Redner(in): Christina Weiss
Datum: 29.01.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss erläutert ihre Vorstellungen zur Notwendigkeit ästhetischer Bildung von Kindern und Jugendlichen auf dem Kongress "Kinder zum Olymp" am 29. Januar 2004 im Gewandhaus zu Leipzig
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/33/598033/multi.htm


Was soll ein Mensch wagen?

bitte erlauben Sie mir, die Grundfrage "Was soll ein Mensch können?", die Herr Mussbach soeben hervorragend beantwortet hat, um eine kleine, aber wichtige Nuance zu variieren: Neben dem "Was soll ein Mensch können?" möchte ich mit Ihnen die Frage diskutieren: "Was soll ein Mensch wagen?" Wie weit soll, wie weit muss er gehen, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen - den Olymp der Bildung; den Olymp der AUSBILDUNG von Wahrnehmungsfähigkeit, Verstand und Emotion, kurz: den Olymp ästhetischer Bildung?!

So einfach, wie die Frage ist, so einfach scheint mir auch die Antwort, und ich nehme sie gern vorweg: Er muss alles wagen, er muss all seine Fähigkeiten aufspüren, all seine Kraft zusammennehmen und er muss jedes Angebot, jede Hilfe von Freunden, von Vorbildern, von Lehrern auch und von der Familie suchen, denn bei seiner Aufgabe handelt es sich um nichts geringeres als um eine Grenzüberschreitung. Eine unablässige Grenzverschiebung, um genau zu sein, denn mit jeder gelungenen "Entgrenzung" bildet der neue Horizont die nächste Grenze. Es ist die Grenze unserer Wahrnehmungskraft und unserer Fähigkeit, sie als Herausforderung zu sehen.

Sie alle haben - ich bin mir sicher - diese Grenze schon oft überschritten. Sie gehören zu diesen Menschen, die stets auf der Suche sind nach neuen Bildern, nach ungehörten Tönen, nach jenen Worten und Sätzen, die sich ins Bewusstsein brennen, die unter die Haut gehen und im besten Fall sogar das Herz berühren. Sie alle kennen jenes beglückende, mitunter auch verwirrende Gefühl entgrenzter Wahrnehmung, das Heinrich von Kleist nach seiner ersten Begegnung mit Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer" so unübertroffen beschrieb: "Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, ( ... ) und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts als den Rahmen zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären." Als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären "--- der Preis den ich für die Grenzüberwindung, die mir vorschwebt, zu zahlen fordere, ist hoch, und nur ein Romantiker wird glauben, dass dieser Preis von allen gerne gezahlt würde. Wenn es so wäre, dann säßen wir nicht hier. Die Realität sieht - Sie wissen es alle - ganz anders aus. Unsere Umwelt, unser Leben ist nicht nur zunehmend geprägt von mangelnder ästhetischer Bildung allgemein. Sie ist geprägt von zu viel Mutlosigkeit und Desinteresse, vor allem aber von einer unglaublichen Selbstbescheidung. Menschen aller Altersgruppen und aller sozialen Schichten haben es sich bequem gemacht in jener bunten, flackernden Welt aus Entertainment, Infotainment und Reality-TV. Einer Welt, die uns die wirkliche Welt aber nur vorgaukelt. Einer Erfahrungswelt aus zweiter Hand, in der" Drei Tenöre ", die die Evergreens der Opernliteratur singen, schon für Opernkunst gehalten werden; einer Welt, in der diktierte Biographien kurzlebiger Alltagsstars als Literatur gelten. Wir beginnen zu akzeptieren, dass jede technische Entgrenzung, ob sie nun ISDN, MP3 oder DVB-T heißt, zu einer weiteren ästhetischen Verarmung führt. Und diese schleichende Akzeptanz, der freiwillige Verzicht auf ästhetische Qualität, ist das wahre Übel: Im viel gerühmten globalen Dorf hängt kein" Mönch am Meer ", kein Krug zerbricht, kein Flötenspiel verzaubert. Kein Olymp nirgends.

