Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 23.02.2004

Anrede: Verehrter Herr Ministerpräsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/55/612055/multi.htm


Meine Delegation und ich sind hier in der Türkei äußerst herzlich empfangen worden. Dafür danke ich den Menschen, der türkischen Regierung und Ihnen sehr. Unsere beiden Völker - das weiß man in der Türkei und in Deutschland - sind durch enge Beziehungen - ja, durch eine Freundschaft - verbunden, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. Stets war es vor allem der unmittelbare Austausch zwischen Menschen aus beiden Kulturen, die unsere Völker einander näher gebracht haben. Natürlich denken wir, die Deutschen, dabei an die mehr als zweieinhalb Millionen türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger, die bei uns in Deutschland leben. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass die Türkei für Deutsche, die in schlimmen Stunden unserer Geschichte ihre Heimat verlassen mussten, ein wirklich gastfreundliches Exil-Land war. Zu den bekannten Deutschen, die während des Nationalsozialismus in der Türkei Aufnahme fanden, zählten der frühere Berliner Bürgermeister und Sozialdemokrat Ernst Reuter, der Komponist Paul Hindemith oder der Architekt Bruno Taut. Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass der türkischstämmige deutsche Regisseur Fatih Akin den Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele gewonnen hat. Er hat diesen Preis übrigens mit einem Film gewonnen, der ebenso hier in Istanbul wie in Hamburg gedreht worden ist. Ich denke, das ist ein sehr guter Beweis für den kulturellen Reichtum, der aus dem Zusammenleben und der Zusammenarbeit von Menschen aus unseren beiden Kulturkreisen entstehen kann.

Meine Damen und Herren, ich bin beeindruckt von der Dynamik und der Aufbruchstimmung, die ich in der Türkei habe erleben können und die man hier spüren kann. Hier ist ein Reformprozess in Gang gekommen, der nicht nur die Politik und die Wirtschaft, sondern die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Meine Gespräche in Ankara haben mir bestätigt, dass sich Ihre Regierung, Herr Ministerpräsident, aber vor allem Sie selbst auf dem Weg des Fortschritts sowie der politischen und wirtschaftlichen Stabilität nicht haben beirren lassen. Wir alle verfolgen diese Reformpolitik mit großem Respekt. Gelegentlich denke ich darüber nach, dass sich in den 40 Jahren des Versprechens der Europäer an die Türkei "Ihr werdet über Beitrittsverhandlungen zur Vollmitgliedschaft kommen" der eine oder andere vielleicht gedacht haben mag "Die Kriterien zu erfüllen, das schaffen die Türken nie, und deswegen können wir es ja ruhig versprechen". Aber so kann man mit einem Volk, das mit einem befreundet ist, nicht umgehen. Wenn die Kriterien erfüllt werden - das sieht gut aus - , dann muss man zu seinem Wort stehen. Die Deutschen sind es jedenfalls gewöhnt, meine Damen und Herren, zu ihren Worten zu stehen.

Bereits im ersten Jahr Ihrer Regierung hat die Türkische Nationalversammlung grundlegende Reformen zur Modernisierung und Stärkung der Demokratie verabschiedet. Wir alle - ob in Politik, Wirtschaft, Kultur oder in anderen Bereichen - wünschen Ihnen, Herr Ministerpräsident, Kraft und Ausdauer, diesen Reformprozess erfolgreich weiterzuführen und vor allen Dingen aus dem, was beschlossen worden ist, Wirklichkeit in der Gesellschaft werden zu lassen. Also das zu tun, was Sie heute in unserem Gespräch Implementierung genannt haben. Das Jahr 2004 haben Sie als das Jahr der Implementierung bezeichnet. Ich denke, genau darauf kommt es an. Ich will keinen Zweifel daran lassen, dass dieser Weg die Türkei nach Europa führen kann und führen soll. Aber ebenso bewusst müssen wir uns dessen sein - Sie sind es, Herr Ministerpräsident - , dass auf diesem Weg noch große Anstrengungen nötig sind und noch manche Herausforderung zu meistern sein wird.

