Redner(in): k.A.
Datum: 17.11.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/80/11780/multi.htm


Die kleine Bankettfrage des vorigen Herbstes, was die Berliner Republik sei, hat ihren Reiz nicht verloren. Sie gibt demjenigen, der sie zu beantworten sucht, das Gefühl, in ihr angekommen zu sein, selbst wenn ihm der Sinn keineswegs danach steht. Berliner Republik Das dümmste, was man sagen kann sagte Heiner Geißler, Johannes Rau konnte nicht soviel damit anfangen, und für Helmut Kohl war sie schlicht Geschwätz. Für Johannes Gross, den jüngst gestorbenen mutmaßlichen Erfinder der Formel, bedeutete die Berliner Republik eine Rückkehr in die europäische Normalität. Normalität war für den klugen Publizisten das Ende der intellektuellen und praktischen Flucht vor Politik. Nicht Politikverdrossenheit kennzeichnete die Bonner Epoche, sondern jene seltsame Haltung leidenschaftlicher Verzagtheit, die politischen Gestaltungswillen unter dem Hinweis auf die Allmacht der inneren Sachzwänge, der sicherheitspolitischen Gegebenheiten, der Komplexität unserer zahlreichen Bündnisverpflichtungen lähmte. Bonn wurde zum Symbol eines Politikverständnisses, in dem Tausende Seiten raschelnder Regelwerke oft den konfliktfreudigen gesellschaftlichen Diskurs ersetzten, und in dem Hoffnung auf Konsens meistens stärker war als die Lust an der Debatte um das Ziel von government: Gerechtigkeit, Freiheit und all jene universalen Tugenden, die hierzulande als Werte figurieren und die dann urplötzlich im Kosovo-Konflikt aus dem rhetorischen Niemandsland auftauchten, um schon bald wieder dort zu verschwinden. In einem Wort, die Bonner Republik, oder besser: das Raumschiff Bonn, war ebenso gemütlich wie in sich selbst ruhend. Außerdem war es fleißig. In vierzig Jahren wurden alle Lebensbereiche im Namen von staatlicher Daseinsvorsorge, Umweltschutz, Steuergerechtigkeit usw. bis zur intellektuellen Undurchdringlichkeit verrechtlicht. Die Juridifizierung der Welt - das war die Rache der deutschen Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts für die gescheiterte Revolution 1848. Hier eroberte sich das Bürgertum den Gestaltungsraum, den es auf den Barrikaden von Berlin verloren hatte. Der Raum ist von Jahr zu Jahr enger geworden. Als Abschied von Bonn erhält das Wort von der Berliner Republik also zunächst Kontur: als mehr oder minder wehmütiger Rückblick auf die wohl zivilsten und wohlhabendsten Jahre unserer Geschichte, als Frage, wieviel davon wir in die Zukunft mitnehmen können. Aber hat Berliner Republik - das wäre meine Frage - außer dem Abschied von Bonn, außer der Lust des Feuilletons an Glanz, Größe und epochalen Begriffen - noch etwas von der Geschichtslust und Aufbruchsbereitschaft jener Tage und Wochen, deren zehntes Jubiläum wir gerade begingen Ach, es war ein melancholisches Fest, mehr Reminiszenz als Stolz, mehr Eigenlob als Blick nach vorn. Ein paar Tage nach dem Fall der Mauer ( am 21. November ) waren die amerikanischen Sänger Crosby, Stills & Nash in Berlin. Die Älteren unter uns kennen die Gruppe noch. Die drei trugen ein Lied vor, das sie zehn Jahre zuvor - auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung - im Madison Square Garden gesungen hatten, und dreißig Jahre zuvor in Woodstock. Hier in Berlin, vor dem Brandenburger Tor, sangen sie es noch einmal: You who are on the road, must have a code that you can live by..... , und der Refrain lautete: Teach your children well, their fatherŽs hell did slowly go by. Die chromatischen Verschiebungen transportierten dabei den Selbstzweifel des Lieds, ob derlei denn gelingen könne. Heute, im November 1999, verblasst die Erinnerung an die alte Hölle der Teilung, des Kalten Krieges, an die Angst vor dem nuklearen Showdown; doch