Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 22.11.1999

Anrede: Sehr verehrter Herr Nuntius, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/41/11741/multi.htm


Eine Politik der Solidarität und Verantwortung

es ist mir eine außerordentliche Freude, Sie erstmals hier in Berlin zum traditionellen Jahresempfang für das Diplomatische Korps zu begrüßen.

Viele von Ihnen haben bereits gemeinsam mit dem Bundestag und der Bundesregierung den Umzug nach Berlin bewältigt. Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl. Diese Stadt mit ihren vielfältigen internationalen Kontakten und ihrem reichen kulturellen Angebot steht für die Offenheit Deutschlands und für seine Orientierung auf Partnerschaft in Europa und der Welt. Hier in Berlin werden wir gemeinsam die ersten Schritte ins neue Jahrtausend tun. Ich wünsche Ihnen und uns allen eine gute Zusammenarbeit in dieser dynamischen europäischen Metropole.

Sie alle wissen, dass die Bundesregierung ein großes Reformprogramm in Angriff genommen hat, um die Zukunft unseres Landes zu sichern. Dazu gehört in einem ersten Schritt auch die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Sie betrifft alle Politikbereiche. Und jedes Ressort mußte seine Beiträge zu den jetzt im Bundestag beschlossenen Einsparungen erbringen. Nur wenn es uns gelingt, die Schuldenspirale zu stoppen, werden wir für die Politik und damit für das Gemeinwesen jene Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, um auch in Zukunft sozialen Schutz garantieren und Beschäftigung organisieren zu können.

Die Bundesrepublik Deutschland hat in diesem Jahr ihr 50jähriges Bestehen gefeiert. In diesen 50 Jahren konnten wir - mit der Hilfe unserer Partner - ein demokratisches Staatswesen aufbauen, auf das wir stolz sind. Die Geschichte dieser 50 Jahre ist zugleich die Geschichte der Aussöhnung mit unseren Nachbarn. Zunächst im Westen, wo sie einherging mit einer Politik der Integration im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und der Atlantischen Allianz. Es folgte die Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn im Rahmen der von Willy Brandt eingeleiteten Ostpolitik. Zusammen mit dem KSZE-Prozess wies sie den Weg zu einem neuen Miteinander in Europa über die Grenzen der damaligen Blöcke hinweg.

Die Krönung dieses Weges war der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Die Menschen, die die Mauer von Osten her eingedrückt haben, haben mit ihrem Mut und ihrer Zivilcourage den Weg geöffnet zur Vereinigung Deutschlands. Der Fall der Mauer steht aber auch symbolisch für den Durchbruch zu einem geeinten Europa. Er wäre nicht möglich gewesen ohne die Bürgerbewegungen in Mittel- und Osteuropa. Die deutsche Einheit ist nicht zuletzt deswegen ein besonderes Glück, weil wir sie gemeinsam mit unseren Nachbarn in Ost und West erreicht haben.

Wir Deutschen sind dankbar für die Hilfe und Solidarität, die wir in den vergangenen Jahrzehnten von vielen anderen Nationen empfangen haben. Auch deswegen ist unsere Außenpolitik eine Politik der Solidarität zwischen den Völkern und der gemeinsamen Verantwortung für eine friedliche Welt.

Deutsche Außenpolitik ist in erster Linie eine Politik in und für Europa. Unsere Arbeit an der europäischen Einigung wirkt aber über die Grenzen Europas hinaus.

In diesem Jahr, das uns mit der Präsidentschaft in der EU und der G 8 besondere Verantwortung zuwies, ist es uns gelungen, die europäische Einigung auf wichtigen Gebieten voranzubringen.

Seit Beginn des Jahres haben wir eine gemeinsame europäische Währung. Der Euro hat die Integration in Europa spürbar verstärkt.

Vor uns steht nun die große Aufgabe der Erweiterung der Europäischen Union. Mit den Berliner Beschlüssen zur Agenda 2000 haben wir die EU in finanzieller Hinsicht erweiterungsfähig gemacht. Und auf dem Kölner Gipfel im Juni haben wir den Fahrplan für die neue Regierungskonferenz zu institutionellen Fragen festgelegt.

