Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 03.02.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Jahresauftaktveranstaltung 2004 des DIHK "Innovation Unternehmen! Für Innovation und Wettbewerb" am 3. Februar 2004 im Haus der Deutschen Wirtschaft in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Braun, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/46/599846/multi.htm


Ich fand es gut, Herr Braun, dass Sie über die grundsätzlichen Schwierigkeiten gesprochen haben, einen Reformprozess in Gang zu setzen und in Gang zu halten. Das gibt mir die Gelegenheit, gerade hier deutlich zu machen, dass er bereits in Gang gesetzt ist und in Gang gehalten werden wird.

Aber ich will, weil Sie darüber auch geredet haben, einige Bemerkungen zu der Frage der Legitimation eines solchen Prozesses machen. Legitimation meint hier Zustimmungsfähigkeit zu Veränderungen, die in dem einen oder anderen Fall durchaus schmerzhaft, aber gleichwohl notwendig sind. Wir haben gegenwärtig eine Diskussion über den Reformprozess, der mit der "Agenda 2010" verbunden ist. Ich sehe dabei eine Gefahr: Es gibt in diesem Prozess ein Auseinanderfallen zwischen der allgemeinen Zustimmung zu Reformen, die mit den radikalen Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft zu tun haben, und der dann nicht mehr so deutlich vorhandenen Zustimmung, wenn diese Reformen konkret werden und einen selbst betreffen.

Es ist schon merkwürdig, dass zur Schicksalsfrage der Nation erklärt wird, ob man innerhalb eines Vierteljahres 10 Euro bei einem Arztbesuch bezahlt oder nicht. Ich bin auch nicht davon überzeugt, dass sich an hieran die Frage "Sozialstaatlichkeit - Ja oder Nein" bzw."Gerechtigkeit - Ja oder Nein" entscheidet. Das ist der eine Punkt, mit dem wir es zu tun haben. Der andere Punkt ist folgender: Es gibt eine zeitliche Kluft zwischen den aktuellen Notwendigkeiten, Veränderungen herbeizuführen, und den Erfolgen, die diese Veränderungen mit sich bringen. Gleichwohl gilt: Wir haben die "Agenda 2010" gemacht, weil sie die Antwort auf die in nationalen und internationalen Maßstäben erfolgten Veränderungen der Wettbewerbsherausforderungen unserer Wirtschaft, letztlich unseres Wirtschaftens insgesamt ist. Sie beinhaltet die Notwendigkeit, die sozialen Sicherungssysteme unserer Gesellschaft auf diese Veränderungen einzustellen, sie also so umzubauen, dass sie angesichts dieser Veränderungen auch zukunftsfähig bleiben. Es geht in diesem Reformprozess darum, die Sicherheit für die große Zahl der Menschen in unserem Land in Zukunft garantieren zu können. Das kann überhaupt - jedenfalls nach meiner festen Überzeugung - nur funktionieren, wenn die Bereitschaft nicht nachlässt, diese Systeme so umzubauen, dass sie zukunftsfest sein können. Damit ist ein anderer Aspekt des Reformprozesses verbunden: Nur wenn wir die eine Seite schaffen, nämlich die sozialen Sicherungssysteme auf die Veränderungen an der wirtschaftlichen Basis unserer Gesellschaft einzustellen und sie damit zukunftsfest zu machen, gewinnen wir auch das Maß an Ressourcen, das wir brauchen, um die Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Das geht nur durch Innovationen in einem sehr umfassenden Sinne.

Wir werden das Maß an Wohlstand, das wir uns erarbeitet haben, in Zukunft nur aufrechterhalten können, wenn beides zusammenkommt: Zum einen die Bereitschaft, die sozialen Sicherungssysteme zu verändern und zum anderen die damit in Verbindung stehende Bereitschaft, von Vergangenheits-Subventionen in Zukunfts-Investitionen umzusteuern. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen und an der wir miteinander zu arbeiten haben. Sie haben Recht, Herr Braun: Dies ist keineswegs nur eine Aufgabe der Politik oder der Verbände. Es ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Nur wenn die ganze Gesellschaft bereit ist, diese Aufgabe anzugehen, wenn wir alle Kräfte in dieser Gesellschaft mobilisieren, werden nicht die Ängste vor Veränderungen überwiegen, sondern können die Chancen, die in Veränderungen liegen, überwiegen.