als Land, als Generation, als übrig gebliebenes System haben wir uns bislang keinen neuen code to live by gegeben. Deutschland lebt im normativen Nebel. Es ist, als suche das Land nach einem neuen, prägenden, ernsten Leitmotiv oder Thema. Die sogenannte Legitimitätskrise des Spätkapitalismus war es wohl nicht, auch die Historikerdebatte nicht, und weder die Asyldiskussion noch die Rentenreform hatten diese Funktion. Der Versuch, aus Sloterdijks soziogenetischen Aphorismen auflagensteigende Funken zu schlagen, ist ebenfalls fehlgeschlagen. Woran liegt das? Die Stadt Bonn ist ja schwerlich dafür haftbar zu machen. Es gab vor einem Jahrzehnt keinen Gründungsakt, keine politisch nach vorn weisende Ausschüttung der Friedensrendite. Die von Helmut Schmidt seinerzeit geforderte große Rede des Kanzlers an die Nation, die zu Opfern, zu Selbstbescheidung und einer zeitgenössischen, praktischen Form von Patriotismus aufgefordert hätte, blieb aus. Mit Bonner Pragmatismus und stillschweigender Staatsverschuldung sollte es weitergehen. Die Forderung nach einer neuen Verfassung blieb auf eine schöne Veranstaltung in der Paulskirche beschränkt. Das alte AdenauerŽsche Versprechen, lange vor der Mauer gegeben, daß wir im Westen reich werden dürften, aber wenn wir wieder zusammen kämen, würden wir teilen, wurde wahr - allerdings in der Schrumpfform einer kieselkühlen Übertragung bewährter rechtlicher und ökonomischer Strukturen, finanziert weder durch Lastenausgleich, noch durch Steuern, sondern durch Kredite: eine dreifache Umverteilung, von West nach Ost, von Unten nach Oben, von den gegenwärtigen auf die kommende Generation. In der deutsch-deutschen Geschichte war nicht mehr viel Gemeinsames vorhanden für einen gleichberechtigten Gründungsakt. Die unteilbare Verantwortung für den Geschichtsbruch von 1933, den Grund der deutschen Teilung, war ausgelöscht von vierzig Jahren Systemkonkurrenz und kaltem Krieg. In diesen Jahren wurden zwei Vergangenheiten geboren, es gab zwei mal Goethe, Luther, Marx, Thomas Mann, zwei mal Brecht und vor allem: zwei Lesarten von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. So war denn auch die Thematisierung von Geschichte im letzten Jahrzehnt, so scheint es mir manchmal, über weite Strecken: Ersatz. Da wir in den Jahren der Wiedervereinigung keine Zukunftssymbole, keine Verfassung, kein großes Projekt außer blühenden Landschaften stifteten, suchten wir Vergewisserung in Vergangenheiten, die uns noch tragen könnten. Aber selbst in den Debatten um das Holocaust-Denkmal zeigte es sich: jeder trauert auf seine Weise, und viele wollen vergessen. Mit ein wenig historischer Gnade wird dennoch dieses Holocaust-Denkmal nicht nur die Erinnerung an den monströsesten Mord der Weltgeschichte wachhalten, sondern ein republikanisches Denkmal werden, ein symbolischer Drehpunkt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ein schmerzhaftes Gründungsdokument im Fundament unserer Demokratie, auf dem sie unsichtbar steht: Erst nach dem Zivilisationsbruch von Auschwitz haben wir, als Nation, eine liberale politische Kultur ausbilden können, die auf spärliche Traditionslinien der deutschen Politikgeschichte aufbauen konnte. Unser Weg in die Moderne führte durch den schlimmsten Exzeß des Ausschlusses hindurch. Die Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Nationen wurde - mit Hilfe der westlichen Alliierten - in Bonn bewältigt. Dabei lernten wir vor allem, daß Demokratie und Menschenrechte im Kern bedeuten, niemanden aus der politischen Gemeinschaft auszuschließen, jeden in seinem Anderssein zu achten. Die Würde des Menschen zu verstehen, heißt ihn als anderen zu achten und zu schützen. Das Zeitalter der politischen Religion lag endgültig hinter uns - mitsamt