Nach Binnenmarkt und Währungsunion hat die Europäische Union außerdem zwei weitere Integrationsprojekte in Angriff genommen: in Köln die Bildung einer Sicherheits- und Verteidigungsunion. Mit ihr wollen wir Europa international handlungsfähig machen und in die Lage versetzen, Krisen besser zu bewältigen. In Tampere, erst kürzlich, haben wir im Europäischen Rat beschlossen, die Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik bis 2004 zu einem Raum der Sicherheit und des Rechts zu verdichten.

Für den Erfolg der großen Integrationsvorhaben bleibt das gemeinsame Engagement von Deutschland und Frankreich weiterhin unentbehrlich. Deshalb freue ich mich, dass es gelungen ist, der deutsch-französischen Partnerschaft neuen Schwung zu geben.

Die Fortschritte bei der europäischen Einigung gingen einher mit der Anpassung der Atlantischen Allianz an das veränderte geopolitische Umfeld. Das Bündnis, das die Sicherheit Europas und Nordamerikas auf die Dauer miteinander verknüpft, bleibt der Grundpfeiler unserer kollektiven Verteidigung. Die Beschlüsse des Gipfels von Washington haben die Allianz gestärkt. Mit großer Freude haben wir Polen, die Tschechische Republik und Ungarn als neue Mitglieder aufgenommen. Die Tür bleibt offen für weitere Beitrittskandidaten.

Gemeinsam mit allen europäischen Staaten und in Partnerschaft mit den USA und Kanada wollen wir eine stabile Sicherheitsarchitektur für ganz Europa schaffen. Vor wenigen Tagen, beim Gipfeltreffen der OSZE, haben wir die Charta für Europäische Sicherheit unterzeichnet.

Sie wird allerdings ihre sicherheits- und stabilitätsstiftende Wirkung nur dann voll entfalten können, wenn die OSZE-Prinzipien von allen Mitgliedstaaten gleichermaßen als verbindlich anerkannt werden. Wir machen uns Sorge, dass das Verhalten Russlands in Tschetschenien diese Prinzipien untergräbt. Wir haben zwar Verständnis für die Notwendigkeit, zielgerichtet Terroristen zu bekämpfen. Der Krieg gegen ein ganzes Volk und unterschiedslose Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind dazu aber kein zulässiges Mittel. Russland muß sie umgehend einstellen und Ansätze für eine tragfähige politische Lösung finden.

Über die euroatlantischen Strukturen hinaus wollen wir unsere Beziehungen zu den Staaten Asiens, Lateinamerikas und Afrikas ausbauen. Es ist ermutigend zu beobachten, wie auch bei vielen Partnern in Übersee die regionale Zusammenarbeit mit Nachbarn und Gleichgesinnten wächst. Durch zunehmende Integration stärken sie ihre internationale Stellung und gewinnen für uns und Europa insgesamt als Partner an Gewicht.

Das erste Gipfeltreffen der EU mit den Staaten Lateinamerikas im Juni in Rio de Janeiro hat uns die gemeinsamen Interessen erneut bewusst gemacht und zahlreiche Ansätze für die künftige Zusammenarbeit aufgezeigt. Einen ähnlichen Erfolg wünsche ich mir auch für das erste Gipfeltreffen der EU mit den Staaten Afrikas. Die bewährte Tradition der Treffen von Staats- und Regierungschefs aus Asien mit denen der EU wird im nächsten Jahr in Korea fortgesetzt.

Wir sind froh darüber, dass es im Nahen Osten gelungen ist, den Friedensprozess aus seiner bisherigen Stagnation zu befreien. Wir haben das uns Mögliche getan, um den friedlichen Interessenausgleich zwischen Israel und den Palästinensern voranzubringen. Dies werden wir auch weiter tun.

Solidarität und Verantwortung als Leitwerte unserer Außenpolitik bestimmen auch unser Herangehen an die großen Herausforderungen dieser Zeit.

Auch am Ende dieses Jahrhunderts sind in Europa übersteigerter Nationalismus, Vertreibung und damit Versuche noch nicht überwunden, ethnisch definierte Nationalstaaten zu errichten.

Die Krise im Kosovo war dafür ein eklatantes Beispiel. Hätte Europa tatenlos dem Morden und den Vertreibungen zugesehen, dann hätte es nicht nur das albanische Volk im Kosovo, es hätte sich selbst und seine Grundsätze verraten. Gemeinsam mit unseren Verbündeten mussten wir handeln, zur Verteidigung der Menschenrechte und zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe.

