Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 26.11.2003
Untertitel: Der Bundeskanzler hat in der Haushaltsdebatte zum Haushalt 2004 am 26. November 2003 zu den außenpolitischen Themen: Türkei, Europäische Union und innenpolitischen Themen insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Agenda 2010.
Anrede: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/77/566977/multi.htm
Herr Glos, ich will ausnahmsweise mit einem ausdrücklichen Lob beginnen. Ich fand es gut und richtig, dass Sie sich von dem unseligen Gerede des Herrn Bosbach distanziert haben.
Denn der hergestellte Zusammenhang zwischen den terroristischen Angriffen in Istanbul auf der einen Seite und dem Versuch auf der anderen Seite, damit Politik, ja sogar Außenpolitik zu betreiben, war menschlich unanständig und politisch hochgradig gefährlich. Deshalb ist es gut, dass das vom Tisch ist.
Ich habe in diesem Zusammenhang eine Bitte: Fangen Sie nicht hintenherum erneut an, dieses Thema zu instrumentalisieren!
Denn Sie sollten wissen, dass der Türkei seit 40 Jahren gesagt wird: Ihr könnt Mitglied der Europäischen Union werden, wenn ihr die Voraussetzungen erfüllt. - Ob die Türkei diese Voraussetzungen erfüllt, wird Ende 2004 zu entscheiden sein. Der Zeitplan wird - ich betone das ausdrücklich - in keine Richtung hin verändert werden. Die Bedingungen werden nicht verändert werden, weil sie auf dem Gipfel in Kopenhagen und an anderer Stelle festgelegt worden sind. - Das ist das eine.
Die andere und politisch für uns ungeheuer interessante Frage ist - darüber sollten wir diskutieren, wenn es um diese Frage geht - , ob es nicht im Sicherheitsinte-resse Deutschlands und im Sicherheitsinteresse Europas liegt, dass das Experiment in der Türkei gelingt, eine Verbindung zwischen der islamischen Religion auf der einen und freiheitlichen Wertvorstellungen auf der anderen Seite herzustellen.
Stellen Sie sich einmal vor, welch ungeheurer Sicherheitszuwachs für Europa und auch für Deutschland darin liegen könnte. Deshalb haben wir jedes Interesse daran, dass die Maßnahmen, die die Türkei ernsthaft vor hat, auch wirklich gelingen. Das müssen wir im eigenen nationalen Interesse unterstützen. Das dürfen wir nicht diskreditieren.
Sie haben über Europa und in diesem Zusammenhang über das deutsch-französische Verhältnis gesprochen. In Ihrer Rede waren Töne enthalten, über die man wirklich ernsthaft reden muss, gerade auch deshalb, weil ich davon ausgehe, dass es in diesem Hause ein gemeinsames Interesse gibt, das deutsch-französische Verhältnis als Motor der europäischen Integration so eng wie irgend möglich zu halten.
Ich erinnere an Debatten hier in diesem Hohen Hause, in denen mir vorgeworfen worden ist, ich täte zu wenig für dieses enge deutsch-französische Verhältnis.
Was jetzt? Was ist wirklich Ihre Position? Ist es nun richtig, diese Beziehung aus historischen, aber keineswegs nur aus historischen, sondern vor allen Dingen aus gegenwärtigen und zukünftigen Motiven heraus so eng wie möglich zu gestalten und zu halten, oder ist das nicht richtig? Kommen Sie doch nicht ständig damit, dass das deutsch-französische Verhältnis, wenn es so eng sei, andere, etwa die kleineren Mitgliedstaaten, gar bedrohe.
Wer Erfahrung etwa in europäischen Räten gesammelt hat - ich könnte genügend Beispiele dafür nen-nen - , der hat immer wieder festgestellt, dass es gerade die kleineren Mitgliedsländer sind, die dann, wenn eine Einigung schwierig ist oder schwierig aussieht, sagen: Franzosen und Deutsche, nun legt etwas auf den Tisch, damit wir eine Orientierung haben.