Ich möchte nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Mir ist nicht daran gelegen, die plumpe Medienkritik der 90er Jahre wiederzubeleben. Die elektronischen Medien gehören zu unserem Leben, und längst gibt es auch hier Grenzgänger, die unsere elektronische Kultur um elektronische "Medienkunst" bereichern - deren Protagonisten ( das sei angemerkt ) präsentieren sich ab morgen auf der "Transmediale" im Berliner "Haus der Kulturen der Welt". Was ich kritisieren möchte, ist der längst zum Allgemeingut gewordene Verzicht auf das bewusste und gar noch aktive Überwinden der eigenen Wahrnehmungsgrenzen. Selbst die Alltagssprache hat sich längst mit jenem Missverständnis abgefunden, das "ästhetisch" als "schön" versteht. Wir leben in ästhetisch gestylten Räumen mit Wellness-Emotionen, genießen ästhetisch präsentierte Speisen und finden unsere Gesprächspartner ästhetisch - oder eben auch nicht. Dass "ästhetisch" im Grunde ein kunsttheoretischer Begriff ist und sich auf den Anspruch eines Werkes bezieht, als Kunst bezeichnet und - mit Rührung - wahrgenommen zu werden, ist in Vergessenheit geraten. Ästhetische Bildung gilt als Freizeitverschwendung einer ältlichen Elite. Und, man muss es so deutlich sagen: es gibt kein zweites gesamtgesellschaftliches Defizit, das in Deutschland so gelassen akzeptiert wird. Bereitwillig schieben wir die Schuld an dieser Misere den Medien zu, um nicht bemerken zu müssen, dass die Katastrophe dieses Bildungsmangels von uns selbst ausgeht. Und ich gehe dabei nicht davon aus, dass es uns nur an Wissen mangeln würde. Ich befürchte, dass wir schlicht nicht mehr in der Lage sind, die Instrumente der neugierigen Wahrnehmung, die den Verstand und das Gefühl trainieren, zu benutzen.

Was sollen wir wagen, um dieses Problem zu lösen? Sie ahnen es: alles. Auch ohne eine PISA- oder IGLU-Studie zum Stand der ästhetischen Bildung in Deutschland wissen wir, an wen wir uns zu wenden haben: An jene, die noch spontan Lust darauf haben, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, deren Neugier und deren Mut noch nicht im Alltag des Vorhersehbaren erloschen sind: an die Kinder. Am besten wäre es, wir könnten allen ein langes und abwechslungsreiches, lustvoll-spielerisches Wahrnehmungstraining verordnen, das ihre Köpfe fit macht für die Begegnung mit der Kunst, mit den Medien und nicht zuletzt mit dem Leben. Natürlich ist das eine Vision, in klar gesetzten Schranken ist sie jedoch durchaus erreichbar. Mit der Initiative des Bundes zur Förderung der Ganztagsschulen ist zum Beispiel ein Teil jenes Fundaments gelegt, auf dem wir unseren "Olymp" errichten wollen. Im Rahmen der Ganztagsschulen kann es meines Erachtens die Möglichkeit geben, Kindern und Jugendlichen neben dem vermeintlich allein nützlichen Wissen auch künstlerische Erfahrungen zu vermitteln. Und ich denke da in erster Linie an ganz grundlegende Erfahrungen und weniger an Techniken. Wer kann, wer wagt es heute denn noch regelmäßig, mit Farben, mit Worten, in Spiel und Tanz aus sich herauszugehen? Dabei leben wir doch vom Spiel, vom Experiment, von der Grenzüberschreitung aus Freude an neuer Erfahrung!

Es klingt in seiner Einfachheit paradox, doch wenn wir unsere Kinder für eine ästhetische Bildung gewinnen wollen, müssen wir ihnen unabhängig vom Alter beibringen, Kinder zu sein: neugierig und verspielt, offen für neues und unverkrampft der Kunst gegenüber. Wir müssen ihnen erlauben, Lust am Spiel zu empfinden. Lust auch am Kommunikationsspiel, Lust an der großen Form, der großen Geste, aber auch Lust am leisen Ton und an fremden Zeichenwelten. Neugierde auf Fremdes und die Erfahrung, dass Konzentration und Kontemplation keine Zeitverschwendung sind, sondern eine Bereicherung. Wir fördern damit nicht nur die Empfindungsgabe und die Kreativität einer nachwachsenden Generation, sondern auch das Denken, das Weiterdenken, das Um-die-Ecke-Denken, wenn Sie so wollen. Wer spielerisch den Unsinn nicht wagt, kann den Sinn eines Gegenstandes, eines Textes, eines Bildes, eines Klangs, nie von allen Seiten betrachten.

