Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 22.11.1999

Anrede: Sehr geehrter Herr Staudt, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/43/11743/multi.htm


Deutschland befindet sich auf dem Weg vom Industrie- ins Informationszeitalter.

Der Siegeszug der Informations- und Kommunikationstechnik ist unaufhaltsam.

Deutschland hat hervorragende Ausgangsvoraussetzungen, diesen Übergang erfolgreich zu gestalten.

Aber wir müssen noch besser werden. Und zwar vor allem in der Anwendung der Informations- und Kommunikationstechnologie. Entscheidend dafür ist es, die Kräfte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu bündeln.

Denn unser Anspruch ist es, dass Deutschland auch im Informationszeitalter einen Spitzenplatz einnimmt.

Mit diesem Ziel hat die Bundesregierung das Aktionsprogramm "Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts" beschlossen.

Mit diesem breit angelegten Programm will die Bundesregierung ressortübergreifend und zielorientiert die Wachstums- und Arbeitsplatzchancen, die das Informationszeitalter bietet, nutzen.

Die Initiative "Deutschland 21" unterstützt und ergänzt dieses Aktions-programm in guter Weise.

Ich unterstütze daher mit Nachdruck die von über 70 Unternehmen gebildete Initiative und habe gerne den Vorsitz im Beirat übernommen.

Ausdrücklich begrüße ich, dass die Unternehmen der Informationsgesellschaft sich unter dem Dach des vor einigen Wochen gegründeten Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien ( BITKOM ) zusammengefunden haben.

Damit ist die Informationswirtschaft nunmehr deutlich sichtbar als fünfte große Wirtschaftsbranche neben Auto, Maschinenbau, Elektrotechnik und Chemie etabliert.

Die Informationswirtschaft ist der Sektor mit der stärksten Beschäftigungsdynamik in unserer Volkswirtschaft.

Allein in den vergangenen drei Jahren sind hier 100.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden.

Inzwischen sind 1,7 Millionen Menschen in Deutschland in den Unternehmen der Informationstechnik, der Telekommunikation und der Medien beschäftigt.

Sie erwirtschaften einen Umsatz, der den auf dem deutschen Automobilmarkt in diesem Jahr voraussichtlich erstmals übertreffen wird.

All dies sind beeindruckende Zahlen - und dennoch stehen wir immer noch am Anfang der Entwicklung hin zur Informations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts.

So wird Schätzungen zufolge der Umsatz im elektronischen Handel in Deutschland von 2,6 Milliarden DM in 1998 auf 94 Milliarden DM im Jahr 2002 anwachsen.

Diese Dynamik, die beispielhaft für die Entwicklungs-Potenziale der Informationswirtschaft insgesamt steht, eröffnet zugleich die Chance für zusätzliche Arbeitsplätze.

Untersuchungen erwarten - wenn wir die Weichen richtig stellen - allein in der Multimedia-Branche einen Beschäftigungsschub in der Größenordnung von bis zu 350.000 zusätzlichen Stellen bis zum Jahr 2002. Die Bundesregierung ist fest entschlossen, mit ihrem Aktionsprogramm dieses Beschäftigungs-Potenzial umfassend auszuschöpfen.

Wir wollen und werden die dafür notwendige weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Informationsgesellschaft in Angriff nehmen.

Dabei können wir auf ein solides Fundament aufbauen:

Deutschland verfügt über eine ausgezeichnet ausgebaute Telekommunikations-Infrastruktur.

Bei den ISDN-Anschlüssen nimmt Deutschland weltweit eine Spitzenstellung ein.

Wir haben in den letzten Jahren als erstes europäisches Land die rechtlichen Weichen dafür gestellt, dass sich die neuen Informations- und Kommunikationsdienste voll entfalten können. Diese Beispiele zeigen, dass wir beim Aufbau der materiellen und rechtlichen Infrastruktur für die Informationsgesellschaft gut vorangekommen sind.

