzen Weg" gerade auch zwischen Politik und Wirtschaft.
Nur im konstruktiven Dialog werden wir die Zukunft erfolgreich gestalten.
Der DIHT ist dafür ein ganz besonders wichtiger Gesprächspartner, denn der DIHT, der Dachverband der 82 Industrie- und Handelskammern in Deutschland mit insgesamt 3 Millionen Mitglieds-Unternehmen, vertritt wie keine andere Organisation die gesamte Breite und Vielfalt der gewerblichen Wirtschaft.
Dies gilt seit fünf Jahrzehnten in Westdeutschland - und es gilt seit 10 Jahren auch in den neuen Bundesländern.
Vor wenigen Tagen haben wir hier in Berlin den zehnten Jahrestag des Mauerfalls gefeiert.
Zu den wesentlichen ökonomischen Ursachen, die den Staatssozialismus in der DDR gleichsam von innen ausgehöhlt und schließlich zum Einsturz gebracht haben, gehörte die nahezu vollständige Zerschlagung des selbständigen Mittelstandes.
Die Erfahrung lehrt: Eine lebendige Vielfalt kleiner und mittlerer Unternehmen ist unverzichtbare Basis für eine leistungsfähige Volkswirtschaft.
Deshalb war es für den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland so wichtig, das Heranwachsen mittelständischer Strukturen in den neuen Ländern mit ganzer Kraft zu fördern.
Die westdeutschen Industrie- und Handelskammern haben sich dieser Aufgabe von Anfang an gestellt. Mit ihrer Aufbauhilfe für die Kammern in Ostdeutschland haben sie dafür Sorge getragen, dass Existenzgründern und Investoren rasch unverzichtbare Serviceleistungen für ihren Start in die Marktwirtschaft zur Verfügung gestellt wurden.
Wenn wir heute feststellen, dass es in den neuen Ländern wieder über eine halbe Millionen mittelständischer Unternehmen mit über 3 Millionen Beschäftigten gibt, dann ist dies nicht zuletzt auch ein Ergebnis der Arbeit der Industrie- und Handelskammern in Deutschland.
Eine wichtige Basis für einen gesunden und prosperierenden Mittelstand ist eine gute gesamtwirtschaftliche Entwicklung - also ein dauerhaftes und stabiles Wachstum.
Die Ausgangslage dafür war schwierig.
Die Bundesregierung hat im vergangenen Herbst eine Situation vorgefunden, die von den Wirtschafts-Sachverständigen als "Aufschwung zwischen Hoffen und Bangen" charakterisiert wurde.
Heute - ein Jahr später - stehen die Konjunktursignale auf grün.
In ihrem gestern veröffentlichten Jahresgutachten 1999/2000 bestätigen die Wirtschaftsweisen, dass die Konjunktur - gestützt auf eine stabile Entwicklung des Konsums und eine anziehende Exportnachfrage - Fahrt aufgenommen hat.
Für das kommende Jahr erwarten sie - ebenso wie die Bundesregierung - ein Wachstum in der Größenordnung von 2,7 Prozent.
Damit steigen die Chancen, dass wir beim Abbau der Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr weiter vorankommen werden.
Die Konjunktur-Einschätzung des DIHT für das kommende Jahr - formuliert auf Grundlage der Ergebnisse der jüngsten Herbstumfrage bei den Industrie- und Handelskammern - bewegt sich mit 2 bis 2,5 Prozent Wachstum am unteren Rand des Prognose-Spektrums der Konjunkturexperten.
Die Konjunktur, so heißt es, säße "im Wartesaal der Politik".
Ich habe - offen gesagt - nicht diesen Eindruck. Nach meiner Einschätzung befindet sich die Konjunktur im frischen Aufwind. Einem Aufwind, der die deutsche Volkswirtschaft erfasst hat.
Und ich habe die feste Absicht, alles zu tun, damit dies auch in Zukunft so bleibt.
Die Bundesregierung hat seit ihrem Amtsantritt ein ordentliches Tempo vorgelegt und ist dabei, den Reformstau der vergangenen Jahre Schritt für Schritt aufzulösen.
