Redner(in): Christina Weiss
Datum: 26.11.2003
Untertitel: Neue Techniken eröffnen auch der Kultur neue Wege. Die Kultur ist nicht durch die Informationstechnologien bedroht, führte Kulturstaatsministerin Weiss auf dem Symposium Informationsgesellschaft 2003 aus.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/95/566595/multi.htm
Anreden )
Es war eine längst überfällige Diskussion, die eine Sonntagszeitung dieser Tage anzettelte: Müssen wir uns eigentlich beim Telefonieren am Handy auch noch fotografieren, oder reicht es, wenn wir das gute, alte fernmündliche Gespräch führen? Die Diskussion kam nicht ohne kulturkritische Argumente aus und gipfelte in einem Bilderverbot für Landestristesse für die heimische Idylle. Ich gestehe gern, dass ich bei einem Anruf, der mich aus dem ICE erreicht, nicht unbedingt einen Blick in den Speisewagen riskieren muss. Wobei solche Fotos natürlich bald zeithistorische Bedeutung hätten. Das Pro und Contra über Handy-Fotos zeigt aber, wie weit die Technologien die Informationsgesellschaft und unsere Kommunikation insgesamt verändert haben. Früher schickte man aus dem Urlaub eine simple Postkarte, später griff man zum Hörer, dann kam das Handy, es folgte die E-Mail, jetzt schickt man sich Bilder per SMS - und irgendwann werden wir uns mit Videos aus Ferien melden. Der Moderator der heutigen Runde, Jürgen Mittelstraß, fragte in einem Vortrag, ob "sich die conditio humana, die menschliche Befindlichkeit, der Umgang des Menschen mit der Welt und mit sich selbst, so radikal ändern, dass selbst Science Fiction, wie wir sie alle kennen, wie ein biederes Szenario aus der Vergangenheit einer technischen Kultur, unserer Kultur, erscheint, ein Szenario, in dem man noch mit wissenschaftlich-technischen Entwicklungen Wildwest oder Kreuzritter spielte". Er antwortet, dass es dazu wenig Anlass gebe. Dennoch stellt sich die Frage, ob wir noch genug erleben. Reichen uns nicht oft genug bloße Informationen über ein Ereignis? Fahren wir denn noch auf die Kapverden, wenn wir daheim den schönsten Film darüber ansehen können? Lässt sich Erfahrung wirklich per Handy mitteilen? Spiegelt sich in einer SMS oder in einer Fotobotschaft nicht lediglich die Oberflächlichkeit der Erfahrungswelt? Lebt also die Informationsgesellschaft vom Ende der Erlebnisgesellschaft? Ich rechne an dieser Stelle mit energischem Protest. Allerdings ist mit dem Beispiel des Foto-Handys eine wichtige Frage verknüpft. Wir müssen uns klar darüber werden, ob die fotografierte Nachricht ein Versuch ist, durch Beglaubigung des Erlebnisses den Verlust an eigentlicher Erfahrung zu kompensieren.
Und doch: Die Welt erschließt sich nicht ohne Wissen, wir lernen Sprechen durch das Lesen, können nur singen, wenn wir auch gut hören, wir orientieren uns durch das Denken."In Sprache", sagt Burkhard Spinnen,"ist unser Wissen, ist unser Menschsein aufgehoben." Wir leben im Zeitalter des technologischen Wandels, das davon bestimmt ist, Informationswege zu verkürzen. Die tägliche Mediennutzung hat in diesem Jahr gegenüber dem 1999 um anderthalb Stunden zugenommen. Der Fernsehkonsum ist ebenso angestiegen wie das Radiohören. Das Internet hat die Lektüre von Tageszeitungen und Magazinen deutlich hinter sich gelassen, heißt es in einer Forsa-Umfrage. Das Fernsehen ist Leitmedium.
Die Informationsflut verlangt aber vom Nutzer einen hohen Grad an Kompetenz, Komplexität nach einem rationalen Schema zu reduzieren, wie es Luhmann ausgedrückt hat, oder farbiger: zwischen vorzüglicher Information und hastiger News zu unterscheiden. Dazu braucht es eine Erziehung der Erfahrung. Ich glaube, dass Information übertragbar ist, Erkenntnis aber nicht. Erfahrung ist mehr als Bits & Bytes.