seinen schrillen Offenbarungswahrheiten von Rassenreinheit, Volksgemeinschaft, von Führerbefehl und Bürgergehorsam. Wenn denn die praktische Politik der Bonner Republik verzagt, bisweilen zu verzagt war, so war sie doch auch tolerant. Deutschland lernte, zuzuhören. Für meine Generation bleibt das die Staatsraison, der Code to live by, auch der Berliner Republik. Damit bin ich in der Gegenwart gelandet. In einer Gegenwart, in der sozialdemokratische Traditionalisten und wachstumsgewohnte Unternehmer immer noch auf eine Rückkehr der Vollbeschäftigungswirtschaft setzen - wenngleich aus unterschiedlichen, auf alle Fälle aber ehrenhaften Motiven - machen sich Zweifel am alten Glauben statistisch immer ärgerlicher bemerkbar. In einer Gegenwart, in der die jungen Vordenker der selbsternannten Generation Berlin mit frischen Realismus die globalisierungsbedingte neue Dreiklassengesellschaft skizzieren: oben eine welt-offene, mobile und veränderungslustige Elite, darunter eine Mitte, die sich abstrampeln muß, und unten eben jenen Bodensatz von Ausgeschlossenen, eine neue Unterschicht der Überforderten " ( Jan Ross ) , stellen sich in der Tat neue politische Gestaltungsaufgaben. Ihre Bewältigung setzt eine andere als die Bonner politische Kultur voraus: Die soziale Sprengkraft, die in solcher Diagnose steckt, kündigt den bisherigen Konsens auf, fordert zu intellektueller und gesellschaftspolitischer Kritik heraus und wird mit den alten Mitteln nicht zu bewältigen sein. Immerhin: Derlei kühle Zukunftsvisionen, in denen die Fürsorge für den Bodensatz wieder Barmherzigkeit genannt wird, haben den Vorteil, dass sie deutlicher sind als die immer noch schönen, aber von immer weniger Bürgern geglaubten Bekenntnisse zur Vollbeschäftigungsgesellschaft ( Allensbach: 75 Prozent glauben nicht mehr an Interessenidentität von Wirtschaft und Gesellschaft ) . Mein Eindruck ist: Aus Furcht, die Mutlosen noch mutloser zu machen, wollen wir gar nicht so genau untersuchen, ob in Zukunft zwangsläufig immer weniger Leute immer mehr produzieren werden, ob der digitale Kapitalismus, die beschleunigte Gesellschaft ( Glotz ) , immer mehr Menschen aus dem produktiven Kern der Gesellschaft ausgrenzen wird, und ob der Zweidrittelblock dieses produktiven Kerns immer weniger bereit sein wird, das unbenötigte Drittel zu integrieren, ihm gleiche Chancen zu finanzieren - jedenfalls nicht freiwillig. Das ist die innenpolitische Kernaufgabe der Berliner Republik: Die kleinen Separatismen, die Desolidarisierungen, die Austritte aus kollektiven Vereinbarungen ernstzunehmen und, wo möglich, gegenzuhalten. Der landesstolze Regionalismus der reicheren Regionen, die den Länderfinanzausgleich am liebsten aufkündigen wollen, reicht nicht aus, eine Republik zu machen. Und Generationen, die den Generationenvertrag kündigen, wollen in der Tat eine andere Republik. Doch ist sie wirklich zu haben mit immer mehr aus dem Wirtschaftsgeschen ausgegrenzten, mitgeschleppten, alimentierten Bürgern? Die Findungen der sächsischen Zukunftskommission unter der Leitung von Meinhard Miegel sahen eine Flucht des unteren Drittels in Alkoholismus, Vorstadtelend und politische Apathie voraus; oben führt die wachsende Distanz zwischen Problemen und Politik zu zynischem Individualismus sowie zur Wahlenthaltung. Bei den letzten Wahlen gestanden mir politisch aktive Menschen in meinem unmittelbaren Bekanntenkreis, zum ersten Mal in ihrem Leben das Nichtwählen gewählt zu haben. Die Politik waren ihnen zu kompliziert oder zu dumm geworden. Doch mit Musil gesprochen: Es ist ja nicht auszuschliessen, dass jenes etwas, das einem zu dumm ist - man selber ist. Peter Glotz beschwört in seinem Essay über den digitalen Kapitalismus für die nächsten Jahrzehnte den Kulturkampf zwischen Beschleunigern und Entschleunigern, technokratischen Innovationsheroen und wertkonservativen Ideologen der Ausgeschlossenen, die das Recht verteidigen, nicht unendlich flexibel, mobil und fungibel sein zu müssen. Bei aller Skepsis gegenüber solchen Versuchen, aus Randphänomenen wie den glücklichen Arbeitslosen schon einen Kultur- , gar neuen Klassenkampf hochzurechnen - ich bin überzeugt: Die Auseinandersetzung darüber muß geführt werden. Sozialpolitik muß nicht immer nur verändert, sondern vielmehr ganz neu interpretiert werden. