Redner(in): Christina Weiss
Datum: 16.11.2003
Untertitel: In ihrer Rede am 16. November 2003 in Berlin würdigt Staatsministerin Weiss die diesjährigen Preisträger und hebt die Bedeutung des Preises hervor.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/48/560748/multi.htm
als ich in die CD-Aufnahmen hineinhörte, die für den Preis der deutschen Schallplattenkritik nominiert worden sind, kam mir ein Gedanke: Was dächte wohl Wolfgang Amadeus Mozart, würde er für einen Tag in unsere heutige Welt versetzt und würde seine Musik hören? Wäre er entsetzt? Verwundert? Begeistert? Wir vermögen es nicht zu sagen. Es liegen 250 Jahre dazwischen, viele "Errungenschaften" des zivilisatorischen Fortschritts, die das Hören, die Fähigkeit und Gewohnheit des Hörens verändert haben. Wenn wir Musik hören, dann schließen wir kulturelle Erneuerungen wie Autobahnen oder Flughäfen mit in unser Hören mit ein. Und natürlich dürfen wir davon ausgehen, dass ein Mensch des 21. Jahrhunderts die Musik Mozarts völlig anders hört als ein Mensch jenes Jahrhunderts, in dem der Meister lebte. Leider wissen wir nicht wirklich, wie die Musik damals geklungen hat. Aus Briefen und anderen Schriftdokumenten sind uns nur die Reaktionen überliefert.
Seien wir also ehrlich. Wir müssten im Grunde vor Neid erblassen angesichts der Tatsache, dass uns auf ewig die Erkenntnis fehlen wird, wie die herrlichen Kompositionen von Orlando di Lasso, von Palestrina, von Bach oder Beethoven, oder auch der Trias Schütz-Schein-Scheidt zu ihrer Zeit geklungen, gewirkt haben. Deswegen ist die Einführung der Schallplatte vor gut einhundert Jahren für die Rezeption von Musik und Musikgeschichte von enormer Bedeutung. Seitdem gelingt es, eine Kultur zu bewahren, die sonst nur in unserer Vorstellung lebendig wäre. Anders gesagt: Die tönend bewegte Form besitzt einen Inhalt für die Ewigkeit.
Damit beginnen jedoch zugleich die Schwierigkeiten. Je rascher die Technik voranschreitet - und das tut sie immer rascher - desto unübersichtlicher wird das Angebot: Kulturprodukte mutieren zur Massenware; eine kritische Überprüfung wird selbst für den geübtesten Musikhörer immer schwieriger. Wenige nur haben soviel Zeit, ganze Abteilungen in Kulturkaufhäusern zu durchkämmen, um aus der überbordenden Zahl an kleinen, runden Scheiben eine ihren Wünschen gemäße Aufnahme auszusuchen. Kaum jemand begibt sich wohl gern auf die Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. An diesem Punkt muss das kritische Bewusstsein einsetzen. Das Qualitative trifft auf das Quantitative. Salopp gesagt: Der TÜV der Kultur ist aufgefordert, seine kritische, aber auch würdigende Arbeit tun. Als ebensolcher fungiert seit nunmehr vierzig Jahren der Verein "Preis der deutschen Schallplattenkritik".
In mühevoller Kleinarbeit des Hörens suchen die darin vertretenen über einhundert Musikkritiker nach Ereignissen, die eines Preises verdächtig sind. Es ist dies, das soll nicht unerwähnt bleiben, eine ehrenamtliche Tätigkeit, eine Tätigkeit also, die keinen wirtschaftlichen Motiven folgt. Es ist eine Arbeit, die unbedingt zu rühmen ist. Von hastigen Beleumundungen und Pokalen mit der Gravur der Geschäftemacherei unterscheidet sich dieser Preis durch seine Seriosität in der Hör-Arbeit. Jedes Vierteljahr veröffentlichen die diversen Jurys so genannte Bestenlisten, die dem Jahrespreis vorausgehen. Damit wird der geneigte Hörer umfassend und vertrauenswürdig über herausragende Tonträger informiert.
Warum aber, werden manche von Ihnen fragen, ist der "Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik" für eine Kulturstaatsministerin von Bedeutung? Die Antwort ist einfach: Dieser Preis rückt konsequent die künstlerischen Kriterien in den Mittelpunkt. In Zeiten eines schrumpfenden Tonträgermarktes und einer gefährlichen Tendenz zur Kuschelklassik ist dies ein Plädoyer für die Kunst. Es ist eine Ermunterung für neue, interessante Projekte, für editorischen Mut. Diesen Mut gilt es zu unterstützen.
