Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 26.01.2004
Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem Innovationskongress "Deutschland. Das von morgen" am Montag, 26. Januar 2004, 12.00 Uhr, in Berlin
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/47/595747/multi.htm
eine Vorbemerkung: Ich habe aufmerksam die Berichterstattung über unser gemeinsames Vorhaben gelesen, und in dem einen oder anderen Blatt fand ich weniger eine Auseinandersetzung mit den Inhalten einer Innovationsoffensive als mehr die Frage erörtert, ob ich der Bildungsministerin die Themen wegnehme. Ich will hier sehr deutlich sagen, und das soll auch zum Ausdruck kommen, dass das wirklich nicht der Fall sein soll und es nicht ist; denn ich finde die Arbeit, die Frau Bulmahn macht, sehr gut, und ich unterstütze Sie wirklich von Herzen.
Ich will hier gleich zu Anfang sagen: Hinter dieser Form der Berichterstattung steht auch ein merkwürdiges Verständnis von den Aufgaben einer Regierung, nämlich das Verständnis, dass ein gesamtgesellschaftliches Thema eines sei, dass sozusagen bürokratisch abgearbeitet werden könnte oder müsste, strikt nach der Regel "Zu dem Thema darf nur jemand etwas sagen, der auch zuständig ist". Es ist ja in Deutschland so, dass man nur dann reden darf, wenn man zuständig ist. Da ich nun sozusagen "all-zuständig" bin, darf ich auch über dieses Thema - wie übrigens auch über andere Themen - reden. Alle gelegentlichen Mutmaßungen, die damit verbunden werden, sind schlicht falsch.
Nach den sehr konkreten Ankündigungen, die Frau Bulmahn gemacht hat und die wir im Übrigen auch gemeinsam erarbeitet haben, will ich mich mit ein paar grundsätzlichen Fragen beschäftigen. Es geht zum Beispiel um die Frage, was denn "Modernisierung" in unserer Gesellschaft heißt, was eine "moderne Gesellschaft" oder auch einen "modernen Staat" ausmacht. Das ist eine Debatte, die nicht erst seit ein paar Wochen geführt wird, sondern die permanent geführt wird und auch geführt werden muss. Sie beschränkt sich übrigens keineswegs auf Deutschland allein, sondern sie ist längst zu einer europäischen und internationalen Diskussion geworden. Dies hängt damit zusammen, dass wir den Begriff vor dem Hintergrund wirklich radikaler Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft, aber auch in der Gesellschaft selbst, neu klären und bestimmen müssen.
Was eine moderne Gesellschaft und ein moderner Staat sind, lässt sich sicherlich nicht in ein paar Sätzen erfassen. Aber ein Grundsatz, der sich mehr und mehr herausbildet, scheint mir - auch unter den Bedingungen der Globalisierung - ziemlich universell gültig zu sein: Modern ist, jedenfalls nach meinem Verständnis, eine Gesellschaft, die alles daran setzt, das grenzenlose Wissen, das wir als Menschheit inzwischen haben, zu nutzen und zu vermehren - aber das allein würde nicht ausreichen - , und zwar so zu nutzen und zu vermehren, dass dieses Wissen der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird und die Menschen, und zwar möglichst alle Menschen, in einem sehr umfassenden Sinne daran teilhaben können.
Während es zu Zeiten der Aufklärung noch um die Befreiung des Wissens und des Denkens von weltanschaulichen Beschränkungen und auch politischer Zensur ging, kam in der Industriegesellschaft schon bald die soziale Verantwortung als Element der Modernisierung hinzu. Und zwar als Verantwortung für die Folgen wissenschaftlich-technischer Prozesse und Erkenntnisse, aber vor allem auch als Verantwortung für die gerechte Verteilung der Chancen, damit auch alle in den Genuss des Wissens und seiner Produkte kommen können.