Wir müssen jedoch zur Kenntnis nehmen, dass wir bei der Anwendung der neuen Medien im internationalen Vergleich zu den Nachzüglern zählen.

So ist, gemessen an der Bevölkerung, die Zahl der Internet-Anschlüsse in den USA dreimal so hoch wie in Deutschland.

Spiegelbildlich dazu ist die volkswirtschaftliche Bedeutung der Informations- und Kommunikationsbranche dort deutlich höher.

Während sie in den USA 1998 7,6 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beitrug, waren es in Deutschland gerade 4,5 Prozent.

Ich nenne ein weiteres Beispiel: In den Niederlanden, Schweden, Dänemark und Norwegen sind 9 Prozent der Beschäftigten im Bereich Informations- und Kommunikationstechnik tätig, bei uns aber nur 5 Prozent.

Das gemeinsame Ziel aller Verantwortlichen muss sein, diesen Abstand im Vergleich zu anderen Ländern so rasch wie möglich zu verringern.

Wir haben die Chance, beim Zusammenwachsen von Telekommunikation, Datenverarbeitung und Medien wieder eine Vorreiterrolle zu übernehmen.

Eine vorrangige Aufgabe ist es dabei, die Menschen für den Umgang mit den neuen Angeboten der Informationsgesellschaft zu qualifizieren.

Dies hat ganz unmittelbar etwas mit der Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten zu tun.

Die Zahl der derzeit nicht besetzbaren Arbeitsplätze in der Informationswirtschaft wird auf rund 75.000 beziffert.

Diese Beschäftigungs-Lücke muss möglichst rasch geschlossen werden.

Die Partner des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit haben sich deshalb beim Spitzengespräch im Juli 1999 auf eine mehrjährige Offensive zum Abbau des Fachkräfte-Mangels in den Informations- und Kommunikationsberufen verständigt.

Dazu gehört unter anderem die Selbstverpflichtung, binnen drei Jahren die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze in diesen Berufen von derzeit 14.000 auf 40.000 zu steigern.

Darüber hinaus wird die Bundesanstalt für Arbeit die Kapazität ihres Weiterbildungs-Angebots in diesem Bereich deutlich aufstocken.

Bei diesen kurzfristig angelegten Maßnahmen dürfen - und werden - wir es jedoch nicht bewenden lassen.

Worauf es ankommt, ist langfristig die Voraussetzungen zu schaffen für mehr Beschäftigung in diesem Bereich.

Ein wichtiger Schwerpunkt unseres Aktionsprogramms ist es deshalb, Kinder und Jugendliche in vernünftiger Weise frühzeitig an die Möglichkeiten der Kommunikations- und Informationstechnik heranzuführen.

Für Jugendliche muß das Erlernen des Umgangs mit dieser neuen Technik so selbstverständlich werden wie für uns früher der Erwerb des Führerscheins.

Derzeit ist erst annähernd jede dritte Schule in Deutschland mit Computern und Internetzugang ausgestattet.

Unser Ziel ist es, bis zum Jahr 2001 allen Schulen den Zugang zum Internet zu eröffnen. Jeder Schülerin und jedem Schüler wird dann die Nutzung von Computern möglich sein. Daneben fördert die Bundesregierung mit Nachdruck die Entwicklung von neuen Lehrprogrammen für die Schulen.

Sie, meine Damen und Herren, können hier ganz praktische Hilfe leisten.

Vor gut zwei Wochen hat die Bundesregierung den Startschuss für die Computerbörse für Schulen gegeben. Ich rufe Sie dazu auf, diese Initiative engagiert zu unterstützen.

Darüber hinaus gibt es eine Fülle von weiteren Aufgaben, denen wir uns mit Nachdruck zuwenden müssen:

Wir brauchen neue Angebote für ein lebenslanges Lernen, damit Menschen jeden Alters Zugang erhalten in die Informationsgesellschaft.