Es gibt auch die andere Seite - das gebe ich zu - , nämlich dass das Gefühl entsteht, dass eine Einigung zwischen uns vielleicht zu viel der Einigung an anderen vorbei ist.
Aber gerade Deutschland und Frankreich wissen - und verhalten sich in den Räten, in denen Politik gemacht wird, auch so - , dass die deutsch-französische Beziehung so eng wie möglich sein muss, aber nicht exklusiv sein darf. Das ist die richtige und vernünftige Formel. Sie dient den beiden Ländern und sie dient Europa.
Weil Sie, Herr Glos, mit der Außenpolitik begonnen haben und ich ernsthaft darauf eingehen möchte, noch ein paar Bemerkungen zu dem, was jetzt in Europa vor uns liegt.
Der erste Punkt: Wir befinden uns am Vorabend der Regierungskonferenz und ich denke, wir sind uns in dem Willen einig, dass diese Regierungskonferenz im Dezember erfolgreich abgeschlossen werden muss. Ich hoffe und erwarte im Übrigen auch, dass die italienische Präsidentschaft zu zentralen Fragen Vorschläge vorlegt, die kompromissfähig sind. Deutschland ist daran interessiert.
Es muss aber auch klar sein: Wir verstehen den Wunsch vieler, insbesondere der kleineren und der neuen Mitgliedstaaten, in Brüssel präsent zu sein. Aber die Kommission, die Sie zu Recht Hüterin der Verträge genannt haben, muss arbeitsfähig bleiben. Auch dieser Gesichtspunkt muss in einem Kompromiss zum Ausdruck kommen. Sie muss arbeitsfähig bleiben, damit Europa politisch wirklich aktionsfähig bleibt. Das ist nicht allein Sache der Kommission, aber auch. Ob das mit 25 oder gar 31 Kommissaren gelingt, darüber könnten wir eine sehr rationale Debatte führen. Es wird jedenfalls schwierig sein, bei dieser Größenordnung ein effizientes Arbeiten zu gewährleisten.
Der zweite Punkt betrifft die Stimmengewichtung. Ich denke, dass wir sehen müssen, dass das Prinzip "ein Staat, eine Stimme" zu den Selbstverständlichkeiten der europäischen Einigung gehört. In dem Kompromiss muss aber auch klar werden, dass man nicht so vorgehen kann, 82 Millionen Deutschen 29 Stimmen zu geben und etwa 80 Millionen Polen und Spaniern - so viele sind es zusammengenommen - 54 Stimmen. Das steht in keinem Verhältnis zueinander und ist nicht dem Grundsatz zuträglich, dass alle Bürgerinnen und Bürgern Europas gleich viel zählen. Deswegen erwarte ich auch in diesem Anliegen von denjenigen Kompromissbereitschaft, die es angeht.
Im Zusammenhang mit der Debatte, welche innenpolitischen Themen uns beschäftigen - darauf komme ich gleich zu sprechen - , möchte ich noch Folgendes erwähnen: Die Kommission hatte ursprünglich angekündigt, die finanzielle Vorausschau noch im November und Dezember vorlegen zu wollen. Diesen Termin hat man mit Rücksicht auf die Regierungskonferenz auf Januar nächsten Jahres verschoben; das verstehe ich. Nach dem, was man so hört, scheint es Wille der Kommission und bedauerlicherweise auch einer Haushaltskommissarin zu sein, die so genannte Eigenmittelobergrenze auszuschöpfen. Das würde für Deutschland jährlich 7 Milliarden Euro netto mehr bedeuten. Ich hoffe, dass wir uns alle miteinander einig sind, dass das nicht angehen kann.
Man darf, Herr Glos, allerdings erwarten, dass die Kriterien, die die Kommission an andere anlegt, auch für die Kommission selbst gelten.
Diese Erwartung ist nicht ganz unzulässig. Wir werden über die Frage der Eigenmittel der Kommission hier wie auch mit der Kommission selbst also noch interessante Debatten zu führen haben.