In diesem Sinne sind wir heute im Begriff, eine neue Stufe der Modernisierung zu nehmen, und zwar, indem wir die Förderung wissenschaftlicher Erstklassigkeit mit der Innovation unserer sozialen Verantwortung verbinden. Und indem wir auf allen Ebenen die Anwendung der Forschung und des Wissens verbessern, aber eben auch den Zugang zum Wissen verbreitern und vertiefen. In diesem Sinne, Frau Vorrednerin, war die Ankündigung gar nicht falsch. Dann ist es eben ganz gut, wenn man über eigene Erfahrungen verfügt, was Zugangsschwierigkeiten angeht, und wenn man nicht vergisst, dass es Aufgabe ist, diese Zugangsschwierigkeiten zu überwinden, übrigens keineswegs nur aus Gründen der Gerechtigkeit, sondern schlicht auch aus ökonomischer Vernunft. Eine Gesellschaft wie die unsere kann es sich buchstäblich nicht leisten, eine einzige Begabungsreserve in unserem Volk unausgeschöpft zu lassen. Das ist gemeint, wenn über Teilhabe geredet wird.
Wenn wir also eine moderne, demokratische und soziale Gesellschaft sein wollen, dann müssen unsere Strukturen des Lernens und Forschens, aber auch die Strukturen von Wirtschaft, Arbeit und politischen Entscheidungen mit diesem Wissen Schritt halten. Das moderne Wissen eröffnet uns außerordentliche Möglichkeiten. Nur wenn wir diese Möglichkeiten auch ausschöpfen, werden wir im internationalen Wettbewerb bestehen. Aber gerade weil wissenschaftliche Innovation und gesellschaftliche Modernisierung soziale, ökologische und auch internationale Verantwortung einschließt, müssen sich der Staat, aber auch die gesellschaftlichen Kräfte gemeinsam dieser Aufgabe stellen, damit wir im globalen Modernisierungswettbewerb nicht zurückfallen und damit Innovation auch wirklich der ganzen Gesellschaft zugute kommt.
Während der Reformdebatte um die einzelnen Maßnahmen der "Agenda 2010" habe ich immer wieder betont, dass es eben nicht allein um kurz- oder auch mittelfristige Einsparungen geht. In der öffentlichen Auseinandersetzung um die Reformen und erst recht bei der komplizierten Entscheidungsfindung in unseren föderalen Gremien ist gelegentlich zu kurz gekommen, dass es sich bei der "Agenda 2010" um ein umfassendes Modernisierungsprogramm handelt. Ein Programm, das eben beides beinhaltet: die Anpassung der sozialen Sicherungssysteme - um unseren Sozialstaat bezahlbar zu halten und zukunftstauglich zu machen - , aber als Kehrseite der Medaille auch das Umsteuern zu einer eindeutigen Orientierung auf Innovation und Zukunfts-Investitionen. Unser Modernisierungskurs - es ist mir wichtig, gerade das in einem solchen Auditorium zu betonen - wird nur gelingen, wenn er auf beiden Achsen verläuft. Wir brauchen beides, soziale Reformen und wissenschaftlich-technische Innovation, um nachhaltiges Wachstum erreichen zu können. Ein solches Wachstum aber ist Bedingung für Wettbewerbsfähigkeit und für eine soziale, solidarische Gesellschaft.
Wir brauchen Innovation in unseren sozialstaatlichen Strukturen. Aber wir brauchen den Sozialstaat, um in der Gesellschaft das Klima und die Bedingungen für mehr Innovation und mehr Wissen zu verbessern. Also gilt: Ohne Innovation kein Wachstum, keine soziale Sicherheit und auch keine Teilhabe. Aber es gilt eben auch: Ohne Teilhabe, ohne soziale Gerechtigkeit, die erst die Fähigkeiten eines jeden Einzelnen mobilisieren - übrigens nicht nur mobilisieren, sondern auch einfordern - , kann, bleiben die Chancen des Wissens nur wenigen vorbehalten und die Potenziale unserer Gesellschaft werden nicht hinreichend genutzt. Drittens gilt die jedem Haushaltsvorstand bekannte Weisheit, dass ein Euro nur einmal ausgegeben werden kann.