Wir wollen den Strukturwandel für die Unternehmen erleichtern und so gute Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen.
Und wir haben zugleich etwas für die Inlandskonjunktur getan. Kernbereich ist dabei die Steuerpolitik.
Im ersten Schritt haben wir vor allem Familien und Durchschnittsverdiener steuerlich entlastet - netto insgesamt um 31 Milliarden DM.
Unser Ziel ist, dass der durch die verfehlte Steuer- und Abgabenpolitik der Vergangenheit viel zu groß gewordene Abstand zwischen Brutto und Netto bei Löhnen und Gehältern endlich wieder geringer wird.
In diesem Jahr sind es 1.200 DM, in den Jahren 2000 und 2001 schon 2.200 DM und ab 2002 sogar 3.000 DM, um die das Nettoeinkommen einer Durchschnittsfamilie zunimmt.
Damit stärken wir die Kaufkraft der privaten Haushalte. Aber wir beschränken uns nicht nur auf die Nachfragepolitik.
Wir tun etwas für die Angebotsseite, und wir tun dies mit dem Zukunftsprogramm 2000. Es umfasst die Haushaltskonsolidierung, die Neuregelung des Familienleistungsausgleichs, die Unternehmensteuerreform und die Fortsetzung der ökologischen Steuerreform.
Die verkürzte Darstellung des Zukunftsprogramms als Sparprogramm in der öffentlichen Diskussion wird der Zielrichtung dieses Reformpakets nicht gerecht. Mit unserem Zukunftsprogramm gestalten wir die Grundlagen für die Zukunft unserer Kinder. Mit den Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung haben wir einen ersten wichtigen Schritt zur Sicherung der Staatsfinanzen getan. Der Bundestag hat in der vergangenen Woche unserem Haushaltssanierungsgesetz zugestimmt.
Mit sinkenden Haushaltsdefiziten entlasten wir den Kapitalmarkt und tragen zu dauerhaft niedrigen Zinsen bei - und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Euro-Zone.
Ich sage dies gerade auch im Hinblick auf die Stabilitätsziele, die wir in Europa vereinbart haben. Würde ausgerechnet Deutschland sie nicht einhalten und eine Ausnahme beantragen, wäre dies ein verheerendes Signal für die internationalen Kapitalmärkte.
Trotz Konsolidierungsanstrengungen bleibt dennoch Raum für eine Senkung der Steuerbelastung für Unternehmen.
Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999 bis 2002 haben wir erste Signale gegeben. Der Einkommensteuer-Höchstsatz für gewerbliche Einkünfte sinkt in zwei Schritten auf 43 Prozent.
Der Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne beträgt seit dem 1. Januar 1999 nur noch 40 Prozent.
Berechtigte Anliegen des Mittelstandes haben wir berücksichtigt. Die Teilwertabschreibung wird mit Einschränkungen weiterhin möglich sein.
Der Verlustrücktrag bleibt mittelstandsfreundlich ausgestaltet. Die Ansparabschreibung für kleine und mittlere Betriebe bleibt vollständig erhalten.
Insgesamt wird der Mittelstand um rund 6 Milliarden DM entlastet.
Mit der Unternehmensteuerreform folgt jetzt der zweite große Reformschritt. Für Kapitalgesellschaften und Anteilseigner soll es ab 1. Januar 2001 einen einheitlichen Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent geben.
Dabei ist klar, dass wir eine Reform beschliessen werden, die nicht nur die Investitionsbedingungen für große Kapitalgesellschaften verbessert, sondern auch und vor allem dem Mittelstand zugute kommt.
Der Finanzminister wird Anfang Januar 2000 den Referentenentwurf für die Unternehmensteuerreform vorlegen.
Deutschland wird künftig im internationalen Vergleich auf eine attraktive Position im unteren Mittelfeld der Unternehmensteuersätze vorrücken.
Dabei wird den Unternehmen auch nach Streichung zahlreicher Steuervergünstigungen eine deutliche Nettoentlastung verbleiben - und zwar 8 Milliarden DM.