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob wir uns nach der Entwicklung von Fortschritt und Demokratie in den letzten 200 Jahren wieder eine Art Römischer Republik vorstellen wollen, in der es Vollbürger und Ausgehaltene gibt. Wollen wir ein Europa, in dem die Völker weitgehend von der gestaltenden Mitwirkung ausgeschlossen bleiben? Wollen wir eine Welt, in der die reichen Völker einen neuen Limes um sich legen? Ob wir uns das vorstellen können oder nicht: Wir müssen uns auf neue Politisierungen der als Folge von Wohlstand und Globalisierung gleichsam Entpolitisierten, auf neue Verteilungsfragen im nationalen und internationalen Bereich einstellen. Das hat Johannes Gross vermutlich gemeint mit der Berliner Republik, die vor Politik nicht mehr ausweichen könne. Und diese Stadt zeichnet sich dadurch aus, dass alle die hier angerissenen Fragen als Problemfelder in unmittelbarer Anschauung zutage liegen. Die Berliner Republik ist nicht das Land der Stunde Null. Aber das 20. Jahrhundert ist in vielem abgeschlossen; es hat uns Probleme hinterlassen, für deren Bewältigung die alten politischen Handwerkszeuge nicht mehr hinlänglich taugen. Am Anfang der Berliner Republik stehen Fragen. Was bedeutet der Begriff der Republik am Ende des Nationalstaates? Wer gehört zu einer Republik, wenn die Menschenrechte universell gelten? Welche sozialen Bürgerrechte gelten noch in einer alternativlos kapitalistischen Welt, nach dem Ende der Vollbeschäftigungsgesellschaft, wenn Ungleichheiten aller Art wachsen? Wie sieht republikanische Öffentlichkeit aus, im Zeitalter von Brot und Spielen? Was mutet eine Republik ihren Bürgern und ihren Politikern zu im Zeitalter der Grenzen des Wachstums? Die Berliner Republik wird der Ort sein, an dem wir entscheiden, ob wir uns überhaupt noch solchen Fragen stellen wollen. Oder ob wirklich der Besitzindividualismus - lassen Sie es mich auf Deutsch sagen: ob die ungebrochene Wohlstandserwartung des verfestigten Zweidrittelblocks die Politik zum Erliegen zu bringen wird. Anders ausgedrückt: Ob der Westen, ob der Norden noch einen Code to live by hat. Der Ort, sich diesen Fragen offensiv zu nähern, ist nicht so schlecht. Berlin ist Haupstadt - und Metropole. Alle die Megaprobleme, die ich eben skizziert habe, sind in einer Metropole, ob sie nun Paris, London, New York oder Sao Paulo heißt, Lokalpolitik, Alltagsgeschehen. Jenseits aller deutschen Metropolenromantik, die sich im Feuilleton niederschlägt, müssen wir festhalten: Berlin liegt achtzig Kilometer von der polnischen Grenze;

in den Schulen unserer Metropole findet eine Globalisierung statt, von der die Arbeitsmärkte noch weit entfernt sind: 28 Kinder einer Klasse aus 6, 12, 16 Nationen erhalten hier ihre Grundausbildung in GrimmŽschen Märchen, türkischem Geschlechterverhältnis und amerikanischem Hip-Hop. ; wir haben Armutswanderungen zu erwarten, an denen gemessen die jetzige Asylproblematik noch harmlos ist; die Lage der Menschenrechte wird in unseren Metropolen zur Innenpolitik; in jedem U- oder S-Bahn-Zug können wir verfolgen, dass die Spaltung der Gesellschaft in Vollmitglieder und sozial Ausgeschlossene nicht nur vorübergehend zu sein scheint.