Erfahrung und Erkenntnis erweisen sich allerdings gegenüber dieser Gefahr als ausgesprochen widerstandsfähig. Aus diesem Grunde falle ich auch nicht in den Chor der Kulturpessimisten ein, die einen Angriff der Technologien heraufbeschwören, dem Buchhandlungen, Filmtheater oder Konzerthäuser schutzlos ausgeliefert sind. Natürlich grenzt es an einen unerwarteten Kulturschock, wenn sich herausstellt, dass die Encyclopaedia Britannica nicht mehr in Papierform erhältlich sein sollte, sondern nur noch kostenpflichtig im Internet angeboten wird. Ist das der Anfang vom Ende der mehrbändigen Lexikonausgaben? Haben Suchmaschinen diese Aufgaben übernommen? Die Fülle des Angebots wird gemeinhin positiv dargestellt, aber eine Trefferanzeige im Internet beinhaltet immer auch die Möglichkeit, auf der Anbieterseite Informationen zu verweigern, im schlimmsten Fall sie zu unterdrücken. Der Nutzer wiederum kann Informationen ablehnen. Informationen werden hier nach einer zweifelhaften Rankingliste aufgelistet. Die Platzierung ist zudem käuflich. Ist also das Internet nur Bestätigung, das Lexikon aber Veränderung unseres Wissens?
In seinem Buch "Access - Das Verschwinden des Eigentums" beschreibt Jeremy Rifkin, dass in der traditionellen Ökomomie Verkäufer und Käufer an bestimmten Orten ihre Güter und ihre Dienstleistungen tauschen - heute aber tauschen Anbieter und Kunden im globalen Netz eher Informationen. Die Medienpolitik hat vor diesem Hintergrund die Frage zu beantworten, wie geregelt oder ungeregelt der Nutzer auf diesen Markt der Informationen gelangt. Ein Beispiel für Maßregelung will ich anführen. Wir haben bei der Fußball-WM 2002 erleben müssen, dass viele Spiele für die Zuschauer des digitalen Satellitenfernsehens nicht frei zu empfangen waren. Fernsehveranstalter in unseren Nachbarländern sahen sich ob der unverschlüsselten Digital-Ausstrahlung durch ARD und ZDF ihrer Exklusivrechte beraubt. Drohungen folgten, Schadenersatzklagen wurden angekündigt. Diesen Kampf konnten und wollten die öffentlich-rechtlichen Sender nicht führen, weil sie die gesonderten Digitalrechte von der KirchMedia nicht erworben hatten. ARD und ZDF verzichteten deshalb auf die digitale Satellitenausstrahlung. Rund eine Million Haushalte mit etwa drei Millionen Zuschauern blieben in Deutschland fußball-los. Es steht zu befürchten, dass sich dies auch bei der WM 2006 im eigenen Land wiederholt.
Das deutsche Satellitenfernsehen ist europaweit zu empfangen, die Übertragungsrechte aber werden territorial vergeben. Das passt nicht zusammen. Hier werden die Möglichkeiten der Informationsgesellschaft verkleinert, damit sie zu den partiellen Interessen passen. Der grenzüberschreitende "Free Flow of Information" ist ein kultureller Wert, den es zu schützen gilt. Eine Grundverschlüsselung für das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist deshalb keine Lösung. Ein solches Ansinnen führt zu einer Renationalisierung der Rundfunkmärkte und spricht den europäischen Zielen Hohn. Für die Politik wird es keineswegs einfach sein, die gegensätzlichen Interessen von Urhebern, Rechteinhabern, Sendern und Verbrauchern auszugleichen. Es ist für mich undenkbar, dass mit dem technischen Fortschritt ein Rückschritt für Zugang der Nutzer einhergeht. Die grenzüberschreitende Kommunikation darf nicht gefährdet werden. Sie wissen, dass in Europa unterschiedliche Lösungen erwogen werden. Einige planen eine Art "europäische Liste" von Großereignissen, die unverschlüsslt auszustrahlen sind. Andere wieder möchten die Vergabe von Exklusivrechten einer kartellrechtlichen Kontrolle unterziehen. Wir müssen all diese Modelle genau prüfen und die unterschiedlichen Interessen berücksichtigen. In keinem Fall dürfen die Errungenschaften und die Vorteile grenzüberschreitenden Rundfunkempfangs zunichte gemacht werden. Es liegt nämlich in der Natur des Rundfunks und des Fernsehens, dass sie Grenzen überwinden oder gar überflüssig machen. Das wissen wir spätestens seit Thomas Manns Rede "Achtung Europa", das wissen wir seit dem segensreichen, weil aufklärerischen Wirken der westdeutschen Sender wie RIAS oder SFB in der früheren DDR. Wer sich daran erinnert, weiß welchen Stellenwert Informationen besaßen. Sie beschrieben das Leben, wie es mit dem eigenen Erleben übereinstimmte, und sorgten für Erfahrung über die wahren Zustände im Land. Hier offenbarte sich, wie sehr die Bedeutung und der Wert von Informationen vom Empfänger und vom Kontext abhängig ist. Die europäische Idee lebt auch davon, dass wir die Sender unserer alten und neuen Nachbarn empfangen können. Wer jetzt wieder Grenzen aufbaut, bestraft in erster Linie den Nutzer.