Reformbedarf besteht auch bei den sozialen Sicherungssystemen. Von besonderer Dringlichkeit ist dabei die Zukunftssicherung der Renten.
Mit der Rentenreform werden wir bestehende Rentenansprüche sichern und die Altersvorsorge künftiger Generationen auf eine tragfähige und dauerhaft finanzierbare Grundlage stellen.
Wichtig ist vor allem die längerfristige Perspektive, die wir erfüllen, indem wir eine kapitalgedeckte Zusatzversorgung einführen.
Der Staat wird tarifvertragliche Initiativen hierzu gegebenenfalls durch entsprechende Rahmenbedingungen flankieren.
Wir wollen die Summe der Beiträge zur Sozialversicherung stabil halten und wieder unter 40 Prozent bringen. Deshalb ist eine Rente mit 60 für langjährig Versicherte aus der Rentenversicherung nicht zu finanzieren.
Der Ansatz, eine Beschäftigungsbrücke zwischen Alt und Jung zu bauen, ist aber im Prinzip vernünftig. Für tarifpolitische Lösungen bin ich deshalb im Rahmen des Bündnisses für Arbeit offen.
Kernanliegen unserer Mittelstandspolitik ist es, neue Betätigungsfelder für mittelständische Unternehmen und Selbständige zu erschließen.
Insbesondere moderne und neue Dienstleistungen wollen wir entwickeln, weil sie Chancen für viele neue und gut bezahlte Arbeitsplätze bieten.
Vor allem im Bereich der industrienahen Dienstleistungen sehe ich große Entwicklungspotenziale. Um diese zu erschließen, hat die Bundesregierung das Aktionsprogramm "Innovation und Arbeitspätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts" beschlossen.
Damit werden neue Anwendungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie vorangetrieben und innovative Arbeitsplätze geschaffen.
Genau so wichtig ist aber auch die Entlastung der kleinen und mittleren Betriebe von Bürokratiekosten, damit den Mittelständlern mehr Zeit bleibt für ihre eigentlichen unternehmerischen Aufgaben.
Für Existenzgründer und wachsende Betriebe des Mittelstandes ist der schnelle Zugang zum Kapitalmarkt von zentraler Bedeutung.
Zusätzliche Dringlichkeit erhält dieses Thema durch den anstehenden Generationswechsel im Mittelstand. Nach Schätzungen ist bis zum Jahr 2001 mit ca. 370.000 Unternehmensübertragungen in Familienunternehmen zu rechnen.
Wir wollen, dass dieser Generationswechsel ohne Existenzgefährdung der Betriebe und ohne Arbeitsplatzverluste stattfindet.
Für die Unternehmen des Mittelstandes ist im Zeitalter der Globalisierung vor allem aber auch die Internationalisierung von Beschaffung, Produktion und Absatz unverzichtbar.
Der Tätigkeit der Auslandshandelskammern kommt gerade vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung zu.
Mit inzwischen über 100 Büros in 75 Ländern unterstützen sie seit einem Jahrhundert deutsche Investoren gerade aus dem Mittelstand, die sich keine eigenen Beraterstäbe leisten können, auf ausländischen Märkten Fuss zu fassen.
Ebenso sind sie wichtige Anlaufstellen für ausländische Betriebe, die in Deutschland investieren wollen und damit auch Arbeitsplätze schaffen.
Von der Bedeutung der Arbeit der Auslandshandelskammern habe ich mich bei meinen kürzlichen Besuchen in Athen und - anlässlich der Neugründung der dortigen Kammer - in Peking überzeugt.
Morgen werde ich der Kammer in Istanbul einen Besuch abstatten.
Die Bundesregierung hat eine Vielzahl von Reformen angepackt, um die Chancen für mehr Wachstum und Beschäftigung nachhaltig zu verbessern.
Und die ersten Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Dennoch werden wir einen Durchbruch zu einem dauerhaften Beschäftigungsschub nur schaffen, wenn wir die Arbeitsmarktprobleme im Konsens angehen. Deshalb ist und bleibt das Bündnis für Arbeit von besonderer Bedeutung.