Man kann übrigens doch nun wirklich nicht so tun, als sei die Kommission in allem, was sie macht, sakrosankt.
Bei der eigentlichen Auseinandersetzung über die Haushalts- und Finanzpolitik, die wir auch hier zu führen haben, muss die Frage geklärt werden, ob das, was die Kommission vorgeschlagen hat, ökonomisch vernünftig ist oder nicht. Darüber muss man in diesem Land doch zumindest reden können und darf nicht sofort den Einwand zu hören bekommen, darüber dürfe man nicht sprechen.
Es darf nicht Mode werden, wie gelegentlich berichtet wird, dass die Vorschläge der Kommission so akzeptiert werden müssten, also ganz nach dem Motto: Friss, Vogel, oder stirb. Denn man muss sich nur einmal vor Augen führen, was das auch für andere Bereiche bedeuten würde.
Mir ist vorgeworfen worden, ich hätte zu wenig gegen die unsinnigen Vorschläge zur Chemierichtlinie getan, die auf dem Tisch liegen. Diese Vorschläge kamen von der Kommission. Wir haben sie verändert, allerdings noch nicht weit genug. Deswegen werden wir weiter streiten müssen. In dieser Frage gibt es also einen Streit zwischen der Kommission und uns, bei dem es uns darum geht, deutsche Interessen und vor allem auch die Interessen der Industrie in Deutschland zu vertreten.
Wir haben auch über die Übernahmerichtlinie diskutiert und sie dabei Schritt für Schritt verändert. Es war eine harte Auseinandersetzung mit der Kommission, aber wir haben diese Richtlinie nun doch so gestaltet, dass sie für Deutschland erträglich ist.
Allerdings wurde uns wieder vorgeworfen, wir würden den liberalen Vorstellungen von Herrn Bolkestein widersprechen, was auf gar keinen Fall gehe.
Auch das VW-Gesetz ist ein wunderbares Beispiel. Wir sind von der jetzigen niedersächsischen Landesregierung aufgefordert worden, der Kommission bei der Veränderung des VW-Gesetzes unbedingt in die Arme zu fallen. Dazu musste ich nicht aufgefordert werden; denn ich war immer der Meinung, dass das Gesetz in Ordnung ist. Es ist übrigens sehr interessant: Es war der niedersächsische Wirtschaftsminister, der hier Eiertänze aufgeführt und gesagt hat, im Sinne des deutschen Liberalismus müsse das VW-Gesetz abgeschafft werden. Jetzt verkündet er aber, eine Abschaffung bedeute das Ende des Unternehmens.
Das ist wirklich eine Wandlung vom Saulus zum Paulus.
Diese Beispiele erwähne ich nur, um deutlich zu machen, dass eine Auseinandersetzung mit der Kommission über Sachfragen nicht sakrosankt sein darf.
Damit bin ich bei dem Punkt, um den es hier schwerpunktmäßig geht und gehen sollte: Wie sieht die Situation aus, in der wir uns gegenwärtig befinden? Ich stimme Ihnen durchaus zu, dass es in Deutschland noch immer Besorgnis erregende Anzeichen gibt, was die ökonomische Entwicklung angeht. Das ist keine Frage. Es wäre doch falsch, etwas anderes zu sagen. Die Arbeitslosigkeit ist viel zu hoch. Sie liegt zwar nicht in der Größenordnung, die einige - aus welchen Gründen auch immer - prognostiziert haben, aber sie ist viel zu hoch. Es gibt zu wenige Erwerbstätige - gar keine Frage. Daneben gibt es nicht genügend Nachfrage auf dem Binnenmarkt. Wir streiten doch gar nicht darüber, dass das keine guten Anzeichen sind.
