Redner(in): Christina Weiss
Datum: 25.02.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss hält die Einführungsrede zum Kulturpolitischen Aschermittwoch "Wieviel Kultur verträgt das Fernsehen?", veranstaltet von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin am 25. Februar 2004
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/84/612784/multi.htm


auch ich heiße Sie sehr herzlich willkommen in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin zu unserer gemeinsamen Veranstaltung. Aschermittwoch meint einen Tag, an dem man sich auf den Weg macht, die Gunst einer spröden Schönen zu erobern, der Wahrheit nämlich. Diese Definition Schopenhauers mag uns begleiten, wenn wir heute über ein Thema diskutieren, das Macher und Interessierte gleichermaßen entzündet, das aber auch zum Vorbeireden animiert."Wie viel Kultur verträgt das Fernsehen?", heißt der Titel unserer Runde, und schon auf diese Frage mag es schnelle, einfache Antworten geben. Abgewandelt könnte das Motto aber auch lauten: "Welche Kultur meint das Fernsehen". Die einen irritiert eine Nachricht über den verunglückten Daniel Küblböck in der gestrigen "Tagesschau" gewaltig, andere halten dies für eine Kulturmeldung und für legitim, weil 85 Prozent der Deutschen den sogenannten Sänger und Medienstar kennen.

Niemand mag bestreiten, dass ARD und ZDF Kulturträger sind, ja sogar Ausdruck unserer Kultur. Dies bezieht sich vor allem auf die Vielfalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, auf attraktive Programme von großen und kleinen Anstalten. Ich verteidige dieses gewachsene System ganz vehement, gerade jetzt, wo es wieder ans Sparen geht. Man kann es inzwischen fast einen Reflex nennen, der Politiker wie Medienmacher gleichermaßen befällt. Inzwischen ist es ihnen unsagbar peinlich, sich zur Kultur zu bekennen. Gerade in dieser Situation sollte hin und wieder daran erinnert werden, warum der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch Gebühren finanziert wird: weil er auch einen Kultur- und Bildungsauftrag zu erfüllen hat. Die diversen Rundfunkstaatsverträge sehen gerade in der Kultur ein wesentliches Element des Programmauftrages des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Wenn sich ARD und ZDF von den kommerziellen Veranstaltern unterscheiden wollen, muss dies auch so bleiben. Und mehr noch: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk würde seine Gebührenlegitimität, und damit letztendlich seine Existenzberechtigung aufs Spiel setzen, sollte er Programminhalte und -formen in Zukunft denen der Privaten noch stärker als bisher annähern. Gerade mit seinem Engagement und seinen Angeboten im kulturellen Bereich begründe ich in der europäischen Diskussion seine besondere Funktion und verteidige ihn gegen alle hartnäckigen Bestrebungen, seine Finanzierung unter Beihilfegesichtspunkten in Frage zu stellen. Wir werden heute zu klären haben, wie es um die Kultur im Fernsehen wirklich steht und ob es ausreicht, der Kultur mit den Mitteln der Unterhaltung beizukommen.

Die Frage in der Überschrift zu unserer Veranstaltung lädt aber auch dazu ein, mit lockerer Geste "viel" zu antworten und flugs auf 3sat, Arte oder die digitalen Zusatzangebote von ZDF. theaterkanal und EINSfestival zu verweisen. So einfach, lieber Herr Bellut, lieber Herr Struve, wollen wir es Ihnen heute nicht machen. Keine Angst, wir sitzen hier nicht über das von Ihnen verantwortete Programm zu Gericht, aber Gert Scobel wird mit seiner Runde aus Künstlerinnen und Künstlern danach fragen, was von ARD und ZDF erwartet wird, welche Möglichkeiten und Wege es gibt, die Kultur zum Gesprächsstoff im Fernsehen zu machen. Ich selbst habe jüngst darauf aufmerksam gemacht, wie verschwindend gering und uninteressant der Anteil von Kulturmeldungen in Hauptnachrichtensendungen ist. Die Reaktion der Anstalten fiel so aus, wie ich es eben beschrieben habe: Wir haben doch 3sat und Arte.

