Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 02.11.2003
Untertitel: Festansprache von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des 15-jährigen Jubiläums der Rudolf-Pichlmayr-Stiftung am 2. November 2003 in Hannover
Anrede: Sehr geehrte Frau Professor Pichlmayr! Lieber Herr Professor Nagel! Herr Puhlmann! Herr Dr. Albrecht! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/92/557292/multi.htm
Liebe Kinder!
Ich bin gerne gekommen, weil wir ein großartiges Jubiläum feiern, nämlich das 15-jährige Jubiläum der Rudolf-Pichlmayr-Stiftung und zugleich das 10-jährige Jubiläum der Klinik Ederhof, die ja im Zentrum der Stiftung steht, und das aus guten Gründen.
Was soll ich nach der sehr sensiblen und umfangreichen Darstellung, die Herr Professor Nagel über den Ederhof gegeben hat, noch hinzufügen? - Ich möchte einige persönliche Bemerkungen machen. Ich habe - wie viele hier - Professor Pichlmayr gekannt, natürlich nicht so gut wie Sie, verehrte liebe Frau Pichlmayr, und seine zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Schüler, bei denen man, wenn man heute mit ihnen spricht, immer noch und immer wieder ein großes Maß an wirklicher Verehrung feststellen kann, und zwar Verehrung nicht nur für den großen Arzt und Lehrer Rudolf Pichlmayr, sondern auch für einen sehr sensiblen und sozial denkenden Menschen. Insofern entspricht es auch meiner Erfahrung aus nicht sehr vielen Begegnungen, dass im Zentrum der Gesundung natürlich die Medizin steht, aber soziale Bezüge, die aufgebaut werden können und müssen, nicht unwesentlich und vielleicht sogar wesentlicher sind, als viele von uns glauben.
Professor Pichlmayr hat etwa 30 Jahre lang in Hannover gewirkt. Die Medizinische Hochschule Hannover hat zwar nicht allein, aber auch durch die Arbeit von Herrn Professor Pichlmayr einen international beachteten Ruf erworben. Einen Ruf, den diejenigen, die das heute tun, in seinem Geist fortführen.
Rudolf Pichlmayr war gewiss ein Pionier. Er war ein Meister in der Transplantationsmedizin in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland, sondern er hat sich auch international höchstes Ansehen erworben. Mit der Art und Weise, mit der er sich für diese Stiftung und insbesondere für den Ederhof eingesetzt hat, hat er etwas getan, was weit über seine ärztliche Kompetenz und seine Leistungen hinausreicht. Mehr als 1.300 Kinder haben dank der Stiftung die Chance erhalten, nach einer schweren Krankheit und einer ebenso schweren Transplantation in den Alltag zurückfinden zu können. Sie haben wunderbar über die Unbeschwertheit und die Sorgenfreiheit gesprochen. Das kann ich mir gut vorstellen; allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass das Gleiche die nächsten Angehörigen erleben, denn diese werden sicherlich immer in großer Sorge sein. Für die betroffenen Kinder wird es enorm wichtig sein, wenn nach Leid und Schwierigkeiten Stunden, Tage, Wochen, Monate der Unbeschwertheit, wie Sie es bezeichnet haben, möglich sind. Institutionen wie der Ederhof sind wichtig, weil nach solchen schweren Eingriffen Betreuung, Pflege und vor allem Zuwendung, damit das Erlebte verarbeitet werden kann, nötig sind, um mit dem neu begonnenen Leben unter den Bedingungen, unter denen es im Anfang nur schwer, später hoffentlich leichter möglich ist, wirklich zurecht zu kommen.
Jeder von uns, der das Glück hat, mit Kindern aufzuwachsen, kann sich vorstellen, wie schwierig die Zeit für Eltern ist. In einer solchen Zeit hilft es sehr, wenn es eine Möglichkeit der Begegnung auch zwischen den unmittelbar Betroffenen und den Eltern in einer solchen Institution gibt. Hier hilft die Arbeit der Stiftung in der Nachsorgeklinik Ederhof in Österreich, die in Europa einzigartig ist. Sie hilft damit den betroffenen Kindern, aber auch den Eltern.