Ich weiß, dass meine Vision wie ein Weiterbildungsangebot für Spitzenmanager klingt. Zumindest verlangen Wirtschaftsunternehmen heute ganz selbstverständlich solche Eigenschaften von ihren - führenden - Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ohne zu sagen, wo diese Fähigkeiten während der Ausbildung trainiert werden könnten. Dabei ist deutlich zu erkennen, dass bei immer mehr Firmen das Interesse an Kunst und künstlerischer Inspiration wächst und als Angebot für Mitarbeiter verstanden wird. Das sollte auch uns zu denken geben.

In Zeiten des Wandels und der Krise sind neue Ideen dringend gefragt. Kreativität und Innovation entstehen nun aber gerade in der ästhetischen Auseinandersetzung mit hellsichtigen Querdenkern und produktiven Zweiflern, mit denjenigen, die, leidenschaftlich von einer Idee besessen sind, alle Regeln des Alltags auf den Kopf stellen und neues Denken erzeugen. Die Auflehnung gegen die Beschränkung des Denkens auf Funktionalität und Nutzen gehört zu den Anliegen kultureller, kreativer Aktivitäten, wie auch die Kritik an der Trägheit eingefahrener Sehweisen. Man braucht nur einmal vor dem geistigen Auge eine Ausstellung der Werke Picassos Revue passieren zu lassen: Die Kunst Picassos mit ihrer unablässigen Suche nach neuen Wegen der Bildgestaltung, mit ihrem unerschöpflichen Reichtum an bildnerischem Material und Ideen, dieses Einzelwerk allein ist wie eine ungeheure Offenbarung dessen, was der Mensch an Potential von Ausdrucksmöglichkeiten, Wahrnehmungsdifferenzierung, Sinnlichkeit und Phantasie in sich trägt. In dieser Kunst blitzt leidenschaftlich auf, was Menschsein birgt. Der Anblick dieses Werkes erfüllt geradezu mit glückseliger Ahnung von Freiheit, die - durch verordnete und selbstauferlegte Zwänge - verschüttet ist. Wo sonst als in der Kunst erfahren wir, dass es zu dem, was besteht, immer auch noch mindestens eine Alternative gibt. Wo sonst werden wir immer wieder aus der eingefahrenen Bahn unserer Wahrnehmungsbeschränkung und Denkrichtung herausgeworfen? Wo sonst bilden wir erfahrend die Subjektivität als vollständige Menschen aus, bestehend aus Verstand, Emotion und Wahrnehmungsfähigkeit?

Die Künste sind die produktivste Variante einer erneuernden, erfrischenden Subversion. Sie sind der einzige Ort der ganzheitlichen Ausbildung des Individuums im lebenslangen kreativen Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst.