Meine Damen und Herren,
wie in den Vorjahren, so verrät auch in diesem Jahr die Arbeit der Jurys einen hohen Grad an Kompetenz. Nicht eine Minute lang wurde nach der Sensation, nach dem schnellen Glück oder nach der Zahl der Veröffentlichungen geschielt. Entscheidend allein ist die künstlerische Qualität, der Repertoirewert. Es verwundert deswegen kaum, dass der "Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik" nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der Tonträgerindustrie selbst ein hohes Ansehen genießt. Von Bedeutung scheint mir, dass die Arbeit, die ihrem Wesen nach eine überparteilich-unabhängige ist, den so wichtigen pluralistischen Ansatz bewahrt. Die getroffene Auswahl nämlich spiegelt nicht allein Vielfalt, sie zeigt auch, auf welch demokratischen Idealen die Grundidee des Jahrespreises der Deutschen Schallplattenkritik fußt.
Das Ergebnis quittiert eine Spannweite künstlerischer Erfahrungen. Reicht doch die Liste der Preisträger einmal von Georg Friedrich Händels kaum bekannter, gleichwohl großartiger Oper "Deidamia" bis zu einem poetischen Album des großen Jazzmusikers Wayne Shorter. Eine CD der amerikanischen Rockmusikerin Aimee Mann kommt ebenso zu Ehren wie die üppige Werkausgabe "Die 13 œ Leben des KäptŽn Blaubär" von Walter Moers - übrigens famos gelesen von Dirk Bach.
Und es treffen mit Hector Berlioz - in Gestalt einer geradezu exemplarisch-klarsichtigen Aufnahme seiner "Symphonie fantastique" durch Marc Minkowski und dem Mahler Chamber Orchestra - und György Kurtág zwei Komponisten aufeinander, deren musikalische Ideale für ihr Jahrhundert jeweils wegweisend wurden. Das enorme Gespür für außerordentliche ästhetische Positionen zeigt sich auch an der Auswahl der Künstler, die mit Ehrenurkunden für ihr Lebenswerk ausgezeichnet werden: Reinhard Mey, Jordi Savall sowie der Chef der Firma Bear Family Records, Richard Weize. Geglückt ist die Wahl aus meiner Sicht in sämtlichen Fällen. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Aufnahme sämtlicher Sonaten für Klavier und Violine von Ludwig van Beethoven mit dem Geiger Augustin Dumay und der Pianistin Maria Joao Pires ein Verständnis von der Gleichberechtigung der musikalischen Partner demonstriert. Diese Einspielung ist ein nachhaltiger Ausdruck eines demokratischen Verständnisses von Musik, vom Dialog in der Musik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
lassen Sie mich, obwohl Ihnen dies vielleicht ungewöhnlich erscheinen mag, dennoch einen Preisträger herausheben. Die Rede ist von der aus acht CDs bestehenden Box "Die Orgeln von Gottfried Silbermann". Darauf sind nicht nur Werke des großen Barockmeisters Johann Sebastian Bach, sondern überdies Kompositionen enthalten, die doch abseits des Kernrepertoires liegen. Wer, außer den wenigen Orgel-Experten, kennt schon die Namen der mitteldeutschen Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts - die Namen von Friedrich Wilhelm Marpurg, Johann Rudolf Ahle, Georg Andreas Sorge oder Christian Gotthilf Tag? Sie alle wurden zu ihren Werken inspiriert durch die Orgeln des "virtuosen Sachsen" und Bach-Zeitgenossen Silbermann. Viele dieser prachtvollen Instrumente, deren Klang mit Fug und Recht einzigartig zu nennen ist, konnten inzwischen restauriert werden. Das ist ein Glück, zählen sie doch zum Kulturerbe. Dass der "Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik" diese CD-Sammlung auserwählt hat, ist mehr als nur ein Beweis für die gescheite Arbeit der Juroren. Er ist Ausdruck eines äußerst sensiblen, maßstabsetzenden Kulturverständnisses.
Herzliche Glückwünsche zum Jubiläum. Bitte bewahren Sie sich Ihren Mut, Ihre Entschiedenheit und Ihre geistige Unabhängigkeit. Der CD-Käufer braucht das kritische Urteil und die Kunst ihre Verteidiger.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.