Redner(in): Christina Weiss
Datum: 01.02.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss eröffnet am 1. Februar 2004 die Ausstellung "Pioniere in Celluloid. Juden in der frühen Filmwelt (1910-1925)" im Centrum Judaicum in Berlin.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/25/599725/multi.htm


Bilder bedeuten alles im Anfang / Sind haltbar / Geräumig " heißt es in einem Gedicht von Heiner Müller. In gewisser Weise könnten diese Zeilen auch über dieser Ausstellung stehen, die sich auf umfassende Art und Weise mit einem Thema beschäftigt, das nicht nur mit dem Kino, sondern auch mit der Geschichte des Öffentlichen zu tun hat: Juden in der frühen Filmwelt.

Die Bilder, denen man in dieser Ausstellung begegnet, sind Bilder eines Anfangs.

Wir registrieren den Beginn einer Epoche von sich immer weiter und vielfältiger ausdehnenden Bildern, deren Gegenwart wir heute etwas nüchtern als ", Medienzeitalter" bezeichnen. Damals, als beispielsweise ein Ernst Lubitsch manchmal seinen Regiethron auf einem windigen Brettergestell einnahm, roch es noch nach Morgenluft in der Filmwelt. Nicht nur neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten eröffneten sich in ungeahnter Vielzahl, auch politische, soziale und psychologische Dimensionen schienen auf.

Nicht die Macht der Statements und Parolen war hier wirksam, sondern die subtilere, feinnervigere der bewegten Ein- und Ausblicke auf Situationen, Orte, Menschen, Gefühle.

Vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse in Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts scheinen viele Filme, ich denke zum Beispiel an das expressionistische Meisterwerk "Das Cabinett des Dr. Caligari", zuweilen sogar mehr von den emotionalen Stimmungen jener Zeit zu vermitteln, als es historische Analysen könnten. Daher wundert es nicht, dass viele jüdische Filmschaffende in diesem Medium eine große Chance sahen, Themen zu behandeln, die im kaiserlichen Deutschland eine gewisse Zweischneidigkeit besaßen. Zum Beispiel die Darstellung von sozialem Elend oder eben die Situation von Juden. Besonders jene Juden rückten dabei ins Blickfeld, die aus Osteuropa kamen.

Sie hatten nicht nur gegen den latenten Antisemitismus der deutschen Bevölkerung zu kämpfen, sondern auch gegen die heftige Ablehnung vieler sogenannter assimilierter Juden, die oft mit wenig Begeisterung auf die Ankunft orthodoxer Gruppen reagierten.

Die Ausstellung über Juden in der frühen Filmwelt ist daher nicht nur eine wichtige Wiederentdeckung von Film-Schätzen und vielen vergessenen Künstlern. Diese Ausstellung ist auch ein Ausflug zu den Wurzeln moderner Formen von Öffentlichkeit. Ein Zeugnis von Lust, Engagement und Kreativität, mit denen jüdische Autoren, Regisseure, Schauspieler - und wir wollen unbesungene Helden wie Kabelträger, Beleuchter und Kaffeeholer hierbei nicht vergessen - trotz mannigfacher Schwierigkeiten ihre Filme drehten.

Mit ihrer Arbeit schufen sie sich eine Freiheit, die mir immer noch ein grundlegendes, vorbildliches Verständnis von Filmarbeit zu sein scheint. Ich sage in diesem Zusammenhang bewusst das pädagogisch etwas angestaubte Wort "vor-bildlich". In der Tat muss'vor den Bildern'eine Vorstellung existieren, was ihr Sinn und Zweck sei. Wo eine solche Vorstellung fehlt, kommt es nur zu oft zu einer Bilderflut, die noch das abgeschmackteste Sujet auf seine affektiven Reize hin abklopft. Dass Besondere an den "Pionieren des Celluloid" scheint mir nicht nur in ihren filmtechnischen Innovationen zu liegen, sondern vor allem in der gedanklichen Schärfe, in ihrer Bewusstheit für die Funktion von Bildern, in ihrem sensiblen Spiel mit Bedeutungsmöglichkeiten.

Alfred Döblin hatte in seinem Roman "Berlin Alexanderplatz" geschrieben "Aber die Hauptsache am Menschen sind seine Augen und seine Füße. Man muss die Welt sehen können und zu ihr hingehen". Damit hatte er etwas salopp das für das 20. Jahrhundert elementare Verhältnis von Bewegung und Wahrnehmung umrissen. Jüdische Filmpioniere haben an dieser Entwicklung in einer hervorragenden Weise mitgewirkt, die stilbildend geworden ist. Gerade das Neuland, das sie betraten, haben sie mit einer bewundernswerten Geschicklichkeit und Eleganz erobert, von der heute noch Cineasten und Kinoliebhaber profitieren.

