Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 20.11.2003
Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Festveranstaltung des American Institute for Contemporary German Studies anlässlich der Verleihung des "Global Leadership Awards" an Sanford Weill am 20. November 2003 in New York
Anrede: liebe Frau Weill, lieber Sandy Weill, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/63/563463/multi.htm
Verehrte,
Es ist mir eine Ehre und auch eine persönliche Freude, Sandy Weill hier als Preisträger des "Global Leadership Award" ehren zu dürfen. Lieber Sandy Weill, Sie gehören zweifellos zu den ganz großen Persönlichkeiten der amerikanischen Wirtschaft, aber auch des internationalen Business. Eine deutsche Wirtschaftszeitung hat kürzlich über Sie geschrieben, Sie seien der ungekrönte König der globalen Finanzwelt.
Ich glaube, dass Sie die heutige Auszeichnung zu würdigen wissen. Immerhin sind Sie der erste Amerikaner, der diesen "Global Leadership Award" erhält. Es ist im Übrigen eine Auszeichnung, die Sie, lieber Sandy Weill, zurecht erhalten. Als Chef einer der größten Finanzkonzerne der Welt haben Sie gezeigt, dass globales Denken zu entsprechendem Handeln führt, und zwar zu einem kooperativen Handeln, das sich eben nicht nur am größtmöglichen Gewinn orientiert, sondern auch an Werte, die genauso viel zählen. Das sind Werte, die etwas mit Frieden, Sicherheit und Entwicklung zu tun haben, und zwar überall in der Welt, nicht nur hier in Amerika und in Deutschland. Dabei muss es kein Widerspruch sein, und ich würde sogar sagen, darf es gar kein Widerspruch sein, wenn man eine Company führt, die auch zu den profitabelsten der Welt gehört.
Sie haben deutlich gemacht, wie wichtig die Entwicklung eines guten Gemeinwesens ist. Ich denke an das große Engagement, das Sie und Ihre verehrte, liebe Frau etwa im sozialen Bereich zeigen, in der Bildung, in der Gesundheitsfürsorge und in einem Bereich, der Ihnen beiden ganz besonders wichtig ist, nämlich dem der Künste, die Sie lieben und die Sie deswegen fördern.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen aber auch sagen, warum mich Sandy Weill außerdem noch besonders beeindruckt. Das hat etwas mit einem ganz außergewöhnlichen Mut und einem unbedingten Erfolgswillen zu tun. Vielleicht hat das auch etwas mit sozialer Herkunft zu tun, und ich kann das aus sehr eigener Erfahrung nachvollziehen. Aus kleinsten Verhältnissen stammend, ist Sandy Weill wirklich ein "global leader" geworden. Das ist schon beeindruckend in einer Welt, in der man - vielleicht nicht in diesem Land, aber in vielen anderen schon - auf der richtigen Seite geboren sein muss, um Erfolg haben zu müssen.
Es hat auf diesem beeindruckenden Weg natürlich auch Rückschläge gegeben, die Sandy Weill aber nicht entmutigt haben, sondern mutiger gemacht haben. Es gibt übrigens ein Buch, das auch in Deutschland aufgefallen ist, das seinen Werdegang schildert, und ich finde den Titel des Buches sehr passend: "Tearing down the walls". Gerade wir Deutschen wissen, was das heißt, und ich denke, Sie alle können das nachvollziehen. Mauern niederzureißen - das haben die Menschen in Ostdeutschland und auch in Osteuropa geschafft, übrigens - dafür werden wir immer dankbar sein - mit vorbehaltloser Unterstützung des amerikanischen Volkes und seiner damaligen Regierung von George Bush, dem Vater des heutigen Präsidenten. Ganz gewiss ist das auch etwas, das uns auf Dauer verbinden wird und das uns miteinander zusammenhält.
Ich erinnere mich übrigens sehr gern an unser Gespräch in Berlin, und ich war, lieber Sandy Well, damals auch von Ihren Kenntnissen und Ihrem Interesse gerade an der deutschen Kultur und an dem, was Deutschlands Identität ausmacht, begeistert. Das gilt ganz genauso für Ihre Frau. Ich finde, das sind zwei Menschen, die für neue Erfahrungen offen sind und die wir deswegen besonders gerne bei uns in Deutschland zu Hause haben. Diese Auszeichnung, die ja Verdienste um die deutsch-amerikanischen Beziehungen würdigen soll, ist deshalb wirklich verdient. Wer hätte sie mehr verdient?
Gleichzeitig will ich hier gerne sagen, dass ich großen Respekt vor dem habe, was das American Institute for Contemporary German Studies der Johns Hopkins Universität tut, und dass ich gerne für 20 Jahre erfolgreicher Arbeit danke.
Dieses Institut hat für einen sehr intensiven Austausch auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene gesorgt. Ich denke, dass das, was in den letzten 20 Jahren erreicht worden ist, auch ein Stück Aufgabe für die Zukunft sein wird. Diese Aufgabe hat gerade in der Welt der Globalisierung und angesichts der neuen, internationalen Herausforderungen nicht an Bedeutung verloren.