Auf der anderen Seite ist Deutschland Exportweltmeister. In den letzten fünf Jahren ist der Anteil am Weltmarkthandel real, sowohl in Dollarpreisen, als auch bereinigt um die Dollar-Euro-Relation, von 9 auf 10,5 Prozent gestiegen. Ich behaupte nicht, dass das durch die Politik der Bundesregierung verursacht worden ist. Sie können aber auch nicht behaupten, dass das keine erzielten Ergebnisse wären. Ich denke, deswegen stellt sich die Lage etwas differenzierter dar, als Sie sie mit Ihrer ausschließlichen Schwarzmalerei zeichnen.
Meine Damen und Herren, im letzten Quartal gab es zwar noch nicht zureichendes Wachstum, aber es gab Wachstum. Das wird sich in diesem Quartal fortsetzen. Die Industrieproduktion zieht an und die Ausgaben für Ausrüstungsinvestitionen erhöhen sich. Warum erwähne ich das und sage ich, dass es ein differenziertes Bild der wirtschaftlichen Situation in Deutschland zu zeichnen gibt? Ich erwähne das doch aus einem einzigen Grund: Ich möchte, dass wir miteinander dafür sorgen, dass die positiven Aspekte der ökonomischen Entwicklung gestützt und die negativen überwunden werden. Das ist doch die Aufgabe, die wir gemeinsam haben.
Unter dem Gesichtspunkt, die positiven Anzeichen der augenblicklichen Lage zu stützen, zu entwickeln und weiterzutreiben und die negativen zu minimieren, haben wir zu bewerten, was getan werden muss. Man kann ja darüber streiten. Wir sollten aber vielleicht einig darin werden, dass das der Maßstab ist, an dem Ihre und unsere Vorschläge gemessen werden müssen. Stützen wir die Zeichen für den Aufschwung in Deutschland und minimieren wir die negativen Anzeichen oder tun wir es umgekehrt? Das ist der Maßstab.
Wenn wir darüber einig sind, dann müssen wir jetzt darüber reden, was im Zusammenhang mit dem Haushalt, seinen Begleitgesetzen und der Agenda 2010 ins Werk gesetzt worden ist. Wenn wir die positiven Anzeichen in Deutschland und damit auch in Europa - der Anteil Deutschlands an der europäischen Wirtschaft beträgt 30 Prozent - stützen wollen, dann brauchen wir einen Dreiklang in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir müssen die Konsolidierung weitertreiben - gar keine Frage.
Wir müssen zugleich die Wachstumsimpulse stützen, die sich aus dem Wirtschaftskreislauf ergeben. Schließlich brauchen wir Ressourcen für zukünftige Aufgaben. Das sind unsere drei Ziele.
Ich will nun erläutern, warum ich der Auffassung bin, dass wir diesen drei Zielen mit der Politik, die wir betreiben, im Inneren, aber auch in der europäischen Politik nahe kommen. Was heißt das? Wir brechen die Konsolidierung doch nicht ab. Nein. Wieso? Mit den Haushaltsbegleitgesetzen und dem Haushalt wird das strukturelle Defizit in 2004 um 0,6 Prozent zurückgeführt; das ist auch von der Kommission unbestritten.
In 2005 wird das strukturelle Defizit um 0,5 Prozent zurückgeführt.
Die Kommission - und offenbar auch Sie - sagt jetzt, dass das nicht reicht, wir müssten mehr tun. Man muss sich doch fragen, ob die Position der Kommission - und auch Ihre - richtig ist. Wir brauchen ja nicht nur das Weiterführen der Konsolidierung, sondern wir brauchen auch das Stimulieren von Wachstum, um die positiven Anzeichen zu befördern.
Was bedeutet in der jetzigen Situation das Stimulieren von Wachstum? Wir hätten die Forderungen der Kommission locker erfüllen können, wenn wir darauf verzichtet hätten, die Steuerreformstufe 2005 auf 2004 vorzuziehen.
Der Streit geht jetzt allein um die Frage - ich bin sehr gespannt, was Sie darauf antworten werden - : Durften wir um den Preis des Nichtvorziehens der Steuerreformstufe von 2005 auf 2004 die Forderungen der Kommission erfüllen oder durften wir das nicht? Das ist die entscheidende Frage.