Meine Damen und Herren, Deutschland verfügt über keine nennenswerten Rohstoffreserven. Aber wir können - auch das müssen wir uns gerade jetzt immer wieder klar machen - auf ganz hervorragende Ressourcen zurückgreifen: die Leistungskraft, die Fähigkeiten und auch die Kreativität unserer Menschen. Unsere Zukunftschancen werden wir nur durch technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt sichern können. Herr Braun, ich finde auch zustimmungsfähig, was Sie gesagt haben, nämlich dass es dabei nicht um einen Innovationsbegriff in einem sehr engen Sinne geht, der etwa nur die Entwicklung bestimmter Technologien beinhaltet. Sie haben Recht, wenn Sie auf das vorletzte Jahrhundert hinweisen. Seinerzeit war es gelungen, durch die Verbindung von kulturellen und geisteswissenschaftlichen Wertvorstellungen mit technologischen Entwicklungen Weltspitze zu werden. Genau das können und müssen wir wieder erreichen. Nur durch Innovation auf allen Ebenen sind künftige Wachstumschancen und damit auch soziale Sicherheit zu erzielen. Auch das - und daran liegt mir - muss klar gemacht werden. Wer nicht nur heute, sondern auch in Zukunft Sicherheit für die individuelle Lebensplanung will, muss dabei mitmachen, sich selbst und für die Gesellschaft diese Zukunft durch Innovationen zu erschließen.

Umgekehrt gilt aber auch: Ohne Teilhabe, ohne Gerechtigkeit jetzt und in Zukunft werden wir die Innovationspotenziale unserer Gesellschaft nicht so nutzen können, wie es notwendig ist. Nur wenn jeder Einzelne die Chance auf Wissen und Bildung erhält, hat auch unser Land die Chance, im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Lassen Sie mich aus einer sehr persönlichen Erfahrung den Wert gerade dieser Form der Teilhabe unterstreichen: Wir haben früher die Frage des Zugangs zur Bildung für jede und jeden als ein Element der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft begriffen. Gerecht war die Gesellschaft, die es unabhängig von sozialem Stand und Herkunft erlaubte, Zugang zu Wissen und Bildung zu eröffnen. Dieser Ansatz ist nach wie vor völlig richtig. Mir liegt nur daran, dass wir heute einen zweiten Begründungszusammenhang erkennen, nämlich den ökonomischen. Wir können es uns buchstäblich nicht mehr leisten, eine einzige Begabungsreserve in unserem Volk nicht auszuschöpfen. Die Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der der Zugang aller zu Bildung und Wissen das wirklich Entscheidende ist.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat dem Thema Innovation hohe politische Priorität eingeräumt. Ich begrüße es sehr, dass der DIHK seine Verbandsarbeit im Jahr 2004 unter eben dieses Motto stellen wird. Ich begrüße das deshalb, weil es ein Irrtum wäre zu glauben, dass man den notwendigen Innovationsschub in unserer Gesellschaft und durch unsere Gesellschaft durch Politik allein erreichen könnte. Nur wenn wir alle gesellschaftlichen Akteure - ob in Verbänden organisiert oder nicht, ob als einzelne Unternehmer, als Individuum in der Gesellschaft - auf dieses Ziel hin bündeln können, haben wir eine Chance, im weltweiten Wettbewerb besser zu werden. Wir müssen also gemeinsam daran arbeiten, die kreativen Potenziale in unserer Gesellschaft zu mobilisieren. Wir müssen z. B. die Vernetzung zwischen dem, was in der Wissenschaft erforscht und in der Wirtschaft angewendet wird, vertiefen. Wir müssen dafür sorgen, dass Forschungsergebnisse besser und effizienter für marktgängige Produkte, Verfahren und Dienstleistungen angewendet werden und angewendet werden können. Sie haben Recht: Wo bürokratische Hemmnisse vorhanden sind, müssen wir sie in einer gemeinsamen Anstrengung überwinden. Unsere Zukunft - und dessen bin ich sicher - sind Vorsprünge bei der Innovation, bei den technischen Verfahren und bei neuen, hochwertigen Qualitätsprodukten. Die Bereiche sind definierbar: im Bereich von Verkehr und Energie, in der Biologie- , Medizin- und Pharmatechnik, bei nachhaltigen Techniken in der Landwirtschaft und Rohstoff-Extraktion, bei Information und Kommunikation, bei Nanotechnologie und optoelektronischen Verfahren. Ein anderer Bereich ist mindestens ebenso wichtig: Wir brauchen auch moderne Dienstleistungen und erstklassige Standards in Wissenschaft und Kultur.