Wir mussten und wir müssen also in gewissem Maße umverteilen - von Vergangenheits-Subventionen zu Zukunfts-Investitionen. Man darf daraus übrigens keinen Gegensatz konstruieren, etwa so, als ob wir soziale Sicherheit und Gerechtigkeit aufgeben müssten, um die Chancen für Innovationen besser nutzen zu können. Im Gegenteil: Die Gesellschaften, die früher als wir mit einem solchen Modernisierungskurs begonnen haben - etwa, wenn ich an die skandinavischen Länder denke - , konnten nur deshalb erfolgreich sein, weil es ihnen gelungen ist, verstärkte Anstrengungen in Bildung, Forschung und Innovation auch als sozialen Fortschritt für die gesamte Gesellschaft und damit auch für die Wahlbevölkerung erkennbar zu machen. Es geht also auch um die Legitimation dessen, was wir an Zukunftspolitik vor uns haben und was wir - möglichst gemeinsam - voranbringen wollen.
Unsere Aufgabe ist auch: Wir wollen unsere gute Infrastruktur, unser leistungsfähiges Gesundheitssystem erhalten und so ausbauen, dass die soziale Absicherung verlässlich bleibt und die Wettbewerbsfähigkeit verbessert wird. Beides gehört zusammen. Wir wollen und wir müssen unsere Bildungs- und Ausbildungssysteme so erhalten und ausbauen, dass jede und jeder die Chance auf Zugang zu allen Bildungsinstitutionen und als Folge dessen natürlich auf einen guten und sicheren Arbeitsplatz hat, der es ermöglicht, Leistungsfähigkeit, Kreativität und Motivation wirklich optimal zu entfalten. Es bleibt nach meiner Auffassung das Ziel jeder Modernisierung, Menschen die besten Möglichkeiten zu geben, damit sie ihr Leben in Freiheit, aber auch in der Sicherheit, die sie brauchen, selbst gestalten können.
Wir brauchen schließlich auch das Bewusstsein, dass wir es mit einem langfristigen Prozess zu tun haben, Innovation also nie aufhört, so, wie auch das Lernen und das Wissen nicht enden, weil wir irgendwann einmal Zeugnisse und Abschlüsse erworben haben. An der Innovation - also am Erfindergeist einerseits, und an der verantwortlichen und nutzbringenden Anwendung von Forschungsergebnissen andererseits - entscheidet sich unsere Zukunftstauglichkeit. Gerade in der Globalisierung des 21. Jahrhunderts stellt sich die Frage immer wieder aufs Neue: Womit werden die Menschen in Deutschland morgen gutes Geld verdienen? Wofür können und sollen sie ihre Kreativität und Leistungsfähigkeit einsetzen?
Unser Land verfügt nicht über nennenswerte Rohstoffreserven. Wir sollten übrigens aus guten Gründen auch nicht versuchen, Niedriglohnländern bei der Produktion preiswerter Gebrauchsartikel Konkurrenz zu machen. Weil das so ist, kann unsere Antwort nur lauten: Unsere Zukunft, das sind Vorsprünge bei der Innovation, bei den technischen Verfahren und bei neuen, hochwertigen Qualitätsprodukten, bei der Entwicklung und Anwendung von integrierten Lösungen wesentlicher Probleme und Bedürfnisse von Menschen überall in der Welt: Etwa im Bereich von Verkehr und Energie, in der Biologie- , Medizin- und Pharmatechnik, bei nachhaltigen Techniken in der Landwirtschaft und Rohstoff-Extraktion, bei Information und Kommunikation. Das sind die Felder, die wir als Schwerpunkte bearbeiten müssen. Aber natürlich geht es auch um moderne Dienstleistungen und erstklassige Standards in Wissenschaft und Kultur. Wenn wir uns darin einig sind, dass das unsere Zukunftschance ist, dann folgt daraus, dass Bildung und Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Innovation der Produkte, aber auch der Produktion die entscheidenden Zukunftsfelder sind.