Wir haben gesagt: Wenn wir Wachstumsimpulse, die es in unserer Volkswirtschaft gibt, verstärken wollen, wenn wir die Aufschwungtendenzen, die in unserer Volkswirtschaft deutlich werden, stützen wollen, um die negativen Tendenzen zu minimieren, dann müssen wir ran und sagen: Wir ziehen die dritte Stufe der Steuerreform von 2005 auf 2004 vor. Das ist der Zusammenhang.
Wer mit der Kommission marschieren will - das können Sie gerne tun - , der muss sich klarmachen: Entweder er will die dritte Steuerreformstufe nicht vorziehen; dann soll er das öffentlich sagen. Oder er muss konkret einen Vorschlag machen, wie man das Vorziehen der Steuerreformstufe von 2005 auf 2004 anders finanzieren kann, als wir es im Haushalt und mit den Haushaltsbegleitgesetzen vorgeschlagen haben. Alles andere ist eine Debatte um Kinkerlitzchen, keine seriöse ökonomische Diskussion.
Wir haben uns in der jetzigen Situation entschieden: Um die positiven Anzeichen zu unterstützen, ziehen wir die dritte Steuerreformstufe vor und erreichen damit im nächsten Jahr ein erhöhtes Wachstum und als Folge von mehr Wachstum mehr Arbeitsplätze.
Das ist der Zusammenhang.
Ich habe gesagt: Die Konsolidierung darf nicht aufgegeben werden. Aber in einer konjunkturellen Situation wie dieser darf man doch wohl darüber diskutieren und entsprechende Entscheidungen treffen, weil die Balance zwischen Konsolidierung auf der einen Seite und Stimulierung von Wachstum auf der anderen Seite in konjunkturschwächeren Zeiten anders gefunden werden muss als in konjunkturstärkeren Zeiten. Das führt dazu, dass man den Stabilitäts- und Wachstumspakt - er heißt schließlich nicht nur Stabilitätspakt - in diesen Zeiten anders interpretieren muss, als es die Mehrheit der Kommission getan hat. Um diesen Punkt geht es.
Übrigens bin nicht ich es gewesen, der den Stabilitätspakt so interpretiert, wie Sie es tun wollen, und ihn dumm genannt hat. Das war doch Ihr Parteifreund und Präsident der Europäischen Kommission, Herr Prodi. Ich halte den Pakt nicht für dumm. Ich halte ihn für interpretationsnötig, aber auch -fähig. Deswegen haben wir uns entschieden, eine vernünftige Balance zwischen der Weiterführung der Konsolidierung und dem Setzen von Wachstumsimpulsen herzustellen. Ich sage ausdrücklich: Ich bin dem Finanzminister sehr dankbar, dass er eine ökonomisch vernünftige Lösung durchgesetzt hat.
Um auch etwas zu den Vorwürfen zu sagen: Die Einwände, die immer gegen unsere Konsolidierungspolitik erhoben wurden, sollten Sie nicht zu lautstark verkünden. Die gesamte ökonomische Debatte, die von denen angeregt wurde, die Einwände erhoben haben - egal ob Niederländer oder Skandinavier - , ist eine Debatte über Unterlassungen in den 90er-Jahren. Ich will mich damit gar nicht lange aufhalten. Aber es gab Gründe dafür, dass die Maßnahmen zur Konsolidierung, die zum Beispiel die Schweden und andere kleinere Staaten in den 90er-Jahren vorgenommen haben, in Deutschland in den 90er-Jahren nicht durchgeführt worden sind. Damals regierten nicht wir. Auch das muss man einmal sehen.
Natürlich ist es schwieriger, in einer konjunkturell schlechteren Phase das nachzuholen, was in den guten Zeiten versäumt worden ist. Der Ehrlichkeit halber muss man sagen, dass dies von Ihnen und nicht von uns versäumt worden ist.