Wir müssen - und dies ist natürlich vorrangig eine Aufgabe der Politik - die rechtlichen Rahmenbedingungen weiter verbessern, um das Vertrauen von Anbietern und Nutzern neuer Medien - zum Beispiel beim elektronischen Handel - zu stärken.

Und wir sollten uns auch darüber Gedanken machen, wie wir die "Informations-Kompetenz" der Menschen stärken, ihre Fähigkeit, in der globalen Informationsflut sich zurecht zu finden. Dies wird immer mehr zu einer Schlüsselqualifikation im Informationszeitalter.

Aber neben dem Staat ist auch die Wirtschaft selbst besonders gefordert.

Ich habe zum Beispiel den Eindruck, dass in der Frage der Benutzerfreundlichkeit von Geräten und Anwenderprogrammen noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Diese und viele weitere Fragen sind Gegenstand von Arbeitsgruppen, die wir im Rahmen der Initiative "Deutschland 21" eingerichtet haben.

Erste Zwischenergebnisse sind - wie mir berichtet wurde - erzielt worden. Dies kann aber natürlich nur ein Auftakt sein. Weitere Schritte müssen folgen.

Ich habe deshalb Staatsminister Hans Martin Bury gebeten, sich zusammen mit den zuständigen Ressorts der Bundesregierung intensiv um den Fortgang von "Deutschland 21" zu kümmern.

Wir denken auch daran, in der Bundesregierung die Position eines "Gründungsbeauftragten" zu schaffen, der sich intensiv um die Förderung von Unternehmensgründungen kümmern soll.

Eine wichtige Aufgabe für uns alle wird es sein, die Menschen in unserem Land von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Übergang in das Informationszeitalter voranzutreiben.

Der Begriff Informationszeitalter löst bei vielen Menschen zwiespältige Gefühle aus.

Sie wissen, dass Innovationen - zumal in der Zukunftsbranche der Informations- und Kommunikations-Technologien - der Schlüssel sind für den Erfolg deutscher Produkte und Dienstleistungen auf den Weltmärkten.

Innovationen, die verbunden sind mit Investitionen, mit Wachstumschancen, mit neuen Arbeitsplätzen und zukünftigem Wohlstand.

Ebenso lernen immer mehr Menschen die Annehmlichkeiten der neuen Medien kennen.

Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Etwa über das Internet bei der Planung der nächsten Urlaubsreise Preise und Leistungen direkt vom Wohnzimmer aus zu vergleichen.

Zugleich aber beobachten viele Menschen den Weg in die neue Informationswelt auch mit einer gehörigen Portion Skepsis.

Sie sorgen sich

um ihren Arbeitsplatz,

um ihr Fortkommen im erlernten Beruf,

um die Zukunft ihrer sozialen Bindungen. Diesen Zwiespalt, der häufig mehr ein Zwiespalt der Gefühle denn des Wissens ist, gilt es offen anzusprechen.

Wir brauchen eine aufklärende, geduldige und behutsame Diskussion über alle mit dem Weg ins Informationszeitalter verbundenen Aspekte in unserer Gesellschaft.

Dabei geht es nicht um das Für und Wider der neuen Informations- und Kommunikations-Technologien.

Ich plädiere für eine Diskussion, in der wir das Bewusstsein der Menschen für die Chancen dieser Entwicklung schärfen.

Und ihnen zugleich Wege aufzuzeigen, wie sie an dieser Entwicklung teilhaben und das Beste für sich daraus machen können.

Für diese Diskussion werbe ich um Mitstreiter in allen Bereichen unserer Gesellschaft - in Wirtschaft und Gewerkschaften, in Politik und Wissenschaft.

Auch deshalb bin ich gerne zu der heutigen Veranstaltung von "Deutschland 21" gekommen.

Ich setze auf Ihr Engagement beim Aufbruch ins Informationszeitalter.

Gemeinsam werden wir die Chancen dieser Entwicklung für unser Land nutzen.