Meine Damen und Herren, wer heute die Nachrichten aus der Türkei über die schrecklichen Attentate, die dort vom internationalen Terrorismus verübt worden sind, verfolgt hat, der muss zu der Überzeugung kommen, dass wir - Amerikaner und Deutsche - in dieser Auseinandersetzung nahtlos zusammen gehören. Wir müssen gemeinsam gewinnen, und wir können auch gemeinsam gewinnen. Wir tun das auf dem Boden unveräußerlicher Werte, die in unseren Verfassungen festgeschrieben sind und die wir auch in der politischen Praxis leben und anderen vorleben. Ich glaube, dass das einer der Punkte ist, die in der Arbeit des Instituts künftig noch sehr viel deutlicher werden.
Die Ehrung, die eben Herrn Professor Banchoff zuteil geworden ist, ist wichtig, weil sie zeigt, dass wir noch sehr viel mehr an wissenschaftlichem Austausch benötigen, um einander besser verstehen zu lernen. Wir müssen mehr übereinander und voneinander wissen, und das gilt insbesondere für die jüngeren Leute in unseren Gesellschaften. Das als einen Auftrag zu begreifen, ist unserer aller Aufgabe - auf dieser Seite des Atlantiks wie auch auf unserer Seite.
Es wird gelegentlich davon geredet, dass es in Europa und auch in Deutschland so etwas wie Anti-Amerikanismus gäbe, insbesondere bei der Jugend. Es gibt keinen größeren Unsinn als diesen. Wenn es etwas gibt, dass die europäische Jugend - die deutsche zumal - als Teil ihres Lebens begreift, dann ist das eine Hinwendung zu Amerika und zu der Art des hiesigen Lebens. Ich füge hinzu: manchmal sogar eine zu starke, weil darüber gelegentlich die eigenen kulturellen Traditionen vergessen werden. Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten oder Anti-Amerikanismus als eine wirkliche Kraft in unseren Gesellschaften habe ich jedenfalls nicht entdecken können. Daher darf man gelegentliche Unterschiede in einzelnen Fragen nicht generalisieren. Man darf sie vor allen Dingen nicht überschätzen und in das Gegenteil dessen verkehren, was wirklich die Haltung auf beiden Seiten des Atlantiks ist, nämlich dass man auf der Basis gemeinsamer Wertvorstellungen einander näher kommen will und wirklich näher kommen kann.
Ich persönlich freue mich übrigens auch, in New York sein zu können, weil meine Familie und ich in ganz besonderer Weise mit dieser Stadt verbunden sind. Meine Frau hat hier lange gelebt und unsere Tochter ist hier geboren worden.
Meine Damen und Herren, ich will noch ein paar Bemerkungen machen, die mit dem zu tun haben, was wir vor haben, um wirtschaftliche Tätigkeit in Deutschland besser zu ermöglichen und um amerikanische Unternehmer zu ermutigen, sich in Deutschland zu engagieren.
Wir haben begriffen, dass wir nach einer Phase der Selbstzufriedenheit, wie ich es einmal nennen will, etwas in unserem Land ändern müssen. Ich habe deshalb die "Agenda 2010" konzipiert, mit der wir unser Land durchgreifend modernisieren wollen und werden. Was waren die Gründe dafür? Wir haben es mit einer Überalterung unserer Gesellschaft zu tun, mit zurückgehenden Geburtenraten und mit zu geringem Wachstum. Das führt dazu, dass wir die sozialen Sicherungssysteme, die wir brauchen und die wir behalten wollen, verändern, umbauen und sie den neuen Gegebenheiten anpassen müssen. Das ist bei der Alterssicherung und im Bereich der Gesundheit so. Wir werden unseren Arbeitsmarkt verändern und flexibler machen, damit wir internationaler Konkurrenz besser werden begegnen können.
Wir sind mitten in diesem Prozess, und wir werden diesen Prozess glücklich zu Ende bringen. Das wird unser Beitrag sein, um Deutschland stärker zu machen und, indem wir Deutschland stärker machen, Europa stärker zu machen - nicht gegen irgendjemanden, schon gar nicht gegen das transatlantische Bündnis und die deutsch-amerikanische Freundschaft. Aber wir wollen unser Land für die Herausforderungen dieses Jahrhunderts fit machen, um Partner sein zu können und auf gleicher Augenhöhe miteinander umgehen zu können. Partner sein zu können, setzt voraus, dass man nicht nur etwas will, sondern dass man auch etwas kann. Es setzt voraus, dass man außenpolitisch seinen eigenen Willen formuliert, ihn aber auch durch eine intakte Ökonomie absichert. In diesem Prozess befinden wir uns, und im Rahmen dieses Prozesses wird neue Dynamik in Deutschland entstehen. Diese neue Dynamik wird auch die Dynamik einer neuen transatlantischen Partnerschaft, einer neuen deutsch-amerikanischen Partnerschaft sein.
Es ist wichtig, dies zu betonen, gerade aus Anlass der Ehrung eines Mannes wie Sandy Weill, dessen Leben durch Dynamik und durch Erfolg, aber auch durch Respekt vor anderen Kulturen und anderen Gegebenheiten gekennzeichnet ist. Nicht zuletzt deshalb haben Sie ihm - zurecht - diesen Preis verliehen. Ich gratuliere ihm ganz herzlich dafür, und ich denke, Sie hätten keinen würdigeren Preisträger finden können. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen wunderbaren Abend und sage herzlichen Dank für die Gastfreundschaft.