Die Konsolidierung wird in der Größenordnung weitergeführt, die in jenem Rat vereinbart worden ist, der darüber nach den Regeln des Stabilitäts- und Wachs-tumspaktes zu entscheiden hat. Dort ist definitiv gesagt worden: Wir sind zu der Anstrengung bereit, das Defizit in den beiden folgenden Jahren um 0,6 bzw. 0,5 Prozent zu senken.
Das zeigt doch, dass Deutschland die Konsolidierung nicht aufgegeben hat, aber im Interesse nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Volkswirtschaft darauf bestehen muss, dass Wachstum nicht hintenangestellt wird; denn wir brauchen es.
Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhang gehört zum Dritten, dass Konsolidierung auch die Durchsetzung struktureller Reformen in den Systemen der sozialen Sicherung bedeutet. Sie, Herr Glos, haben Recht, wenn Sie darauf hinweisen, dass etliches davon noch nicht durchgesetzt ist. Dann müssen wir einmal ganz ernsthaft darüber reden, wie es nun weitergehen soll.
Wenn Sie auf der einen Seite sagen, die Sparquote sei zu hoch, Sie sähen eine Menge davon lieber im Konsum, dann gebe ich Ihnen völlig Recht. Das ist auch meine Position. Aber warum ist sie denn so hoch? Wir sollten nun nicht alles beweinen. Es gibt Länder, die gerne eine solche Sparquote hätten. Auch das muss man sehen. Sie ist so hoch, dass mehr in den Konsum gehen könnte. Aber wir sollten an diesem Punkt keine amerikanischen Verhältnisse bekommen; auch in dieser Frage sind wir uns vielleicht einig.
Aber warum ist die Sparquote so hoch? Sie sagen: Das liegt an der Regierung - weil alles an der Regierung liegt. Demnächst werden Sie sagen, auch das Wetter liege an der Regierung. Im Moment ginge es ja sogar.
Aber die Sparquote ist nicht zuletzt deshalb so hoch, weil wir mit dem, was wir jetzt im Vermittlungsausschuss miteinander hinbekommen müssen, nicht zu Stuhle gekommen sind. Aber das liegt nicht an der Bundesregierung.
Es kommt auf die Gesetze an, die die Agenda 2010 umsetzen sollen.
Übrigens: Wenn Sie einmal im Ausland sein sollten, dann werden Sie merken, welche positive Einschätzung Deutschlands sich mit der Agenda 2010 verbindet - ohne Ausnahme: ob in Amerika, ob in Europa oder in Asien.
Deshalb sage ich: Wir müssen auch im Vermittlungsausschuss dazu kommen, dass die Agenda-Gesetze durchgesetzt werden. Ich weiß natürlich, dass das nur im Kompromisswege möglich ist. Ich bin zu Kompromissen auch durchaus bereit. Aber sie müssen sachgerecht sein. Es muss klar sein: Vermittelt werden kann im Vermittlungsausschuss über die vorliegenden Gesetze. Das ist eine ganze Menge. Wenn wir dort zu Kompromissen kommen - wir sind durchaus dazu bereit - , dann haben wir Verantwortung für unser Land wahrgenommen.
Meine Damen und Herren, Sie sagen: Wir wollen einen großzügigen Subventionsabbau.
Da wissen Sie nicht einmal, ob Sie das für richtig halten dürfen, was Koch und Steinbrück vorgeschlagen haben.
Das sind 4 Prozent Reduzierung jedes Jahr. Danach wäre sie in 25 Jahren weg. Kommen Sie zu Stuhle und sagen Sie: Damit sind Fehlallokationen verbunden; das ändern wir. - Wir können gerne über die Größenordnung streiten, aber sie muss substanziell sein.
Ein Zweites. Man kann über die Frage, wie man mit der Pendlerpauschale umgeht, diskutieren. Das ist auch bei uns geschehen. Aber Subventionsabbau zu fordern und die Pendlerpauschale davon auszuschließen ist keine Politik.