Wir haben den Anfang für eine solche Vernetzung gemacht. Wir haben mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften die Initiative "Partner für Innovation" gegründet. Unser Ziel ist, mit breiter gesellschaftlicher Beteiligung im Jahr 2004 eine wirklich nachhaltige Innovationsinitiative in Gang zu bringen. Dabei ist uns klar: Innovation kann und wird niemals ein von oben verordneter Prozess sein können. Wir können und müssen die erforderlichen Rahmenbedingungen setzen. Das Innovationsklima, das für einen Erfolg einer solchen Initiative notwendig ist, können wir nur gemeinsam schaffen. Das kann Politik nicht verordnen.

Das ist übrigens der Punkt, an dem deutlich wird, dass Innovationspolitik ein integraler Bestandteil der "Agenda 2010" ist. Bis zum Frühjahr wollen die "Partner für Innovation" erste, sehr konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Startchancen für innovative Unternehmen, für leichteren Zugang zu Wagniskapital, zum weiteren Abbau von bürokratischen Hemmnissen und zur Umsetzung neuer Ideen in marktfähige Produkte vorlegen.

Wir werden, meine Damen und Herren, auch unabhängig von spezieller Technologieförderung die Rahmenbedingungen insbesondere für die mittelständische Wirtschaft verbessern müssen. Häufig - Sie wissen das - ist es der Mittelstand, in dem innovative Verfahren erdacht, ausprobiert und umgesetzt werden. Wir werden deshalb auf diesem Gebiet mit dem "High-Tech-Masterplan", der Einrichtung der Mittelstandsbank und der Initiative Bürokratieabbau drei wichtige Anstöße geben. Kernelement des "High-Tech-Masterplans" ist der Anfang 2004 eingerichtete Dachfonds zur Förderung technologieintensiver Unternehmen mit einem Anfangsvolumen von 500 Millionen Euro. Dieser Dachfonds investiert in Wagniskapital-Fonds für Hightech-Unternehmen. So kann ein zusätzliches Fördervolumen von bis zu 1,7 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Das ist im Übrigen auch ein Impuls für die Unternehmensfinanzierung außerhalb der Börse. Die Innovationsfinanzierung kann damit unabhängiger von den Bewegungen der Börse gemacht und als Folge dessen auch verstetigt werden. Wir haben darüber hinaus im Rahmen der Zusammenlegung von KfW und DtA die KfW-Mittelstandsbank eingerichtet. Damit schaffen wir weitere Instrumente für die effiziente und transparente Investitionsförderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Ein Beispiel ist etwa die Einrichtung des neuen Unternehmerkredits. Damit werden vier bislang von DtA und KfW getrennt angebotene Investitions- und Liquiditätskredite vereinheitlicht. Bereits im vergangenen Jahr - wohl gemerkt in einem Jahr gesamtwirtschaftlicher Stagnation - hat die KfW-Mittelstandsbank die Unternehmen mit Förderkrediten in Höhe von mehr als 9 Milliarden Euro unterstützt. Dieses Angebot wird die KfW im laufenden Jahr weiterentwickeln. Die Aufgabe, die vor allen Dingen Banken und auch die öffentlich-rechtlichen Institutionen in diesem Zusammenhang haben, kann durch Politik nicht ersetzt, allenfalls begleitet werden. Wir werden deswegen dafür sorgen müssen, dass die Versorgung der mittelständischen Unternehmen mit Investitionskapital, mit Liquidität, in diesem Zusammenhang ernster genommen wird, als das in der Vergangenheit der Fall war.