Wir Heutigen sind indes durch eine Schule der Sehgewohnheiten gegangen, die uns auch hat kritisch werden lassen. Nicht jedem Bild, das man uns vorführt, vertrauen wir mehr ungeprüft. Allzu effektvoll inszenierten Emotionen gegenüber sind wir skeptisch geworden. Wir wissen, wie manipulierbar, missbrauchbar und trügerisch Bilder sein können. Vor allem seitdem die Grenzen zwischen Kinoästhetik und Berichterstattung fließend geworden sind."Das Schlachtfeld ist zu einem für Zivilisten zunächst gesperrten Filmset geworden" schrieb Paul Virilio mit bitterer Ironie. Vielleicht mag das übertrieben sein, aber es trifft den Kern der modernen Medienproblematik. Welche Wirklichkeit zeigen Bilder, welcher Ästhetik bedienen sie sich und wie "demokratisch" können / sollen sie sein?

Ihre Kunst der Verführung, ihre Schnelligkeit und rasante Überzeugungskraft sind mit der Sprache kaum mehr einzuholen. Denkt man jedoch an die kritische Reflexion, die das Kino von Anfang an erfahren hat - denkt man an Walter Benjamin und Siegfried Kracauer - , dann kann man entdecken wie kulturell reich die Auseinandersetzung zwischen Bildern und der Reflexion über sie ist, wie viel Potential sie enthält.

In diesem Sinne verstehe ich auch die Ausstellung als Beitrag - gerade im Vorfeld der Berlinale - zur Diskussion über das Verhältnis von Geschichte, visuell-medialem Gedächtnis und Filmkunst. Die jüdischen Filmpioniere waren, selbst da, wo sie es nicht wollten oder gern auf diese Zuschreibung verzichtet hätten, mit ihrer Herkunft konfrontiert.

Das gab ihrer Arbeit sichtbar oder unsichtbar einen politischen Aspekt. Dass Regisseure wie Ernst Lubitsch und viele andere schließlich Deutschland verließen und nach Amerika gingen, um dort ihre Ideen umzusetzen, mag Folge der alten Wahrheit sein, dass man mit Kunst nicht die Welt und erst recht keine drohende Diktatur verändern kann.

Trotz der großen Erfolge, die jüdische Intellektuelle auch in Deutschland hatten, und nicht nur im Film, blieb die Katastrophe unabwendbar. Der von den Nationalsozialisten geschürte Hass obsiegte über die differenzierte, bis heute Maßstäbe setzende kulturelle Brillanz der zwanziger Jahre. Karrieren wurden über Nacht abgebrochen, Projekte blieben unausgeführt liegen, Fluchten wurden angetreten.

Der deutsche Film der dreißiger Jahre geriet in eine dumpfere Ästhetik, die fernab von dem lag, was jene Künstler im Sinn hatten und was sie sich unter Filmkunst vorstellten.

Umso wichtiger ist es daher, an das zu erinnern, was aus diesen Filmdokumenten der frühen Filmgeschichte herauslesbar - und sehbar ist: eine erhellende Historie der künstlerischen filmischen Wahrnehmung, mal gewitzt, mal melancholisch, dann wieder ausschweifend und skurril, ein Panoptikum der Bild-Ideen und Perspektiven. Dabei möchte ich die Ausstellungsmacher ganz besonders beglückwünschen, dass sie nicht nur ein bedeutsames Stück Filmgeschichte der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht haben, sondern auch die Lebensläufe von vielen vergessenen Filmschaffenden ins Gedächtnis zurück gebracht haben.

Überhaupt ist es dem Centrum Judaicum in den vergangenen Jahren immer wieder gelungen, Biographien und Themen der jüdischen Kultur, die dem Vergessen anheim zu fallen drohten, aufzugreifen und mit neuen Aspekten der Öffentlichkeit vorzustellen. Nicht museale Rückschau, zu der vielleicht der schöne historische Ort der Neuen Synagoge verführen könnte, sondern lebendige Auseinandersetzung mit der Geschichte in Form von modernen Ausstellungskonzepten wurde und wird von Ihnen hier präsentiert.

Dass Sie nun Filme aus der Anfangszeit des Kinos in den Mittelpunkt stellen, lässt sich auch als eine Reverenz an jene Art des filmischen Erzählens verstehen, das mit unserem Gedächtnis und unserer Erfahrung kooperiert.

Der Film als Verbündeter unserer Erinnerung, als Assoziationspartner, aber auch als Neuland-Entdecker, als "Pioniers" -Disziplin: diese verschiedenen, sich auf spannende Weise erweiternden Rollen lassen sich als Vorprägungen in dieser gelungenen Ausstellung wiederfinden. Bilder bedeuten alles im Anfang / Sind haltbar / Geräumig " - man möchte hinzufügen: sie setzen auch immer wieder neu einen Anfang, indem sie unsere Beobachtungsgabe herausfordern und unsere Neugierde auf das, was hinter und neben den Bildern an Wirklichkeit noch auf uns wartet und uns zum Mitdenken reizt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen einen großen, einen in jeder eise sichtbaren Erfolg dieser Ausstellung.