So geht es weiter. Es gibt bisher keinen einzigen substanziellen Vorschlag. Das müssen Sie ändern.
Wir sind zum Kompromiss bereit. Aber das geht nur, wenn auch Sie einmal etwas sagen und nicht immer nur ablehnen.
Zur Kohle. Gucken Sie sich einmal an, was da gemacht worden ist! Gucken Sie sich einmal an, welcher Abbau bis 2012 wirklich vorgesehen ist! Wir fördern zurzeit - das muss man den Menschen einmal erklären - jedes Jahr 28 Millionen Tonnen Steinkohle. Das tun 36 000 Bergleute. Bei den Grünen in NRW war das ganz einfach. In der Regierung haben sie gesagt: Wir wollen bis zum Jahre 2012 auf 18 Millionen Tonnen herunter. Ich habe selber mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmen und mit den betroffenen Landesregierungen verhandelt und gesagt: Lasst uns einen ernsthaften Versuch machen, beim Subventionsabbau ein Stück weiter zu gehen. Übrigens betrifft das nicht nur die nordrhein-westfälische Landesregierung, sondern auch die Landesregierung im Saarland, wie Sie vielleicht wissen. Das wird bedeuten, dass wir im Jahr 2012, unterstellt, die Kommission wird dies akzeptieren, noch 16 Millionen Tonnen fördern.
Das werden noch 20 000 Beschäftigte tun.
Wir reduzieren also die Förderung auf 16 Millionen Tonnen und die Zahl der Beschäftigten um mindestens 16 000 in dieser Zeit. Wir tun es - ich finde, wenn wir die Arbeitslosigkeit nicht weiter ansteigen lassen wollen, müssen wir es tun - mutmaßlich, wenn alles gut geht, ohne betriebsbedingte Kündigungen. Wir schaffen den Abbau von Subventionen in einem Maße, das, wie ich finde, sozial vertretbar ist. Das ist der Zusammenhang, über den geredet werden muss.
Die Maßnahmen muten den betroffenen Bergleuten in Nordrhein-Westfalen und im Saarland, den Landesregierungen und den Unternehmen einiges zu. Es ist ein vernünftiger Kompromiss, der gefunden worden ist. Sie sollten aufhören, ihn zu diskreditieren. Das zu den Kohlesubventionen.
Es geht nicht um Jubel, sondern um vernünftige Entscheidungen. Diese Entscheidung entspricht dem, was ich Ihnen eben gesagt habe. Sie werden sehen, dass diese Entscheidung auch getroffen wird. Seien Sie da mal ganz ruhig. Sie können dem gerne zustimmen, weil es im Sinne deutscher Politik vernünftig ist, anstatt nur schadenfroh auf den einen oder anderen zu schauen.
Ich bleibe bei der Agenda 2010. Ich hoffe, es wird deutlich, dass wir die Agenda 2010 auch aus dem dritten Grund brauchen, den ich genannt habe. Mit dem Setzen von Wachstumsimpulsen, ohne die Konsolidierung aufzugeben, und mit den Strukturreformen, die sich mit dem Begriff der Agenda 2010 verbinden, bringen wir nicht nur die Systeme der sozialen Sicherung in Ordnung; nein, wir schaffen mit diesem Prozess auch etwas anderes: Wir machen Ressourcen für die wesentlichen Zukunftsaufgaben frei.
Diese wesentlichen Zukunftsaufgaben lassen sich in drei Bereichen beschreiben. Erstens. Wir machen Ressourcen für Investitionen in Bildung und Ausbildung frei. Lassen Sie uns einen Moment über Ausbildung reden. Wir alle sind der Auffassung, dass das duale System zu den Glücksfällen in Deutschland gehört hat und weiter gehören kann, wenn es funktioniert.
Es funktioniert aber dann und nur dann, wenn nicht nur einzelne Unternehmen, sondern alle Unternehmen begreifen, dass es staatsbürgerliche Pflicht ist, Ausbildungsplätze in den Betrieben bereitzustellen.