Dabei haben wir keine schlechten Startvoraussetzungen, und mir ist wichtig, dass das auch und gerade im internationalen Wettbewerb betont wird. Wenn unsere Produkte nicht qualitativ hochwertig und technologisch erstklassig wären, wäre Deutschland im vergangenen Jahr sicherlich niemals Export-Weltmeister geworden; denn wir mussten uns auf internationalen Märkten behaupten. Auch dies will ich immer wieder sagen: Wir mussten und konnten uns in einer Situation behaupten, in der wir immer noch - wie kein anderes Land der Welt - netto vier Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes von West nach Ost transferiert haben. Das sind jedes Jahr netto 83 Milliarden Euro. Ich wage gar nicht, mir auszumalen, wir hätten auch nur zehn Prozent dessen, um den Forschungs- und Entwicklungshaushalt auf die Stufe zu bringen, die sicherlich alle erwarten. Ich sage das nicht als Entschuldigung, aber schon als Erklärung, damit wir uns im internationalen Wettbewerb nicht immer schlechter machen, als wir es sind.
Auch bei den Produktinnovationen sind wir in den vergangenen Jahren vorangekommen, was in wichtigen Industriebereichen keineswegs selbstverständlich war. Zum Beispiel in der Automobilindustrie galt es Anfang der 80er Jahre fast schon als ausgemacht, dass deutsche Produkte auf den Weltmärkten keinerlei Chance gegen die Konkurrenz etwa der japanischen Industrie hätten. Es ist den deutschen Herstellern gelungen, sich durch eine wahre Revolution bei der Fahrzeugherstellung wieder an die Weltspitze zu kämpfen und sich dort auch zu behaupten. Das Beispiel zeigt, dass technische Innovation allein nicht ausreicht. Der Quantensprung in der Automobilindustrie konnte nur gelingen, weil eine ganze Innovationskultur entwickelt wurde: von technologischen Entwicklungen zur Optimierung von Verfahrensabläufen bis zur besseren Abstimmung von Lieferzeiten und intelligenteren Arbeitsorganisationen.
Innovation entsteht also nicht nur in ein paar Spitzeninstituten und durch gezielte Förderung von Bildung und Wissenschaft. Man braucht auch eine umfassende Innovationskultur. Dazu gehört eine Arbeitsorganisation, die Kreativität und Erfahrung der Mitarbeiter mobilisiert, die Autonomie und damit Flexibilität fördert, und in der Mitsprache und Teilhabe nicht als Bedrohung empfunden werden.
Ich will das auch vor dem Hintergrund laufender Verhandlungen sagen: Das Teilhaberargument ist inzwischen eines, dass auch wirtschaftliche Vernunft in sich trägt. Die fortschrittlichsten, am Markt interessantesten und erfolgreichsten Unternehmen sind die, die es durch Teilhabe am Haben und am Sagen schaffen, bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jeden Tag Höchstleistungen zu mobilisieren. Das ist nicht durch Kommandostrukturen zu ermöglichen, sondern das ist nur durch Mitsprache erreichbar, die klare, schnelle Entscheidungen nicht verbaut, aber die jedem Einzelnen das Gefühl gibt, dass er an der Art und Weise des Produzierens in dem Maße, wie es richtig ist und ihm zukommt, beteiligt ist.
Dazu gehört eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Selbständigkeit, aber auch die Risikobereitschaft fördert, die wir brauchen. Dazu gehört auch eine aktive Rolle des Staates, der gerade bei der Innovation unverzichtbar ist. Ohne einen effizient arbeitenden Staat, der für Infrastruktur, intelligente Regeln und Gesetze, aber auch für Investition, Nachfrage und Anwendung sorgt, gibt es keine Kultur der Innovation. Das ist ja nicht der alles regelnde, jeden bevormundende Staat, sondern es ist der Staat, der Teil der Gesellschaft ist und als solcher fördernd eingreift. Innovation braucht starke staatliche Investitionen, und sie braucht den Staat als Auftraggeber und auch als Kunden.