Meine Damen und Herren,
wer von der Informationsgesellschaft Erfahrung erwartet, verlangt nach einem exklusiven Privileg. Die Erziehung zur Erfahrung kann und wir nur individuell gelingen. Allerdings darf der Zugang zu Informationen kein Privileg darstellen. Die UNESCO hat sich deshalb für einen "Zugang aller zur kulturellen Vielfalt" ausgesprochen. Wörtlich heißt es in der Erklärung: "Während der freie Fluss von Ideen in Wort und Bild garantiert werden sollte, sollte gleichzeitig sichergestellt werden, dass alle Kulturen sich ausdrücken und bekannt machen können. Meinungsfreiheit, Medienpluralismus, gleicher Zugang zu Kunst und wissenschaftlichen und technologischen Kenntnissen, auch in digitaler Form, und die Zugangsmöglichkeiten aller Kulturen zu den Ausdrucks- und Verbreitungsmitteln sind Garantien kultureller Vielfalt." Wir wissen, dass wir von diesem Ideal noch weit entfernt sind. Ein gewisses Hindernis besteht gewiss in der mangelnden Sprachpluralität. Viele Seiten im Internet sind in englischer Sprache verfasst, und es wird noch etwas dauern, bis wir Zarskoje Selo in kyrillischen oder Tel Aviv in hebräischen Buchstaben in die Suchmaschine werden eingeben können. Außerdem stößt die Forderung nach kultureller Vielfalt immer wieder auch an kulturelle Grund- und Gegensätze. China zum Beispiel lehnt ein verbrieftes Recht auf Meinungsfreiheit kategorisch ab. Andere Staaten teilen diese Ansicht.
Die kulturellen Grund- und Gegensätze sind durch einen gemeinsam proklamierten Wertekatalog nicht einfach auszuräumen. Natürlich bin ich froh, dass die Richtlinie "Fernsehen ohne Grenzen" Auflagen enthält, sollte die körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung von Minderjährigen beeinträchtigt werden. Gleichwohl wird dieser Kanon in den EU-Staaten höchst unterschiedlich interpretiert. Die Europäische Kommission befürchtete dieses Problem und hat deshalb die Auslegung bewusst den Mitgliedsstaaten überlassen. Was also in Deutschland bereits unter Pornografieverdacht steht und strafrechlich verfolgt wird, kann im Nachbarland Österreich bedenkenlos - wenngleich auch nur zu bestimmen Sendezeiten - ausgestrahlt werden. Die unterschiedlichen Maßstäbe zur Bewertung von Gefahren durch Medien beschränken sich aber nicht nur auf Europa allein, sondern führen weltweit zu Auseinandersetzungen.
Ich rede an dieser Stelle noch einmal einem effektiveren Jugendschutz das Wort, obwohl die Bundesregierung hier schon viel erreicht hat. Der Informationsgesellschaft droht Schaden, sollte das Vertrauen in ihre Möglichkeiten abnehmen. Auch hier geht es wieder darum, Erfahrung zu trainieren, die Medien zu nutzen, aber sich nicht von ihnen bestimmen zu lassen. Und noch einmal: Die Möglichkeit, Wissen zu erwerben, muss einhergehen mit einer gewissen Kompetenz, die richtige Information von der falschen zu trennen. Medienerziehung muss Schulstoff sein, und zwar dringend! Das allein reicht aber nicht aus. Wir werden nicht umhinkommen, Kinder und Jugendliche von schädigenden Inhalten strikt fernzuhalten. Ich weiß wohl, dass dies keine innerdeutsche Angelegenheit allein ist. Deshalb appelliere ich an Unternehmer, Nutzer und staatliche Stellen, die ( regulierte ) Selbstregulierung ernstzunehmen. Es ist eine Frage des Mehrwerts, den ein effektiver Jugendschutz für ein Unternehmen haben kann.