Meine Damen und Herren, zur Innovationsförderung gehört - das ist angesprochen worden - der Abbau von Bürokratie. Wir haben dabei gute Fortschritte gemacht. Wir haben eine lang gehegte Forderung aufgegriffen, nämlich die Frage: Müssen wir in Deutschland eigentlich für jede Dienstleistung, die angeboten wird, einen Meisterbrief abverlangen? Was sich damit verbindet, ist ein hoch interessantes Kapitel der Bürokratiedebatte. Denn in dem Moment, als wir gesagt haben, wir müssten die Handwerksordnungen verändern, habe ich etwas Erstaunliches feststellen können. Als ich mich umsah nach all denjenigen oder jedenfalls vielen von denen, die immer an der Seite derer zu finden sind, wenn es um die abstrakte Forderung nach Abbau von Bürokratie geht, habe ich gedacht: Mensch, wo sind die auf einmal alle geblieben? - Als es darum ging, so etwas in Europa Selbstverständliches zu machen, nämlich diese Ordnungen zu durchforsten, waren die ganzen Bürokratie-Abbauer auf einmal auf der anderen Seite. Man erlebt auf einmal, dass auch die gesellschaftlichen Kräfte, die jeden Sonntag für den Bürokratieabbau große Reden halten, auf einmal als Unterstützer fehlen, wenn es sie selber betrifft. Das ist die Malaise, die man in einer vermachteten Gesellschaft immer wieder erleben kann und die es so schwer macht, richtig Erkanntes auch gesellschaftliche Wirklichkeit werden zu lassen. Wir haben gleichwohl eine Reform in diesem Bereich durchgesetzt. Wir werden das fortsetzen müssen, etwa bei der weiteren Modernisierung und Neuordnung von Ausbildungsberufen. Das gilt ebenso bei der geplanten Reform des Vergaberechts. Wir brauchen den Staat als Motor von Innovation, nicht nur bei Investitionen, sondern auch auf der Nachfrageseite. Sie haben zu Recht die Gemeinden angesprochen. Zwei Drittel aller öffentlichen Investitionen führen die Gemeinden durch. Sie müssen ihre Vergabepraxis daraufhin durchleuchten, ob innovative Lösungen gefördert werden.

Meine Damen und Herren, wir haben uns immer wieder vor Augen zu führen, dass wir es bei dieser Innovationsoffensive mit einem langfristigen Prozess zu tun haben. Das ist eines der Probleme, mit dem wir es politisch zu tun haben, und zwar insbesondere diejenigen, die handeln müssen und handeln wollen. Innovation hört eben nicht irgendwann auf - nicht im Unternehmen und auch nicht in der Gesellschaft. Es gibt keinen Punkt, wo man sagen könnte: Jetzt ist alles geschafft. Das hat damit zu tun, dass sich die wirtschaftlichen Bedingungen moderner Gesellschaften immer rascher verändern. Wer angesichts dieser Veränderungen glaubte, der politische Prozess könnte irgendwann aufhören, der irrt. Wir müssen in sehr viel schnellerer Folge überprüfen - das macht ja vielen Menschen auch Schwierigkeiten, weil es zu Unsicherheiten führt - , ob die politischen Rahmenbedingungen mit diesen Veränderungsprozessen noch Schritt gehalten haben. Die Volkswirtschaft, die diesen Veränderungsprozess am schnellsten und innovativsten aufnimmt, ist die Überlegene in einem Wettbewerb, der im europäischen, aber längst auch im weltweiten Maßstab stattfindet.

Wir brauchen also die ständige Weiterentwicklung, zum Beispiel bei allen Gliedern der so genannten Bildungskette - vom Fördern und angemessenen Fordern im Vorschulalter bis zur universitären Spitzenleistung. Dabei kommt es nicht nur auf den Reformwillen auf Bundesebene an - wir haben nun einmal bestimmte Zuständigkeiten. Wenn wir einen gemeinsamen Reformwillen entwickeln, dann ist das richtig, weil er dazu führt, dass dort, wo die Zuständigkeiten etwa für das Bildungswesen liegen, in ähnlicher Weise gehandelt wird, wie wir es auf Bundesebene tun. Wir müssen in dieser Gesellschaft auch dafür sorgen, dass wir auf der einen Seite durch die bessere Betreuung von Kindern den Wunsch und die Möglichkeit verbessern, Kinder groß zu ziehen, und auf der anderen Seite das Beschäftigungspotenzial gut ausgebildeter Frauen in unserer Gesellschaft besser als jemals zuvor nutzen. Wir haben diese Aufgabe der Betreuung von Kindern unabhängig von formalen Zuständigkeiten angepackt. Ich halte sie für eine der entscheidenden Fragen der Entwicklung unserer Gesellschaft, auch was Innovationen angeht. Denn Innovationen sind nicht technologische Fortschritte allein, sondern sie haben auch sehr viel mit der Gesellschaft insgesamt zu tun. Warum müssen wir das schaffen? - Das hat natürlich mit dem Begriff der Geschlechtergerechtigkeit zu tun. Es ist nicht unser Wunsch, jemandem vorzuschreiben, wie er leben soll, aber es schon unser Wunsch, einen Rahmen dafür zu schaffen, dass Frauen entscheiden können, wie sie leben wollen, und dass nicht andere entscheiden, wie sie leben sollen. Das geht eben nur, wenn man angesichts der Verhältnisse in unserer Gesellschaft die Frage der Betreuung von Kindern sowohl in den Unternehmen als auch in der Politik ernster nimmt. Auch dies hat mit ökonomischen Bedingungen zu tun. Das gut ausgebildete Arbeitskräftepotential, das wir ab Mitte dieses Jahrzehnts brauchen werden, werden wir nicht zur Verfügung haben. Es ist angesichts begrenzter Integrationsmöglichkeiten eine Illusion, davon auszugehen, wir könnten das, wie das in Amerika und in anderen Gesellschaften der Fall ist, allein durch Zuwanderung lösen. Das würde uns sehr schnell an die Grenze der Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft bringen. Das heißt nicht, dass ich nicht für ein modernes Zuwanderungsrecht eintreten und dafür kämpfen werde. Das ist notwendig. Aber mindestens ebenso notwendig ist, die Potentiale gut ausgebildeter Frauen weit besser als in der Vergangenheit zu nutzen.