Schließlich braucht eine Kultur der Innovation eine Politik der offenen Gesellschaft: offen nach innen, indem wir soziale Mobilität nicht nur ermöglichen, sondern erleichtern, und offen für technische und wirtschaftliche Eliten, die sich durch ihre Verdienste ausweisen, nicht durch ihren oder ihrer Eltern Verdienst. Wir müssen offen sein gegenüber anderen Kulturen und Menschen mit anderem ethnischen, religiösen oder sozialen Hintergrund. An diesem Punkt ist es übrigens nicht nur eine Frage einer Kultur einer Gesellschaft, ein modernes Zuwanderungsrecht zu schaffen, sondern es ist geradezu ein Grundsatz der ökonomischen Vernunft, sich unter diesem Aspekt eben nicht abzuschotten, sondern den ernst gemeinten und geglückten Versuch zu machen, von anderen Kulturen zu lernen. Wer das will, der muss auch durch ein modernes Zuwanderungsrecht, das Zuwanderung steuert und sie womöglich auch begrenzt, aber das eben offen genug ist, dafür sorgen, dass das möglich ist.
Ich habe die Hoffnung, dass nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Diskussion über die notwendigen Innovationen in unserer Gesellschaft in der nächsten Zeit ein solches Zuwanderungsrecht zu schaffen ist. Ich weiß - nicht erst seit Dezember letzten Jahres, aber auch seit dieser Zeit - , wie schwierig es ist, so etwas in unseren föderalen Strukturen durchzusetzen. Ich habe aber die Hoffnung, dass alle politischen Kräfte erkennen, dass es ein ganz wesentlicher Aspekt nicht nur der Offenheit unserer Gesellschaft ist, sondern auch ein wesentlicher Aspekt ökonomischen Erfolges sein wird, das hinzubekommen.
Wir haben den Anfang gemacht. Wir haben Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerkschaften an einen Tisch gebracht. Dazu haben wir die Initiative "Partner für Innovation" gegründet. Unser Ziel ist, mit breiter gesellschaftlicher Beteiligung im Jahr 2004 eine umfassende, nachhaltige Innovationsinitiative in Gang zu bringen.
In diesem Zusammenhang ist mir übrigens wichtig, dass wir dafür gesellschaftliche Unterstützung bekommen. Gelegentlich - nicht nur auf Auslandsreisen, aber dabei auch - fragt man sich ja, worüber wir eigentlich diskutieren, wenn es um die Frage geht, die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu erlangen. Die Debatten der letzten Zeit dürfen so nicht bestehen bleiben. Dieses Land verändert seinen sozialen Charakter nicht, weil man einmal im Vierteljahr zehn Euro beim Arzt abliefern muss. Man muss wirklich endlich einmal in die Köpfe in unserer Gesellschaft bekommen, dass das nicht das zentrale Problem und nicht eine Frage von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit ist, sondern dass über die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft wirklich entscheidet, ob wir es schaffen, über Innovationen neue Verfahren, neue Produkte und damit neue Möglichkeiten zu schaffen. Ich würde mir wünschen, dass sich alle beteiligten Verbände und die Interessierten wirklich einmal über dieses Thema verbreiteten. Ich finde es an der Zeit, dass wir eine solche Debatte führen.
Uns ist bewusst - das will ich hier genauso klar sagen - , dass Innovation kein vom Staat oder von außen verordneter Prozess sein kann. Es gibt keine Möglichkeit für eine Regierung, einen Innovationsplan für ganz Deutschland zu oktruieren. Aber gemeinsam mit den "Partnern für Innovation" können und müssen wir einen Prozess in Gang setzen, ihn fordern und ihn unterstützen: durch intelligente Normsetzung, durch Koordination und Vernetzung der Beteiligten, durch Erschließen von Zukunftstechnologien und durch Impulse für die Entwicklung neuer Märkte.