Meine Damen und Herren, die Transplantationsmedizin und die Lebendorganspende stehen im Focus einer ethischen Debatte in unserer Gesellschaft. Ein Teil davon ist natürlich die politische Auseinandersetzung. Die Enquete-Kommission im Deutschen Bundestag "Ethik und Recht der modernen Medizin" hat sich ebenso wie der von mir berufene Nationale Ethikrat damit intensiv auseinandergesetzt. Die Idee der Uneigennützigkeit in der Organspende ist und bleibt das entscheidende Prinzip. Bei der sicherlich wichtigen und notwendigen ethischen Debatte darf man aber eines nicht verdrängen - das gilt auch für andere Debatten über Ethik und Medizin - , nämlich dass es im Kern darum geht, kranken Menschen, Kindern wie Erwachsenen, eine Perspektive auf ein Leben in Würde zu geben. Mehr als 10.000 Patienten warten in Deutschland auf eine Organspende. Auf eine Niere muss ein Kind durchschnittlich fast 2 Jahre, ein Erwachsener 5 Jahre warten. Das zeigt, meine Damen und Herren: Es wird auch in Zukunft wichtig sein, Menschen zum Nachdenken über Organspende anzuregen und sie davon zu überzeugen. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung sind grundsätzlich damit einverstanden, dass man ihnen nach ihrem Tod ein Organ entnimmt, aber nur 11 Prozent haben einen Spendeausweis. Das ist eine Kluft, an der wir, um sie schließen zu können, arbeiten müssen. Nur eine öffentliche Auseinandersetzung mit diesem sensiblen Thema kann dafür sorgen, dass jeder für sich die richtige Entscheidung trifft.
Hierbei haben Schulen eine besondere Aufgabe, damit sich auch junge Menschen mit diesem Thema auseinandersetzen können. Jugendliche haben ja bereits ab dem 16. Lebensjahr die Möglichkeit, sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden. Ich finde, ein solches Thema kann ruhig in einem Unterricht, der mit ethischen Fragen zu tun hat, behandelt werden.
Meine Damen und Herren, die Arbeit der Rudolf-Pichlmayr-Stiftung verdient nicht nur Respekt und Dank, sondern vor allem auch Unterstützung wie andere Stiftungen auch. Das, was diese Stiftung tut, ist gesellschaftliches Engagement von Bürgerinnen und Bürger, ein Engagement, das der Staat beim besten Willen nicht ersetzen kann. Wenn ich das sage, möchte ich mich nicht herausreden aus der Diskussion über das, was Professor Nagel gesagt hat und ich nicht wusste: Rehabilitation bezogen auf Kinder ist unterentwickelt. Der Begriff "Rehabilitation" stammt zwar aus der Arbeitswelt, das heißt aber nicht, dass er dort bleiben muss. In der gesundheitspolitischen Diskussion kann das eine wichtige Rolle spielen. Aber eines wird nicht ersetzbar sein, nämlich Engagement wie das dieser Stiftung. Das ist Engagement nach dem Muster: Nicht fragen, was der Staat machen kann, sondern selber etwas tun. - Wenn man das tut, dann kann man auch Forderungen an die Gesellschaft, für die der Staat handelt, stellen.
Meine Damen und Herren, wir sollten miteinander dafür sorgen, dass diese Stiftung möglichst viel Unterstützung erfährt, und hier meine ich nicht die Betroffenen - es ist klar, dass diese alles dafür tun werden, um den Ederhof und die Stiftung am Leben zu erhalten - , sondern vor allem diejenigen, die als Eltern das Glück haben, gesunde Kinder zu haben und sich nicht mit Leid und Leben in Leid auseinandersetzen zu müssen. Manchmal helfen, wenn sich viele beteiligen, auch kleine Summen. Meine Hoffnung ist, dass all diejenigen, die hier mithelfen, eine Art Botschafter für diese Stiftung werden. Es würde ja nicht reichen, wenn sich nur all diejenigen, die hier sind, engagieren, sondern es wäre schön, wenn sich jeder vornähme, einen Freund, Bekannten zu gewinnen, der auch etwas beiträgt. Ich finde, das wäre eine Arbeit im richtig verstandenen Sinne von Rudolf Pichlmayr, eine Arbeit, die großartige medizinische Leistungen mit der ebenso großartigen Möglichkeit der Gewährung von menschlicher Zuwendung zusammenbringt. Beides ist innerhalb dieser Stiftung gegeben und deshalb verdient sie auch in den nächsten 15 Jahren und darüber hinaus unsere Unterstützung.