Hier sei eine Passage aus Jean-Christophe Ammans flammendem Plädoyer für die Partnerschaft Kultur - Wirtschaft auf der Basis eines "Contrat culturel" zitiert. Ammann zeigt, was das Museum für moderne Kunst denjenigen zu bieten hat, die sich auf den Dialog einlassen: Wir betrachten uns als > Trainingslager für Wahrnehmung < und als > Think Tank < . Wir sehen uns als Dienstleistungsunternehmen, das den Bildungsauftrag erhält, und gehen davon aus, dass die Werke, welche die Künstler schaffen, einen > anschaulichen Denkgegenstand < darstellen, jene > Deckungseinheit < also, so Hans Georg Gadamer, > von an sich gänzlich Geschiedenem, von Idee und Erscheinung < . Weil ein einzelnes Werk das bildnerische Denken des Künstlers oft nur bedingt umreißen kann, konzentrieren wir uns auf Werkgruppen eines Künstlers - Mit anderen Worten: Unser Engagement für einen Künstler heißt, dass wir mit seinen Werken auch die Modellhaftigkeit seines bildnerischen Denkens in unser Haus bringen. Modellhaftigkeit heißt: Der Künstler schafft ein Stück Welt, und verkörpert damit ein Stück Vision, die das Denken von Gegenwart aus einem Bewusstsein von Gegenwart heraus beinhaltet. Zudem ist der Künstler ein Unternehmer, und erfahrungsgemäß gedeiht, so Harald Szeemann, > ohne Unternehmungslust kein Unternehmen, und ohne Unternehmungsgeist, also ohne Initiative, ist ein Unternehmen nicht prägend, nicht unternehmend und folglich nicht aktiv. < ( In: > Der Künstler als der wahre Unternehmer < ) . Das Museum, so kann man sagen, ist ein kollektives Gedächtnis, und die Werke sind Teil unserer kollektiven Biographie. Dies genau erklärt den Erfolg und die Notwendigkeit von Museen seit ihrer Existenz. Was Menschen oft mehr als die > Schönheit < eines Werks fesselt, ist die Kraft der Beunruhigung, die es in uns auslöst. Diese Beunruhigung hat mit unserer Kreativität ganz allgemein zu tun. Kreativität heißt hier: sich projizieren, sich nach > vorwärts wiederholen < ( Kierkegaard ) , sich imaginieren zu können. Seit die Künstler sich nicht mehr am Rande der Gesellschaft, sondern mitten unter uns bewegen, seit sie ( ... ) sich eher in der Rolle sehen, > gegebene Möglichkeiten zu realisieren, statt gegebene Wirklichkeiten zu verändern < ( Vilém Flusser ) , seitdem wird die Kunst zur täglichen Herausforderung, die darin besteht, wie man mit Ideen, mit Phantasie nicht nur umgehen, sondern sich diese auch prospektiv aneignen kann. < <

Das Prinzip der Nutzbarkeit, des blanken Materialismus, drängt beständig nach oben. Wer "spielt", gerät nur allzu leicht in den Verdacht, ein Träumer zu sein. Doch wo wären wir ohne die Träumer, ohne die Kraft der Träume?

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang einen Verweis auf den englischen Psychoanalytiker Christopher Bollas: Bollas macht auf zwei Einblicke in die Funktion künstlerischer Erfahrung für unsere Ich-Findung aufmerksam. Das Selbst, wenn es aus potentiell unendlich vielen Teilen besteht, öffnet sich uns nach und nach durch die Anstöße, die irgendein Element des Selbst objektivieren. Diese Anstöße, so Bollas, können im Fühlen, Wahrnehmen oder Denkengeschehen. Dabei bleibt es von Geburt an eine ständige Herausforderung, solche Anstöße zu erhalten, zu bemerken und sich anzueignen, um die Facetten des Ichs herausbilden und anreichern zu können. Und die Gefahr der vergebenen Chancen ergibt sich hier leicht im Umkehrschluss.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich plädiere nicht dafür, lauter egomane Kinder und Jugendliche in diese Welt zu setzen, die in ihrem Ich-Gefängnis hocken, spielen, träumen und nicht wissen, wie ein WIR zu denken ist. Doch ist es nicht längst zum Allgemeingut aufgestiegen, dass Kinder, die über ein starkes und gewissermaßen frei agierendes Selbstbewusstsein und eine ausgeprägte Fähigkeit zur Wahrnehmung verfügen, sehr häufig auch über eine ausgeprägte soziale Intelligenz verfügen - weil sie in der Kunst der vielen Blickweisen geschult sind; weil sie das Andere nicht als etwas Fremdes, sonder vielmehr als etwas Interessantes, Spannendes, Aufregendes, Wissenswertes ansehen - und ansehen wollen? In den Künsten gibt es ein vollkommen gleichberechtigtes Nebeneinander unterschiedlichster Gestaltungsweisen, Weltsichten und Anschauungsweisen. Oder, wie Wolfgang Welsch es einmal treffend beschrieben hat: "Kunsterfahrung kann geradezu als Exerzitium unserer heutigen Lage und ihrer Verbindlichkeiten betrachtet werden. Eben daher vermag sie für ein ästhetisches Denken, das sich als Denken der Gegenwart in besonderer Weise auf diese Pluralität einlassen muss, vorbildlich und inspirierend sein. Oder umgekehrt gesagt: Deshalb ist ein von solcher Kunsterfahrung inspiriertes ästhetisches Denken heute in besonderer Weise wirklichkeitskompetent. Pluralität, das Elixier heutiger Wirklichkeitsverfassung und Wirklichkeitsanforderungen, sitzt ihm als einem ästhetischen inspirierten längst in den Poren."