Ziel der "Partnerschaft für Innovation" ist es, das innovative System in Deutschland auf allen Ebenen zu stärken. Also müssen und werden wir Hemmnisse abbauen und auf diese Weise neues Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Menschen in unserem Land schaffen. Ich bin sicher: Gemeinsam können wir es schaffen, optimale Rahmenbedingungen für eine solche Innovationsoffensive zu schaffen.
Die Bundesbildungsministerin hat in ihrer Rede einige sehr präzise Ankündigungen gemacht, und ich unterstreiche das, was sie gesagt hat, ausdrücklich. Sie können sicher sein, dass die Bundesregierung zu ihren Ankündigungen stehen wird. Diejenigen, die bereits jetzt darüber schreiben, ob wir das durchgesetzt bekommen werden - das wird auch nicht ganz leicht sein; das gebe ich zu - , will ich übrigens nur daran erinnern, dass wir ähnliche Fragen auch im vergangenen Jahr gehört haben. Also bitte ich sie, sich anzuschauen, wie wir die "Agenda 2010" bisher umgesetzt haben - auch daran hatten im März letzten Jahres einige nicht so sehr glauben wollen - , übrigens unter erheblichen Schwierigkeiten umgesetzt haben.
Es gibt in unserem Land eine allgemeine Reformbereitschaft, die aber sehr abstrakt ist. Wenn diese allgemeine Reformbereitschaft, der 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zustimmen, konkret wird - wohlgemerkt, wenn es sie selber betrifft und belastend betrifft - , dann schlägt diese Reformbereitschaft sofort in ihr Gegenteil um, ist jedenfalls immer in dieser Gefahr, und zwar übrigens mit verheerenden Auswirkungen auf Umfragen.
Trotzdem darf man dies nicht zum Maßstab von Politik machen. Das haben nicht immer nur die anderen, sondern auch wir gemacht. Aber wir haben eben auch den Mut gehabt, eine solche "Sankt-Florian-Politik" zu beenden. Ich denke, dass wir es schaffen werden, vor diesem Hintergrund auch die notwendigen Prioritäten für das zu setzen, was gleichsam die Kehrseite der Medaille dessen ist, was wir im vergangenen Jahr zu tun hatten.
Ich will nicht, dass Missverständnisse aufkommen. Dem internationalen Wettbewerb um Erstklassigkeit können wir uns nicht allein im Nationalstaat stellen. Es ist wichtig, die eigenen Dinge in Ordnung zu bringen. Aber es wäre falsch zu glauben, dass wir es alleine schaffen können. Deshalb ist das, was wir in Lissabon für die Europäische Union beschlossen haben, so bedeutsam: Wir wollen, und wir können nicht einen Staat allein an die Spitze bringen, sondern wir müssen Europa an die Spitze bringen. Wir wollen also, dass Europa die wachstumskräftigste, die am meisten dynamische, jedenfalls die innovativste Region wird. Europa ist aufgrund seiner großen geistigen und wissenschaftlichen Tradition dazu fähig. Europa ist aber auch aufgrund seiner einzigartigen Kultur der Teilhabe und der Chancengerechtigkeit dazu fähig, weil auch das hilft, Wettbewerb zu bestehen. Aber auch Europa wird diese Chance nur nutzen können, wenn Deutschland mit der größten Volkswirtschaft und als einwohnerstärkstes Land die nötige Schubkraft aufbringt und die nötige Zukunftsfähigkeit entwickelt.
Dafür müssen wir allen Menschen in diesem Land die Chance geben, ihre kreativen Potenziale zur Geltung zu bringen. Das fängt mit der Förderung und Betreuung der Kleinsten an. Die Bundesregierung wird dazu noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf vorlegen. Das betrifft die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und das betrifft die Einbindung des Wissens und der Erfahrung von älteren Beschäftigten.