Meine Damen und Herren,
natürlich ist es erstrebenswert, dass wir den freien Zugang zur globalen Informationsgesellschaft einfordern. Wir wissen aber auch, dass hier ein Ideal beschrieben wird, das von technischen, sozialen und ökonomischen Komponenten abhängt. Wir können nicht so tun, als wäre die Welt tatsächlich vernetzt. Es gibt viele Entwicklungsländer, die noch auf einen Provider warten. Das Ideal weltweiter Partizipation kann nur auf einem langen, schweren Weg erreicht werden. Das ist ein Weg, der auch den starken Industrieländern des Westens noch einiges abfordern wird. Die ökonomische Basis ist in der Dritten Welt einfach noch zu schwach, um am Austausch der Informationen in ausreichendem Maße teilzunehmen. Dennoch sollte ein Mindeststandard an Grundwerten zum internationalen common sense gehören. In einer politischen Erklärung zum bevorstehenden "Weltgipfel zur Informationsgesellschaft" in Genf wird dem Missbrauch der Informationstechnologien der Kampf angesagt. Ausdrücklich genannt werden kriminelle Verhaltensweisen, die durch Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz, Hass oder Gewalt motiviert sind. Besonders geächtet werden in dem Papier alle Arten des Kindermissbrauchs. Ich halte diese Aussagen für wichtig, aber sie sind mir noch zu abstrakt. Über gemeinsame Grundwerte sollte die internationale Gemeinschaft präzisere Aussagen treffen.
Meine Damen und Herren,
das Informationszeitalter verlangt nach einem modernem Urheberrecht. Die Entwicklung hat die Gesetze überholt. Die Bundesregierung hat damit begonnen, das Urheberrecht auf die Verwertung im Internet auszuweiten. Im September diesen Jahres trat die Novelle in Kraft, die dazu dienen soll, Musik- und Filmindustrie stärker zu schützen. Gleichzeitig wird auf die EU-Richtline Bezug genommen, die das Urheberrecht harmonisieren wird. Auf den Punkt gebracht: Wir reden vom "Zweiten Korb". Mit dem Digital Rights Management ist es bereits möglich, ein Produkt individuell zu vertreiben, gleichzeitig aber Kopierpiraterie zu verhindern.
Raubkopien bedrohen das Werk von Künstlerinnen und Künstlern. Mich empört, dass hier keinerlei Unrechtsbewusstsein herrscht, welcher Schaden einem geistigen Werk entsteht. Der Filmindustrie gehen dadurch jährlich etwa drei Milliarden Dollar verloren. Der Umsatzverlust der deutschen Film- und Videowirtschaft lag im vergangenen Jahr bei 354 Millionen Euro. Das ist eine Umsatzeinbuße von 15 Prozent. Wie eine böse Krankheit hat sich das illegale Kopieren ausgebreitet. Bevor "Findet Nemo" in die Kinos kam, wurde der Disney-Film bereits fleißig aus dem Internet heruntergeladen. Interessant dabei ist, dass nach einer Umfrage von "AT & T" über siebzig Prozent aller Piratenfilme in der Branche selbst kopiert werden. Ich möchte angesichts dieser traurigen Fakten Sonderregelungen im Urheberrecht für die Filmbranche erreichen. Eine Möglichkeit liegt darin, Schutzfristen gesetzlich zu verankern. Wir sollten dafür sorgen, dass die sogenannte "Verwertungskaskade", also Kino, Videotheken, Pay-TV, Free-TV, stabil bleibt. Für jede einzelne Stufe sind die Urheberrechte gesetzlich zu schützen. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wir sollten überhaupt nicht zulassen, dass Filme privat kopiert werden können.
Meine Damen und Herren,
ich glaube nicht, dass die Kultur durch die Informationstechnologien bedroht ist. Im Gegenteil. Neue Techniken eröffnen auch der Kultur neue Wege. Denken Sie nur an den Internetroman. Im Email-Verkehr hat sich gar eine ganz neue Form der asynchronen Kommunikation etabliert. Wir registrieren inzwischen Anfänge einer virtuellen Sprache, die sich sogenannter Emoticons bedient. Inzwischen existieren ganze Listen mit Codes, die Gestik, Mimik ersetzen und Emotionen ausdrücken sollen. Satzzeichen, die, gescheit gelesen, anzeigen sollen, ob der Mailpartner lacht, weint oder raucht, haben Eingang in unsere Populärkultur gefunden. Außerdem gilt die Nutzung des Internets als Chance für unser Bildungswesen "Der Dialog mit Partnerklassen im Ausland über E-Mails im Fremdsprachenunterricht als einfachstes Beispiel trägt auf jeden Fall dazu bei, Sprachenlernen interessanter zu gestalten", schreibt der IBM-Abteilungsleiter Oliver Mast. Dem ist nur zuzustimmen. Die Informationsgesellschaft verlangt nach einer gewissen Fähigkeit zur Wahrnehmung, nach Urteilskraft und unabhängigen Dingen. Also nach Fähigkeiten, die man im Umgang mit den Künsten vortrefflich trainieren kann. Es wird darauf ankommen, ob man sich den Informationstechnologien lediglich aussetzt, oder aber sie mit eigener Intelligenz nutzt: um der Kultur willen.