Meine Damen und Herren, die Türkei ist für Deutschland und Europa ein enger und verlässlicher Partner. Im Rahmen der NATO und beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus arbeiten wir immer enger zusammen. Im vergangenen Herbst - wir alle haben mitgelitten - ist die Türkei selbst Opfer schrecklicher Anschläge geworden. Die Anschläge von Istanbul haben eine Schnittstelle der Kulturen, einen Ort der Toleranz und der Weltoffenheit getroffen, und wenn man wieder einmal in dieser Stadt ist, kann man spüren, was sich in dieser Stadt lebendig erhalten hat und immer lebendig bleiben wird. Wir werden diese Werte gemeinsam gegen Extremismus und Terrorismus verteidigen.

Enge Partner sind Deutschland und die Türkei auch bei der Bewältigung internationaler Krisen: Mit der Übernahme der ISAF-Führungsrolle in Afghanistan haben wir uns gemeinsam unserer internationalen Verantwortung gestellt. Beide Länder beteiligen sich aktiv am Wiederaufbau dieses so geschundenen Landes; denn eines ist klar: Die Menschen in Afghanistan müssen spüren, dass sich die Abkehr vom Terrorismus und die Rückkehr ihres Landes in die Staatengemeinschaft positiv auszahlt. Übrigens müssen das nicht nur die Menschen in Afghanistan spüren. Wenn es uns nicht gelänge, dieses Land nach der Niederwerfung der Taliban demokratisch zu stabilisieren, dann wäre das ein falsches, verhängnisvolles Signal an die Völker der Welt. Das, und nur das, macht unser nachhaltiges Engagement in diesem Land notwendig.

Meine Damen und Herren, die verantwortungsbewusste Politik der türkischen Regierung in Bezug auf den Irak haben wir sehr bewusst zur Kenntnis genommen. Wir wollen unabhängig davon, wie man dem Krieg gegenübergestanden ist - ich denke, die deutsche Position ist auch hier nicht unbekannt geblieben - , einen schnellen Übergang der Souveränität auf das irakische Volk und den raschen Aufbau demokratischer Institutionen.

Wir wollen das, weil wir mit unseren Freunden in Großbritannien und Amerika - unabhängig von unserer Position zum Krieg selbst - ein gemeinsames Interesse daran haben, dass ein stabiler demokratischer Irak Wirklichkeit wird. Daran in der Gegenwart und Zukunft zu arbeiten, ist unsere gemeinsame Aufgabe. Dabei ist eine stärkere Rolle der Vereinten Nationen unabdingbar. Darüber hinaus sollten Deutschland und die Türkei auch bei den Bemühungen zur Modernisierung und Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens eng zusammenarbeiten. Wir, Herr Ministerpräsident, haben heute ausführlich darüber gesprochen und festgestellt, dass wir in vielen Analysen - aber auch in den Konsequenzen aus diesen Analysen - gemeinsamer Auffassung sind.

Auch die Lösung der Zypernkrise, die uns alle, und vor allem: die Zyprioten selbst, seit Jahrzehnten bedrängt, ist in den letzten Tagen in greifbare Nähe gerückt. Man muss es auch sehr deutlich vor internationalem Publikum sagen: Das ist in besonderem Maße auf Ihren sehr persönlichen Einfluss, Herr Ministerpräsident, zurückzuführen. Ich hoffe sehr, dass die Wiedervereinigung Zyperns noch vor der Erweiterung der Europäischen Union geschafft werden wird.

Meine Damen und Herren, am 1. Mai wird sich die Europäische Union um zehn neue Mitgliedstaaten erweitern. Auch die Türkei strebt seit langem an, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Den Zeitplan haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im Dezember 2002 festgelegt: Wenn die Türkei Ende dieses Jahres die politischen Kriterien des Kopenhagener Gipfels erfüllt, dann müssen Beitrittsverhandlungen unverzüglich beginnen. Alles, was darunter liegt, wäre nicht fair gegenüber diesem Land, das ein Freund Deutschlands war und bleiben wird. Natürlich gibt es über diese Frage Debatten in den europäischen Gesellschaften. Das ist ganz natürlich. Aber die Debatten und gelegentlich abweichenden Positionen werden - jedenfalls für die deutsche Regierung und damit für Deutschland - nichts daran ändern, dass wir zu unserem gegebenen Wort stehen.