Die Betreuungsfragen, die so scheinbar nichts mit Innovation zu tun haben, haben eine enorme Bedeutung. Wir werden - und das mag bei mehr als vier Millionen Arbeitslosen zur Zeit etwas utopisch klingen - aber schon in der zweiten Hälfte dieser Dekade erhebliche Probleme bei der Rekrutierung von gut ausgebildeten Arbeitskräften haben. Wer glaubt, wir könnten diese Frage, die uns dann unmittelbar angeht, allein durch Zuwanderung regeln, überschätzt die Integrationsmechanismen in unserem Land. Die Konsequenz, die wir nicht nur wegen des Gesichtspunktes der Geschlechtergerechtigkeit, sondern auch aus purer ökonomischer Vernunft ziehen müssen, ist eindeutig: Wenn wir es nicht schaffen, über verbesserte Betreuung das gewaltige Arbeitskräfte-Potenzial, die Kreativität, die Leistungsbereitschaft gut ausgebildeter Frauen für die Gesellschaft, für die Arbeitsgesellschaft nutzbar zu machen, dann werden wir verlieren.
Das ist der Grund, warum es uns insgesamt wichtig ist, auf diesem Sektor wenigstens nicht nur mit den Skandinaviern gleich zu ziehen, sondern auch etwa mit den Franzosen. Das hat auch noch einen anderen Aspekt. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir die gefährlich umgedrehte Alterspyramide in unserer Gesellschaft auch nur ein wenig nachjustieren könnten, wenn es uns nicht gelingt, Frauen die Möglichkeit zu eröffnen, Kinder zu haben und gleichzeitig berufstätig zu sein. Alle Erfahrungen, die in anderen Ländern gemacht worden sind, zeigen, dass es eine positive Korrelation zwischen Betreuung und dem Wunsch und Willen nach Kindern gibt.
Wir müssen entlang der gesamten Bildungskette, auch bei der primären Bildung mehr tun. Die Pisa-Studie, die ja in vielfacher Hinsicht auch missinterpretiert worden ist, ist jedenfalls in einem Punkt gar nicht kontrovers zu interpretieren. Wir brauchen mehr Zeit zum Fördern, aber auch zum Fordern unserer Kinder.
Das hat übrigens zwei Aspekte:
Erstens hat Pisa deutlich gemacht - das war für mich im Grunde der erschreckendste Befund - , dass in unserem Schulsystem Selektion entlang sozialer Gegebenheiten, vor allen Dingen entlang sozialer Herkunft viel zu früh stattfindet, und dass wir aufgrund dieser Tatsache nicht in der Lage sind, das Maß an Potenzial zu erlangen, das es in dieser Gesellschaft gibt und das wir nutzen müssen.
Zweitens. Wir haben mit dem Ganztagsschulprogramm reagiert und geben denen, die zuständig sind, viel Geld, um schnell weiterzukommen. Ich kann nur hoffen, dass davon unbürokratisch Gebrauch gemacht wird.
Mit den geringen Zuständigkeiten, die wir als Bund haben, haben wir eine regelmäßige Evaluation im Bildungsbereich angestoßen, damit permanent herausgefunden werden kann, was wo verbessert werden muss. Wir haben uns für die Erstellung nationaler Bildungsstandards eingesetzt. Der erste Bericht dazu liegt vor.
Das geht weiter bei den Universitäten. Es gibt eine Menge, was erreicht worden ist, etwa Bachelor- und Master-Studiengänge, die unsere bewährten und international renommierten Diplomabschlüsse ergänzen. Wir fördern innovative Fachbereiche. Wir reformieren das Dienstrecht.
Übrigens, meine eigene Erfahrung bei dieser Dienstrechtsreform war auch, dass keineswegs alle, die Innovation das Wort reden, wenn es zum Beispiel um das eigene Dienstrecht geht, mit der gleichen Begeisterung reden und öffentlich auftreten, als handelte es sich um abstrakte Forderungen. Auch hier - das muss man in einem solchen Kreis einmal sagen dürfen - stellt sich diese bereits gekennzeichnete Differenz ein zwischen der allgemeinen Reformbereitschaft und - forderung einerseits und der Situation, wenn es einen dann selber betrifft andererseits. Wir haben ein leistungsfähiges System der Studienförderung und damit zwar nicht die Garantie, aber doch eine weit gehende Garantie, dass jeder unabhängig vom Geldbeutel studieren kann.