Metropolen zeigen all das. Doch fürchte ich, dass diese Verdichtung der Epochenprobleme auf ein paar Tausend Hektar eine sozial unterkühlte Politik unberührt lassen kann könnten. Dass die Probleme des 21. und die Institutionen des 19. Jahrhunderts berührungsfrei nebeneinander existieren könnten, wie auf den Gesellschaftsseiten der neuen Berliner Lokalteile: die Hauskonzert-bei-Schönbohms-Welt und die Schlingensief-Welt, und auf unseren Straße das Nebeneinander von einsickernder Dritter Welt und überforderten Aktenlesern hinter Blaulicht und getönten Scheiben. Wie in New York, in Sao Paulo, in Bangkok. Heimito von Doderer hat einmal das Grundübel unseres Jahrhunderts mit einem aparten Namen definiert: Aperzeptionsverweigerung, die Weigerung hinzusehen, aufzunehmen, sich der Wirklichkeit zu öffnen. Oder, in den Worten Stanley Kubricks, Eyes Wide Shut. Ich plädiere deshalb dafür, dass wir den Begriff der Republik noch einmal überprüfen, diese deutsche Tradition der tendenziellen Reduktion von Demokratie auf Rechtsstaat, die uns seit 1848 - und ich sage ausdrücklich: in den besseren Epochen unserer Geschichte - geprägt hat, deren schönster, aber ambivalenter Gewinn die Verrechtlichung sozialstaatlicher Ansprüche war, und die sich heute im Übergang größerer Teile unserer politischen Gestaltungskraft an die Verfassungsgerichte zeigt. Immer mehr wird, wenn nicht in Brüssel, so in Karlsruhe entschieden: die Medienordnung, die Familienpolitik, das Steuerrecht. Aber wenn schon im Parlament nicht mehr gestritten würde, dann würde auch im Land selber über wichtige Fragen nicht mehr gestritten: ob wir noch eine kommerz- und konzernfreie Sphäre der öffentlichen Meinung und der Kultur brauchen, und was wir sie uns kosten lassen; ob wir unter allen Lebensformen die des Singles am stärksten privilegieren wollen; ob wir Erben und Kapitaleigner aus der Republik der Steuerzahler entlassen wollen. Auch als Newcomer weiß ich um die vielen Steine, die die Sisyphosse der Parlamentsreform schon gerollt haben, doch wünschte ich mir, wir dächten noch einmal nach, wie wir neue Aufgaben und Ermächtigungen schaffen, dort, wo Politik zu verschwinden droht. Das betrifft das Wahlrecht im Bund, aber nicht nur. War es beispielsweise eine so gute Idee, in den vielen Schüben der Gebiets-und Funktionalreformen unseres Landes Tausende von kommunalen ehrenamtlichen Politikern frei zu setzen? Es mag ja billiger sein, den Staat in eine Dienstleistungszentrale zu verwandeln - mit republikanischem Fortschritt hat das wenig zu tun. Ich glaube außerdem, dass wir die Möglichkeit einer Berliner Republik verspielen, wenn wir uns einigeln gegen neue Realitäten. In Berlin fällt es schwer, blind zu sein. Doch auch hier ist, vielleicht etwas weniger als andernorts, die abnehmende Toleranz gegen Fremdheit, Armut, Andersartigkeit zu spüren; der zunehmende bitterernste Kampf um Status und Einkommen, auch und erneut zwischen Männern und Frauen; die abnehmende Neugier auf das, was man nicht kennt. In meinem Arbeitsgebiet kann ich diese Erscheinungen an der nachlassenden Nachfrage nach ausländischen Filmen ablesen. Bei der politischen Rhetorik erkenne ich es im ökonomischen Chauvinismus der reichen Regionen; in der Tourismusstatistik an der fehlenden Neugier auf den Osten Deutschlands oder auf Ost-Europa; in der politischen Publizistik und in den Wahlkämpfen wird es spürbar an dem Gewicht, das eine sogenannte Asylrechtsdebatte in der zweitreichsten Handelsnation der Welt einnimmt. Am schlimmsten und politisch folgenreichsten aber ist die Abwesenheit jeder Begeisterung für die Einheit Europas, die wir verspielen, wenn wir das ökonomische Gerüst nicht mit einer politischen und sozialen Verfassung füllen, wenn keine kulturelle, vielfältige Identität entstehen kann. Was kann man tun? Was kann ein Kulturminister einer Versammlung von Bankern - ich sage übrigens lieber, altmodisch, Bankiers - bieten? Einen Traum natürlich, und am besten einen Bankierstraum. Ein deutscher Dichter, Jahrgang 1959, hat ihn schon geträumt. Ein Garten im Norden heißt Michael Kleebergs Roman; seinem etwa gleichalten Helden widerfährt die Gnade, die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts umschreiben zu dürfen. In das leere Buch der Geschichte, das ihm ein Antiquar schenkt, schreibt er alles ein wenig gelungener auf, als es war. Er erdichtet die Geschichte eines liberalen