Ich denke, es ist auch klar geworden, dass sowohl der Wirtschaftsminister als auch ich, übrigens auch die SPD-Fraktion, den festen Willen haben, solange es eben geht, auf Freiwilligkeit und tarifvertragliche Regelungen, die es in Branchen gibt, zu setzen. Aber wir können die jungen Leute nicht im Stich lassen, wenn alles versagt, was es an freiwilligen Möglichkeiten gibt. Diejenigen, die die Pflicht haben, Ausbildungsplätze bereitzustellen, haben es doch in der Hand, diese Pflicht zu erfüllen. Ich bitte darum, dass sie erfüllt wird.
Niemand will leichtfertig Druck ausüben. Jeder setzt auf Freiwilligkeit.
Wir müssen also in Bildung und Ausbildung, in Forschung und Entwicklung investieren. In diesem Zusammenhang will ich etwas zu einer Äußerung des Bundesrechnungshofs sagen, die ich heute gelesen habe. Er sagte: Ihr müsst sehen - das ist ja keine neue Erfah-rung - , ob ihr die Mittel effizienter einsetzen könnt. - Diesen Hinweis nehme ich gerne entgegen. Über diese Frage wird mit dem Bundesrechnungshof zu diskutieren sein. Denn wir haben doch alle ein Interesse daran, dass die von uns eingesetzten und aufgestockten Forschungsmittel möglichst effizient verwendet werden.
Wenn die Kritik berechtigt ist, dann müssen die Kritikpunkte abgestellt werden. Das ist doch keine Frage. Insofern weiß ich nicht, warum man sich darüber aufregt.
Drittens müssen wir zusätzliche Mittel für die Verbesserung der Betreuungsmöglichkeiten einsetzen. Ich weiß, dass dafür nicht in erster Linie der Bund zuständig ist. Aber ich denke, wir bringen aus guten Gründen beträchtliche Mittel für diesen Bereich zugunsten der Kommunen und Länder auf; denn wir wollen, dass auf diese Weise die Ganztagsbetreuung ausgebaut wird, um beim Zugang zu den Bildungsinstitutionen in unserem Land den Kindern unabhängig vom Einkommen der Eltern Gerechtigkeit zu bieten. Wir wollen damit aber auch erreichen, dass Frauen besser als in der Vergangenheit und in der Gegenwart Familie und Beruf miteinander vereinbaren können. Das ist ein wichtiger Aspekt.
Kurzum: Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass wir hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung in Deutschland an einer Weggabelung stehen.
Wenn die Reformgesetze zur Agenda 2010 - von mir aus in Form eines Kompromisses - beschlossen werden und die nächste Stufe der Steuerreform vorgezogen wird, dann können wir den Weg wählen, der in Deutschland zu einem Aufschwung führt. Die Anzeichen sprechen dafür.
Eine Blockadehaltung - von der Sie Gott sei Dank nicht gesprochen haben, Herr Glos - oder die Vermischung mit unsachlichen Gesichtspunkten könnte zu einem Weg führen, der einen negativen Trend bewirkt. Diesen Weg dürfen wir nicht gehen. Ich bin angesichts Ihrer Mehrheit im Bundesrat fest davon überzeugt, dass es eine gemeinsame Verantwortung gibt, den positiven Weg zu gehen.
Ich will das folgendermaßen beschreiben, Frau Merkel. Sie haben angekündigt, dass Sie eine Patriotismusdebatte führen wollen. Ich finde, Sie sollten eines bedenken: Sie haben die Chance, zu beweisen, dass Sie keine Debatte führen müssen, sondern dass Sie Patrioten sind.
Patrioten sind Sie nämlich durch Ihr Handeln dann und nur dann, wenn Sie dabei mithelfen, dass der Weg für den Aufschwung in Deutschland frei wird. Das ist die gemeinsame Verantwortung, die wir haben. Das ist die Erwartung unseres Volkes. Die müssen wir erfüllen.