Heute geht es darum, in Bosnien und im Kosovo die Rahmenbedingungen für das friedliche Zusammenleben multiethnischer Gesellschaften zu schaffen - so schwierig dies oft auch erscheinen mag. Die internationale Gemeinschaft wird dort über einen längeren Zeitraum engagiert bleiben müssen. Der Stabilitätspakt für Südosteuropa wird für die gesamte Region mit seiner europäischen Perspektive Strukturen für eine andere, friedliche Zukunft schaffen.

Der Kosovokonflikt hat auch gezeigt, dass das Prinzip der staatlichen Souveränität nicht mehr als Feigenblatt für Unterdrückung und Unmenschlichkeit missbraucht werden kann. Das Nichteinmischungsgerbot hat dort seine Grenze, wo fundamentale Menschenrechte systematisch verletzt werden.

Die Vereinten Nationen haben hier eine Wächterrolle, die immer wichtiger wird. Die Erfahrungen des Kosovokonflikts zeigen, dass es notwendig ist, die Weltorganisation zu stärken und zu reformieren. Deutschland wird daran aktiv mitwirken. Die besondere Rolle und Autorität der Vereinten Nationen bei der Erhaltung der internationalen Sicherheit und des Friedens kann von keiner anderen internationalen Organisation ersetzt werden. Dies zeigt sich auch jetzt wieder in Osttimor, wo wir die Vereinten Nationen mit einem substantiellen Engagement unterstützen.

Auch in der multipolaren Welt nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts dürfen die Anstrengungen der Staatengemeinschaft auf dem Gebiet von Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht nachlassen.

Mit der Unterzeichnung des neu gefassten KSE-Vertrags im Rahmen des OSZE-Gipfels in Istanbul haben wir im konventionellen Bereich Sicherheit und Stabilität in Europa stärken können.

Der Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und für nukleare Abrüstung bleibt eine große und dringende Aufgabe. Die Bundesregierung tritt nachdrücklich für das Ziel ein, eine Welt zu schaffen, die frei ist von der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen. Der Nichtverbreitungsvertrag und das nukleare Teststoppabkommen bieten hierfür den Rahmen, der von allen Staaten genutzt werden sollte.

Die Erde zählt seit kurzem sechs Milliarden Bewohner. Die Zahl der absolut Armen ist auf über 1,2 Milliarden Menschen gewachsen. Hier ist die Solidarität der Industriestaaten gefordert. Im Kreis der G 8 haben wir uns dieser Herausforderung gestellt. Auf dem Kölner Weltwirtschaftsgipfel haben wir eine neue Schuldeninitiative beschlossen, die hochverschuldete arme Entwicklungsländer in einem bislang nicht gekannten Ausmaß entlastet. Dadurch werden Mittel frei für die Bekämpfung von Armut und für Zukunftsinvestitionen. Investitionen in Bildung und Gesundheit und in die Stärkung der Rolle der Frauen sind der Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung.

Die bevorstehende Jahrtausendwende ist eigentlich ein kalendarisches Ereignis, das ja auch nicht alle Kulturen mit ihren unterschiedlichen Zeitrechnungen betrifft. Dennoch hat es einen Sinn, sie als Anlass zu begreifen, intensiver über unsere Verantwortung für die Zukunft nachzudenken.

Zwei herausragende Ereignisse fordern uns im kommenden Jahr dazu besonders auf:

Die Vereinten Nationen werden bei ihrem Millenniumsgipfel Bilanz ziehen, aber auch neue Vorschläge erarbeiten für die Rolle der Weltorganisation im 21. Jahrhundert. Ich werde daran teilnehmen.

Zu einer anderen Auftaktveranstaltung des neuen Jahrtausends laden wir nach Deutschland ein: zur Weltausstellung 2000 in Hannover. Ich wünsche mir, dass die Expo zu einem Forum für eine Diskussion zwischen Menschen aus aller Welt wird über das Verhältnis von Mensch, Natur und Technik.

Für Ihre wichtige Arbeit im Dienste der Beziehungen zwischen unseren Ländern im zurückliegenden Jahr danke ich Ihnen herzlich. Ihnen persönlich und Ihren Familien gelten am Ende dieses Jahres meine guten Wünsche.

Die Diplomatie wird als Moderatorin der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in der Staatenwelt auch in Zukunft eine ganz zentrale Rolle spielen.

Ihre Länder werden in Deutschland einen solidarischen Partner bei der gemeinsamen Arbeit für ein Jahrhundert des Friedens und der Freiheit haben.