Meine Damen und Herren, wir werden im Übrigen darauf zu achten haben - auch das ist eine gemeinsame Aufgabe - , dass wir die Ressourcen für Innovation - auch die materiellen Ressourcen - verbessern. Wir müssen in diesem Jahrzehnt die Aufwendungen für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung auf mindestens 3 % des Bruttoinlandsproduktes steigern. Unsere Zahl liegt gegenwärtig darunter. Wir werden nicht gleich dahin kommen, wo etwa die skandinavischen Staaten sind, die zwischen 5 % und 7 % des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung ausgeben. Aber interessant ist, dass Japan mitten in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation inzwischen, was Forschung und Entwicklung angeht, bei fast 3,5 % angekommen ist. Dies wurde in einer Phase der absoluten Stagnation erreicht. Das zeigt, dass sie verstanden haben, dass man aus stagnativen Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung nur herauskommt, wenn man sich antizyklisch verhält, wenn man in solchen Phasen nicht Investitionen für Forschung und Entwicklung und auch für gut ausgebildetes Personal zurückfährt und damit die Entwicklung neuer Produkte und Produktmöglichkeiten verschläft, sondern wenn man exakt das Gegenteil tut. Ich denke, dass es an der Zeit ist, dass wir uns auf diesen Weg begeben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, worum es mir geht, ist, dass wir in diesem Jahr der wirtschaftlichen Erholung - die Zeichen dafür stehen besser als jemals in den letzten Jahren - , als Deutsche folgendes erkennen: Wir müssen erstens den Reformprozess, den wir eingeleitet haben und der den Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme betrifft, entschieden und sorgsam fortsetzen. Wir müssen zweitens die Menschen in diesem Prozess besser mitnehmen - ich sage das durchaus selbstkritisch - , als es uns in der Vergangenheit gelungen ist. Das ist natürlich schwierig, wenn sich die gesellschaftliche Diskussion nicht auf die Frage fokussiert, warum wir das machen, sondern ausschließlich auf die Frage fokussiert, wer welchen Beitrag zu leisten hat. Dabei soll sich niemand etwas vormachen: Wenn dieser Reformprozess insgesamt delegitimiert wird, dann werden Veränderungen in dieser Gesellschaft auf Dauer nicht leichter, sondern schwieriger werden. Der andere Punkt ist: Beim Umbau der sozialen Sicherungssysteme werden die Ressourcen frei, die wir brauchen, um Innovationen in Gang zu setzen, damit Deutschland zukunftsfähig wird. Wir werden dieses Ziel nur erreichen können, wenn wir den Gesichtspunkt der Teilhabe aller Mitglieder der Gesellschaft an diesem Prozess und in diesem Prozess sorgsam wahrnehmen und politisch umsetzen. Das Innovationsklima, das wir dazu benötigen, ist nur erreichbar, wenn die Gesamtgesellschaft erkennt, dass dieser Prozess notwendig ist.

Wir haben vor dem Hintergrund einer insgesamt positiven wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verantwortung, diesen Prozess so wie skizziert zu gestalten. Ich hoffe, dass die Verbände der Wirtschaft bei allem Streit um Einzelheiten ihre Verantwortung begreifen und entsprechend handeln werden. Es ist eine gemeinsame Verantwortung, die wir für uns und für unser Land haben. Lassen Sie es uns gemeinsam wahrnehmen. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.