Redner(in): Christina Weiss
Datum: 30.01.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss eröffnet die Ausstellung Transmediale 2004 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin am 30. Januar 2004
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/93/598193/multi.htm


es hätte Thomas Morus, dem Erfinder von Utopia, sicher nicht schlecht gefallen, seine Insel per Flugzeug erreichen zu können."Fly Utopia" klingt selbst heute noch wie der Werbeslogan einer aufstrebenden Airline. Ob sich die Flugverbindung allerdings gelohnt hätte, ist mehr als fraglich. Der vermeintliche Idealstaat erweist sich bei näherer Betrachtung nämlich als wenig verlockend, werden hier doch ständig elementare Rechte verletzt. Verbrecher werden zu Sklaven gemacht. Und auch für den Rest der Bevölkerung ist strikte Arbeitspflicht verordnet. Geld gibt es nicht, denn Privateigentum gilt als Hindernis für eine gerechte Politik.

Selbst in technologischer Hinsicht erweisen sich die Utopier als rückständig. 60 Jahre nach Gutenberg hatten sie vom Buchdruck noch nichts gehört. Die Lage war schwierig im Original der Utopie - anno 1517. Und was ist uns heute Utopie? Es wäre eine Aufgabe für unsere Historiker, die Geschichte von Utopia bis zur Gegenwart zu erzählen, denn wir verbinden mit dem Idealstaat doch oft nur den Gedanken an die Zukunft. Doch das gerade trifft die Sache nicht. Utopia war nicht, was wird; Utopia war vielmehr ein zeitgenössischer Gegenentwurf. Die Utopie liegt nicht außerhalb unserer Zeit. Sie entwirft eine Welt als Möglichkeit."Fly Utopia" heißt für mich daher zweierlei: die Möglichkeiten, die wir haben, zu erkennen. Und zweitens: sie als mögliche Welt zu entwerfen. Nicht als eine Verbesserung des Vorhandenen also, sondern als eine andere Welt vom Ziele her.

Fly Utopia. Der Slogan der letzten Transmediale hieß "Play Global". Davor "Go Public". Und 2001: "Do it yourself". Schließen Sie die Augen und die Sätze erzählen einen kurzen sentimentalen Bildungsroman. Do it yourself. Go public. Play global. Fly utopia. 2001 waren die Business-Pläne der New Economy geplatzt. Das Geld war verbrannt. Jede und jeder musste für sich weiterkommen. Im Jahr darauf folgt - zaghaft formuliert - die Rückkehr an die Öffentlichkeit: Go public. 2003 der etwas vorlaute Sprung über die Grenzen hinaus in die globale Ökonomie: Play Global. Und in diesem Jahr verlässt der Held unserer Geschichte den Boden dieser Welt, um sich Utopien zuzuwenden. Und wenn Sie mich auf dieser kleinen Reise begleiten, sehen Sie wie ich ein kleines Problem auf die nächste Transmediale zukommen: Welcher Satz könnte in dieser Reihe folgen? Vom "Ich" zum Publikum zur Welt, darüber hinaus -- und wie weiter?

Ich gestehe gern, ich bin glücklich, dass nicht ich es bin, die diese Geschichte weiterspinnen muss. Die Transmediale hat - da bin ich sicher - viele kluge Köpfe, die ohne Not ein halbes Dutzend neuer Slogans finden würden. Ich dagegen darf mich darüber freuen, mitverantwortlich dafür zu sein, dass sich dieses kleine Problem auch in den nächsten Jahre immer wieder stellen wird. Denn - viele von ihnen werden es bereits gelesen haben - die finanzielle Zukunft der Transmediale steht auf neuen, sicheren Füßen. Ab 2005 wird die Transmediale über mehrere Jahre hinweg von der Kulturstiftung des Bundes substantiell unterstützt. Und ich betone an dieser Stelle gern, dass ich mich über diese Förderung sehr freue.

Wie Sie wissen, werden zur Zeit finanzielle Unterstützungen, so sie aus der öffentlichen Hand kommen, gern kontrovers diskutiert. Das gilt auch für die Kultur, doch ohne Grund, meine ich. Denn die Kultur, wie ich sie verstehe, kennt keine Subvention. Eine innovative, mutige und kreative Kultur kennt nur Investitionen. Investitionen in die Zukunft unserer Köpfe, in die Zukunft unseres Landes, in eine lebendige Kultur und deren Dynamik.

Es ist eine der Stärken der Transmediale, Kunst und digitale Kultur miteinander zu verknüpfen. Das ist wegweisend, denn die kulturellen und institutionellen Traditionen, die uns prägen, erzeugen immer neue Hemmnisse, die diese Verknüpfung behindern, begrifflich wie real.

Ich möchte dies kurz am Fall einer ganz und gar nicht utopischen Kulturtechnik erläutern. Das MP3 -Datenformat wurde am Fraunhofer-Institut in Nürnberg entwickelt. Heute ist es weltweiter Standard. Die Kulturgeschichte der neueren Musik ist ohne MP3 nicht zu verstehen. Technik und Kunst sind hier aufs engste verzahnt und doch ging diese Entwicklung an Deutschland bemerkenswert weit vorbei. Die kommerzielle Nutzung von MP3 nahm ihren Anfang, man möchte sagen: natürlich, in Amerika, weil uns die Kompetenz, technische, kulturelle und ökonomische Entwicklungen miteinander zu verknüpfen, schlichtweg fehlte und noch immer fehlt. Die Kultur des Digitalen ist eben erst dabei zu beginnen und hat uns in diesem Fall doch längst schon überholt: Weil wir sie nicht ernst genug nehmen, weil unser Kulturbegriff verengt ist, weil wir "als Dichter und Denker" nicht gewöhnt sind, das kulturelle - und auch das künstlerische - Potential einer neuen Technik, eines neuen Mediums ernst zu nehmen. Fly utopia? - Ein Defizit in Deutschland!

Wenn ich dafür plädiere, technische, kommerzielle und künstlerische Innovationen vorurteilsfreier miteinander zu verknüpfen, meine ich dies nicht als Affirmation. Wir brauchen eine kritische Perspektive, eine Perspektive, die hilft, Zusammenhänge herzustellen und neu zu handeln. Aus dieser Art von Kritik schöpfen Utopien ihre Kraft.

Es ist eine Stück Utopie, dass es der Transmediale gelingt, Technik, Ökonomie und Kultur des Digitalen enger miteinander zu verknüpfen. Mag sie vielen Besucherinnen und Besuchern Lehrstück und Anreiz sein.

Vielen Dank!