Es bietet eine tragfähige Plattform für eine enge und dauerhafte Kooperation von Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat.
Der DIHT ist durch Sie, Herr Präsident Stihl, bei den Spitzengesprächen vertreten.
Ich denke, wir stimmen darin überein, dass das Bündnis langfristig um so produktiver für alle Beteiligten wirken wird, je mehr es uns gelingt, in unseren Gesprächen Vertrauen zu schaffen.
Dies bedeutet nicht, kontroverse Themen aus der Diskussion auszuklammern. Entscheidend ist eine offene und konstruktive Gesprächsatmosphäre mit dem Ziel, gemeinsam zu vernünftigen Lösungen zukommen.
Dass dies möglich ist, haben wir bei unserer letzten Gesprächsrunde im Juli unter Beweis gestellt. Arbeitgeber und Gewerkschaften haben sich unter dem Dach des Bündnisses auf eine mittel- und langfristig verlässliche Tarifpolitik verständigt.
Auf eine Tarifpolitik, die sich die Aufgabe stellt, Produktivitäts-Steigerungen vorrangig in den Dienst der Beschäftigungsförderung zu stellen.
Wichtige Ergebnisse haben wir gemeinsam auch beim Thema Ausbildung erzielt.
Ein Thema, dem sich die Industrie- und Handelskammern, aber auch die übrigen Kammern, mit besonderem Engagement zuwenden.
Sie beraten Auszubildende und Ausbildungsbetriebe und kümmern sich um praxisnahe Ausbildungsgänge.
Rund 120.000 ehrenamtliche Prüfer aus den Betrieben stellen jährlich rund einer halben Million Lehrlingen Abschlusszeugnisse aus.
Dies ist ein ganz konkreter und wichtiger Beitrag für den Erfolg des weltweit anerkannten Systems der dualen Berufsausbildung.
Die wichtigste Aufgabe, vor der wir in diesem Zusammenhang stehen, ist es, jedem Jugendlichen, der dies will und kann, die Chance für eine qualifizierte Ausbildung zu geben.
Die Wirtschaft hat zugesagt, die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Jahr deutlich zu erhöhen.
Die Industrie- und Handelskammern beteiligen sich daran mit großer Energie. Dafür möchte ich Ihnen bei dieser Gelegenheit herzlich danken.
Die Bundesregierung unterstützt diese Anstrengungen mit dem Sofortprogramm Arbeit, Ausbildung und Qualifizierung.
Dieses Programm ist ein großer Erfolg. Rund 200.000 Jugendliche haben dadurch bislang eine neue Chance erhalten. Wir werden das Programm auch im nächsten Jahr fortsetzen.
Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland - und dies ist besonders erfreulich - ist nicht zuletzt auch deshalb binnen Jahresfrist um inzwischen 6 Prozent gesunken.
Alles in allem können wir feststellen, dass sich die Situation auf dem Ausbildungsstellen-Markt gegenüber dem Vorjahr spürbar verbessert hat.
Dennoch gibt es keinen Anlass zur Entwarnung. Gerade in den neuen Bundesländern übersteigt die Zahl der Ausbildungsplatz-Bewerber noch deutlich das Lehrstellenangebot.
Deshalb muss und wird das Thema Lehrstellen weiterhin auf der Tagesordnung bleiben.
Für die Industrie- und Handelskammern ist das Prinzip der wirtschaftlichen Selbstverwaltung ganz wesentlich. Das heißt, die Unternehmen lösen die sie betreffenden Aufgaben in eigener Regie und Verantwortung.
Getragen wird die Tätigkeit der Kammern seit jeher durch den ehrenamtlichen Einsatz einer großen Zahl von Unternehmern. Sie tun damit nicht nur Gutes für ihr Unternehmen, sondern beweisen zugleich ein großes Maß an Bürgersinn.
In dieser Tradition wünsche ich dem Deutschen Industrie- und Handelstag, den Industrie- und Handelskammern in Deutschland und den Auslandshandelskammern Glück und Erfolg für ihre zukünftige Arbeit.