Bankiers im Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist ein Sohn jüdischer Bauern aus dem Schwarzwald, der eine Banklehre in Berlin macht, in eine preußische Privatbank eintritt und sich zu einem hochgebildeten, weltoffenen, politisch aktiven Spekulationsgenie entwickelt wie nur Lord Keynes eines war. Aus Liebeskummer baut er mitten in Berlin, etwa dort, wo später Hitlers Bunker stand, auf vier Hektar, einen eleganten kleinen Park, einen geschützten Ort, hinter dessen Mauern die aufgeklärtesten Politiker, Wissenschaftler und Künstler der zwanziger Jahre sich begegnen, Romain Rolland, Thomas Eliot, Max Planck, Albert Einstein, Thomas Mann. Hier wird das Treffen von Stresemann und Briand vorbereitet, hier wagt ein Privatdozent namens Heidegger in luzider, französisch-leichter Prosa radikaldemokratische Visionen, hier lernen sich junge Menschen aus aller Herren Länder, mit prinzlichen Stipendien ausgestattet, als Kern einer künftigen, globalen, aufgeklärten, demütigen Elite kennen und werden für die kommende Weltrepublik ausgebildet. Kleebergs Held landet nach 600 Seiten umgeträumten zwanzigsten Jahrhunderts in der Wirklichkeit von heute: Treuhand, Spekulation, Grabenkampf. Märchen ist im Spiel, und so erbt er das Gelände neben dem Brandenburger Tor, den von Geschichte und Emissionen verseuchten Garten im Norden. Vorerst, so endet der dicke Roman, gibt es noch zu viele lose Enden, um einen Punkt unter diese Geschichte zu setzen. Aber natürlich würde ich gern versuchen, den Garten Kleins neu zu erbauen, mitten in Berlin, mitten in Deutschland. Ja, alles bleibt noch zu tun. Alles bleibt noch zu tun. Wir sind so frei, am Ende dieses Jahrhunderts eine neue Geschichte beginnen zu lassen, mit dem Blick nach vorn, nicht länger von alter Schuld, sondern von neuer Gestaltungslust getrieben. Wir könnten unser Selbstgespräch beginnen, über den Code to live by, über die Frage, wie wir die europäische Republik, den europäischen Sozialstaat, die Spannung von Kunst und Welt in den Digitalen Kapitalismus hineinretten. Ich glaube, das wird nicht, wie es naßforsch die jungen Ideologen der selbsternannten Generation Berlin verkünden, mit weniger Staat gehen, mit dem einzigen Leitbild des unternehmerischen Einzelnen, mit transzendentaler Nüchternheit, die keine Position außerhalb des Spiels von Macht, Wissen und Geld vorsieht? ( Bude ) . Ich halte es lieber mit einem, den ich gern zum geistigen Paten dieser Berliner Republik machen würde: weil er die Einheit von Geist und Industrie und republikanischer Politik verkörpert hat, - weil er verstanden hatte, was das ist: Reichtum der Nationen, öffentlicher Wohlstand. Er schrieb der ersten Berliner Republik, die später Weimarer Republik genannt wurde, Sätze wie diese in die Gründungsurkunde: Eines wird unsern kleinbürgerlichen Parlamenten wohltun, die... teils aus beruflicher Enge, teils aus Furcht vor dem Wähler den Staat als ein Geschäft mit beschränkter Haftung und beschränkten Mitteln verwalten möchten: die Lehre vom großen Einmaleins. Mögen die Mittel des Einzelnen sich schmälern und den Taler zur Mark umschmelzen; umso mehr muß als Rechnungseinheit des Staates an die Stelle der Million die Milliarde treten. Nur dann wird ( unser Gemeinwesen ) neue Kraft gewinnen, wenn wir uns entschließen, dem Gemeinwohl weitherziger zu dienen in den Zeiten der Beschränkung als ehedem im Überflusse. ( ... ) Wirtschaft ist nicht Privatsache, sondern Gemeinschaftssache, nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Absoluten, nicht Anspruch, sondern Verantwortung. ( ... ) Wir haben keinen Grund, nach dem Eisenbartrezept des Sozialismus polizeilichen Bürokratismus an die Stelle des Wettkampfes zu setzen; doch von neuem sehen wir uns zu einer Reformation gewiesen, die ein neues Reich sozialer Freiheit auf der Grundlage gerechteren Verbrauchsanspruchs, gleichmäßigerer Besitzverteilung und kräftigeren Staatswohlstandes erbaut. Walter Rathenau, ein Plutokrat ( sein Wort ) , der vor 77 Jahren von Rechtsradikalen in einer Kurve im Grunewald erschossen wurde, schrieb diese Sätze am Anfang eines Jahrhundert, dessen Probleme, dessen Katastrophen, dessen Höllen auch aus Kämpfen um Gerechtigkeit und Exzessen des Ausschlusses erwuchsen. Haben wir eigentlich einen Grund zu der Annahme, dass das nächste Jahrhundert, dass die Berliner Republik andere, leichtere Probleme haben wird?