Wir müssen aber auch endlich international sichtbarer machen, mit welch hoher Qualität in Deutschland geforscht und gearbeitet wird. Dass wir exzellente Studenten und Wissenschaftler haben - übrigens im Umkehrschluss zu dem, was häufig beklagt wird - , sieht man daran, wie begehrt sie im Ausland sind. Das Problem, das wir haben, ist doch nicht, dass sie nicht gut sind, sondern dass sie nicht hier bleiben. Das müssen wir verändern.
So gesehen ist das, was man "brain drain" nennt, in gewisser Weise ein Qualitätsmaßstab und Qualitätszeugnis für unsere Ausbildung. Aber es ist zugleich ein Zeichen für gewachsene Internationalität in Deutschland. Auch das sollte nicht ständig versteckt werden. Internationalität ist heute nicht nur entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch für die Chancen einer friedlichen Entwicklung in der Welt. Schon deshalb müssen und werden wir auf diesem Gebiet besser werden.
Deutschland weiter zu modernisieren und Innovation in sozialer Verantwortung zu schaffen, das kann nur gelingen, wenn man diese Aufgabe nicht allein bei einer Regierung ablädt, sondern wenn man die gesellschaftlichen Kräfte im Land mobilisiert, die zum Mitmachen bereit sind. Das wollen wir tun.
Es gibt also eine Menge Arbeit. Das erstreckt sich vom Ziel, endlich wieder ein kinderfreundliches Land zu werden - warum eigentlich nicht das kinderfreundlichste Land Europas? - bis zu der Vorgabe, dass die Nobelpreisträger, die bei uns ausgebildet werden, auch bei uns forschen und arbeiten. Wir brauchen dazu die Mitarbeit der Wirtschaft, auch der Gewerkschaften, der Forscher und der Hochschulangehörigen, aber vor allen Dingen die Fantasie und die Initiativen einer wahrhaft zivilen Gesellschaft.
Der Wohlstand von morgen, den wir auf diese Weise schaffen werden, ist keine selbstverständliche, aber auch keine eintönige Angelegenheit. Wer das Wissen vertiefen und neues Wissen anwenden will, der muss - lassen Sie mich das so sagen - Lust auf Neugier machen. Derjenige braucht übrigens auch ein bisschen mehr Glauben an die Zukunft, mehr als das Suchen nach der nächsten Blockademöglichkeit. Er muss also mehr weg vom Nein und mehr hin zum Ja, wenn ich das einmal sehr einfach sagen darf.
Wir haben eigentlich hervorragende Voraussetzungen, um die Modernisierung nicht nur zu erleiden, sondern sie zu gestalten. Wenn wir nämlich auf Gestaltung verzichten, dann wird gestaltet, und zwar ohne uns und an uns vorbei.
Wir haben im vergangenen Jahr gezeigt, dass wir zu Reformen fähig sind, auch wenn die Umsetzung mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist. Wir müssen jetzt zeigen, und zwar auch anderen, dass wir auch zur Zuversicht fähig sind und dazu, die wirklich großen Möglichkeiten zu nutzen, die uns die Verbreitung des Wissens überall in der Welt verspricht, um damit unserem Land eine wirklich gute, weil auf Wissen gebaute Perspektive zu geben.
Kongresse wie diese sind gewiss hilfreich dazu. Nehmen Sie es bitte so, wie ich es sage: Diese Regierung braucht Ihre Unterstützung, und dass Ihre Unterstützung nicht wohlfeil ist, sondern immer kritisch sein wird, das haben wir in den letzten Jahren der Zusammenarbeit begreifen müssen, manchmal mit Schmerzen, aber auch immer mit Freude an einer geistigen, unser Land weiterbringenden Auseinandersetzung.