Die Kriterien kennen Sie hier ganz genau, und Sie sind auf dem Weg, sie einzuhalten. Es sind diejenigen, deren Erfüllung von jedem anderen verlangt wird, und von der Türkei wird und darf nicht mehr verlangt werden als von den anderen Mitgliedstaaten in Europa und denen, die es werden wollen. Es sind die Kriterien der nachvollziehbaren Strukturen eines demokratischen Rechtsstaats. Dieser Rechtsstaat muss die Menschenrechte einhalten, und er muss die Minderheiten schützen. Die Türkei hat in diesem Sinne bedeutende Reformen beschlossen, um dieses Ziel Ende dieses Jahres zu erreichen. Sie hat wichtige Schritte zur Umsetzung der Reformen in die Praxis unternommen. Aber man weiß eben auch, dass neues Denken und neues Handeln gelegentlich auf Widerstände in Institutionen trifft, die sich allzu sehr an altes Denken gewöhnt haben. Die muss man überwinden, und ich bin sicher: Man wird sie überwinden. Lassen Sie mich, Herr Ministerpräsident, eines mit Respekt hinzufügen: Ich fand es gut und weise, dass Sie sich auch um Resonanz in der europäischen Öffentlichkeit bemühen und dafür das Gespräch z. B. auch mit Nicht-Regierungsorganisationen begonnen haben. Das ist etwas, von dem ich glaube, dass es bei Ihrem Bemühen hilfreich sein wird; denn alle wollen eine stabile und demokratische Türkei, die des Weiteren auch im internationalen Wirtschaftsgeschehen eine bedeutende Rolle spielt.

Das ist die europäische Perspektive. Diese Perspektive liegt zuallererst im Interesse der Menschen in der Türkei, aber auch im Interesse der Menschen in den Mitgliedsländern der Europäischen Union. Eine demokratische Türkei - nach europäischen Maßstäben regiert und verantwortlich - wäre, meine sehr verehrten Damen und Herren, eben auch ein Beweis dafür, dass es keinen Widerspruch zwischen islamischem Bekenntnis auf der einen Seite, das ernst genommen wird, und aufgeklärter, moderner Gesellschaft auf der anderen Seite geben muss.

Sollten wir uns nicht einmal einen Moment lang vorstellen, welches Signal von einer solchen Symbiose nicht nur für Europa, sondern für die Welt ausginge? - Ich glaube, gelänge dies - es sieht so aus, als ob es gelingen kann, und Europa muss seinen Beitrag dazu leisten - , dann wären wir alle in Europa und darüber hinaus in der Welt ein deutliches Stück sicherer, als wir es heute sein können. Die Türkei - politisch so organisiert - könnte damit zu einem Vorbild und Reformpartner für andere muslimische Länder in unserer europäischen Nachbarschaft werden, und das würde einen enormen Sicherheitsgewinn für Europa und damit auch für Deutschland bedeuten. Dass das gelingt, liegt im nationalen Interesse unseres Landes, und das müssen auch diejenigen einsehen, die - aus welchen Gründen auch immer; manchmal sind es nur vordergründige - skeptisch sind, weil sie skeptisch sein wollen.

Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh, heute bei Ihnen in dieser beeindruckenden Stadt Istanbul zu Gast zu sein. In der strategischen Lage am Bosporus hat Istanbul seinen weltweit einzigartigen Charakter und Charme entwickelt. Diese strategische Lage ist aber auch die Basis dafür, dass Istanbul seit Jahrhunderten ein Magnet für Händler, aber eben auch für Investoren aus Europa und Vorderasien ist. Für die Wirtschaft Europas ist diese Stadt gleichsam das Tor zur Türkei. Das gilt ohne jeden Zweifel auch für die deutsche Wirtschaft, die nun schon seit zehn Jahren mit der deutsch-türkischen Handelskammer hier in Istanbul vertreten ist. Die Kammer hat in diesen Jahren einen unverzichtbaren Beitrag zum Ausbau unserer Wirtschaftsbeziehungen geleistet. Dafür danke ich Ihnen, Herr Präsident, und natürlich auch Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Unser gemeinsames Handelsvolumen beträgt inzwischen gut 14 Milliarden Euro. Aber vor allem für kleine und mittlere Unternehmen ist noch ein enormes Potential in diesem Land vorhanden. Gerade diese Unternehmen, also die kleinen und mittleren, sollten sich angesichts der Reformen überlegen, ihr Engagement in diesem Land durchaus zum Nutzen beider Seiten zu verstärken.

Darüber hinaus sind die Chancen auch für große Projekte gut. Wir, der Ministerpräsident und ich, werden morgen gemeinsam das Kraftwerk ISKEN der STEAG in Iskenderun einweihen. Alle Erfahrung zeigt, dass von solchen Projekten viele kleine und mittlere Unternehmen profitieren können. Wir, Herr Ministerpräsident, haben in unserem heutigen Gespräch über Bereiche geredet, die besonders aktuell sind. Ich denke z. B. an das Transportwesen, ich meine sehr konkret die Frage der Zusammenarbeit bei den Eisenbahnen, und den Bereich der Flugzeugindustrie. Der deutsche Markt bietet den türkischen Unternehmern also große Chancen, und sie sollten sie nutzen.

Auf zwei Punkte will ich dabei näher eingehen: Nicht nur die türkische Regierung will durch ihre Reformagenda die Rahmenbedingungen für die Unternehmen in ihrem Land verbessern, auch wir in Deutschland haben einen Reformprozess in Gang gesetzt, der Investitionen in Deutschland noch attraktiver macht. Die türkischen Unternehmer aus Deutschland, etwa Herr Öger oder Herr Sahin, die Mitglieder meiner Wirtschaftsdelegation sind, können das sicherlich anschaulich bestätigen. Die deutschen Unternehmer türkischer Herkunft leisten einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung unserer Länder. Übrigens gilt das auch für die vielen Hundertausenden - ja, Millionen - fleißiger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Deutschland den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien verdienen und dabei natürlich auch Sozialbeiträge in die unterschiedlichsten sozialen Sicherungssysteme einzahlen. Beim zweiten Punkt geht es um die neue deutsch-türkische Handelskammer in Köln, die im April eröffnet wird. Sie wird es gerade den kleinen und mittleren Unternehmen aus der Türkei erleichtern, auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen.

Meine Damen und Herren, in unseren beiden Ländern arbeiten wir intensiv an wichtigen Reformen. Sie sind unterschiedlich - keine Frage - , aber wichtig sind sie. Gelegentlich sind sie auch schwierig, und wer wüsste besser davon zu reden als ich selbst? Aber auch, wenn die einzelnen Ziele durchaus unterschiedlich sind, verbindet uns doch die gemeinsame Erfahrung, dass Veränderung in einer radikal veränderten Welt notwendig ist, einfach um für uns selbst - aber mehr noch für unsere Kinder und deren Kinder - Zukunftsfähigkeit zu erreichen. Ebenso verbindet uns auch die Erfahrung, dass Veränderung möglich ist, wenn man sich anstrengt, und dass die Aussichten auf Erfolg die Mühen allemal lohnen. Deswegen finde ich, Herr Ministerpräsident, dass man - wenn in unterschiedlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert, gleichwohl gemeinsam - am Ziel der Stabilisierung der Freundschaft zwischen dem türkischen und dem deutschen Volk und der noch weiteren Verbesserung unserer wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen arbeiten kann und arbeiten soll. Ich bin ziemlich sicher: Der heutige Abend wird einen maßgeblichen Beitrag dazu leisten. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.