Was soll ein Mensch wagen? Alles - das war meine These und ich habe Ihnen die Chancen des Wagnis Kunst beschrieben. Mit Bedacht habe ich mich dabei auf die aktive Seite konzentriert, denn Kunst kommt, salopp gesagt, noch immer nicht von Können, sondern von jenem Energiepotential, von den Prozessen, die sie auszulösen vermag.

Dennoch ist es mir wichtig, den zweiten Pol nicht zu vernachlässigen, über den der Kraftstrom ästhetischer Bildung fließt. Ich meine das Wagnis, einen Blick hinter die Kulissen der Kunst - und der Medien - zu werfen. Ich will es Ihnen kurz an einem Beispiel erläutern: Vor wenigen Wochen hatte ich die Gelegenheit im Aachener Ludwigforum, einer hervorragenden Sammlung moderner Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Schülerinnen und Schüler bei ihrer "Arbeit" im Museum zu besuchen. Alle Altersgruppen waren vertreten: Grundschüler beim Plastischen Gestalten mit Gips und Papier, Schülerinnen und Schüler aus der Mittelstufe bei der Konzipierung einer eigenen Kunstführung und die Schülerinnen und Schüler aus der Oberstufe beim "kreativen Schreiben". Letztere hatte zum Beispiel die Aufgabe, ein Kunstwerk mit zehn Worten zu charakterisieren, wobei jeweils ein anderer Schüler aus zehn fremden Worten eine eigene Bildbeschreibung kreieren sollte. Die Ergebnisse waren - in allen Workshops - äußerst beeindruckend, und haben mich in meiner Überzeugung gestärkt, dass eigentlich jedes Mittel recht ist, Kindern und Jugendlichen die Museen, die Theater und nicht zuletzt die Fernsehstudios zu öffnen. Wem zum Beispiel einmal vergönnt war, einen Kindergeburtstag im Museum zu erleben, gewinnt selbst als Erwachsener einen ganz neuen Blick auf die hehre Kunst. Wie soll es da bei den Kindern anders sein? Die Schranken, die das 19. Jahrhundert in unseren Kunst-Tempeln errichtet hat, und die noch immer gelten, müssen fallen! Wir brauchen Kinder und Jugendliche im Museum und im Theater, um diesen Häusern auch in Zukunft Gäste zu sichern. Und die Kinder haben meines Erachtens auch das Recht darauf, von den "Machern" erklärt zu bekommen, wie eine Oper entsteht, warum ein Bild wertvoller ist als das andere, und weshalb Pappkulissen im Fernsehen so real wirken. Gerade die elektronischen Medien, die uns mehr oder minder alles vorzugaukeln verstehen, sollten auf jedem Lehrplan ästhetischer Bildung stehen. Kinder und Jugendliche müssen nicht nur lernen, ein Buch zu lesen. Sie müssen auch lernen, einen Film zu lesen. Nur wer begreift, wie die so genannte Bilderflut entsteht, wer sich selbst an ihr probiert hat, kann sich Strategien erarbeiten, dieser Flut nicht zu erliegen. Nur wer weiß, wie ein Film einen Menschen manipulieren kann, darf sich auch guten Gewissens und bewusst von ihm manipulieren lassen. Deshalb ist Medienkompetenz ein wichtiges Standbein ästhetischer Bildung, ohne die die Freiheit, die wir uns im Spiel und im Experiment erarbeiten können, ohne Alltagsnutzen bleibt.

Der Volksmund behauptet, es gebe keinen Gewinn ohne Wagnis. Mit dem Blick auf die enormen Aufgaben, die wir zu lösen haben, um unsere Kinder dereinst auf dem Olymp zu sehen, komme ich nicht umhin zu behaupten, selbst das Wagnis sei bereits Gewinn. Es gibt viele hervorragende Initiativen, die der musischen Bildung unserer Kinder und Jugendlichen gewidmet sind. Sie alle sind wichtig und haben als Investition in die Zukunft unseres Landes die Unterstützung des Staates auf allen Ebenen - Bund, Länder und Gemeinden - verdient. Gemeinsam müssen wir ALLES wagen, sonst schließen uns schon bald die fernsehschweren Lider auf Dauer den Blick auf die Welt.

Vielen Dank!