Lassen Sie mich meine Überlegungen und Beobachtungen noch einmal wiederholen. Der Club der toten Dichter in "heute" oder der "Tagesschau" wird selten von den Lebenden durchlüftet. Große, wichtige Ausstellungen kommen nur sporadisch vor, es sei denn das MoMA gastiert in Berlin. Daran ist schwer vorbeizukommen. Eine kleine inoffizielle und sicher nicht repräsentative Erhebung: Meine Mitarbeiter haben vierzehn Tage im November des vergangenen Jahres in den wichtigen Nachrichtensendungen des ZDF nach Kulturstücken gesucht. Das Ergebnis: In 75 Nachrichtensendungen waren nur siebzehn Kulturbeiträge zu finden. Die Themen: "Harry Potter", die Memoiren von Boris Becker, eine HipHop-WM in Bremen, das Konzert von Herbert Grönemeyer, die Versteigerung von Concorde-Ersatzteilen bei Christies usw. Nichts über die Neueröffnung des Münchner Hauses der Kunst, nichts über Rem Kohlhaas in Berlin, nichts über Delacroix in Karlsruhe. Diese Analyse mündete in meiner bekannten Forderung nach einer Kulturquote in den Nachrichtensendungen. Wenigstens eine Kulturnachricht pro "Tagesschau" oder "heute" sollte doch möglich sein. Das redaktionelle Know-how dafür ist sicherlich vorhanden. Mein Vorschlag löste viel Widerstand und auch Kopfschütteln aus. Man verbat sich Nachhilfe von meiner Seite. Dennoch: die kulturelle Essenz gehört für mich zum festen Programm einer Nachrichtensendung, so wie das Feuilleton zu einer Qualitätszeitung gehört. Es ist nicht recht einzusehen, warum über die rasanten Entwicklungen in Kultur und Wissenschaft nur sporadisch berichtet wird. Glauben Sie nicht, lieber Herr Bellut, dass wir nur das ZDF beobachtet hätten. Auch in der ARD, so ist mein Eindruck, wird Kultur gern als Füllmasse für verfügbare Sendeminuten eingesetzt. Meist regiert das Zufallsprinzip, selten die journalistische Analyse, die Bewertung, die Einordnung relevanter Kulturereignisse. Ist also in den überregionalen Programmen nur erlaubt, was boulevardesk genug ist, was kulturelle Oberflächen abbildet? Wie gesagt, das alles sind Beobachtungen von Zuschauerinnen und Zuschauern, keine Maßregelungen der Politik. Man kann eine Kulturquote, ich weiß es wohl, nicht per Gesetz verordnen, wobei es durchaus reizvoll und auch heiter wäre, einen Bußgeldkatalog für Verstöße aufzustellen. An Ideen dafür würde es mir nicht mangeln. Eine Quote oder eine "Code of Culture" können sich nur die Sender selbst verordnen, und zwar nach dem Prinzip der Selbstverpflichtung. Die programmlichen Selbstverpflichtungen, an denen ARD und ZDF im Moment schreiben, sind dafür die ideale Gelegenheit. Wir werden diese Ergebnisse, die im Herbst vorliegen sollen, mit Interesse studieren. Nur Mut, meine Herren Programmdirektoren! Das wäre ein wirklicher Schritt nach vorn, und zwar deshalb, weil Kultur nach meiner Vorstellung eine existentielle Notwendigkeit ist und keine Feinschmeckerei. Welcher Kulturbegriff, so frage ich mich, herrscht im Fernsehen vor? Ich halte mich hier gern an Hans Mayer, der denen, die in Ausdrucksformen der Kultur nach elitären und demokratischen Mustern zu unterscheiden wissen, heftig die Leviten las: "Denkt man das Prinzip zu Ende, so heißt das: die Groschenheftchen sind Ausdruck einer demokratischen Kultur, aber die Gedichte eines Peter Huchel oder Günter Eich sind'elitär'. Bedenklich wird diese eingewurzelte Schematik bei den Massenmedien, insbesondere bei den Fernsehanstalten. Wenn nämlich in den Funkhäusern und Fernsehanstalten bei den Kultursendungen ausschließlich abgestellt wird auf die Einschaltquoten, um daraus zu folgern, welche Sendungen'angenommen'wird und welche nicht, dann unterdrückt man Minderheiten, mutet dem Publikum gar nichts mehr zu und meint bei schwierigen und anspruchsvollen Themen, die interessierten doch höchstens'Insider'. Hinter dieser scheinbar so'demokratischen'Denkweise verbirgt sich sehr viel Menschenverachtung". Geschrieben ist dieses kulturpolitische Memorandum übrigens im November 1979!

Ich sehe die öffentlich-rechtlichen Anstalten immer noch als Lordsiegelbewahrer der Qualität im deutschen Fernsehen: mit ihren Magazinen, mit ihren Filmen, mit ihren Dokumentationen, mit ihren Nachrichtensendungen. Parallel zur Diskussion über die Gebührenerhöhung stehen wir mitten in einer Debatte über die Strukturen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Diese Debatte ist Ländersache, und soll uns heute nicht beschäftigen. Beschäftigen wollen wir uns hier aber mit der Frage, welchen strukturellen Stellenwert Kultur im Fernsehen hat. Und das heißt: Was verstehen wir unter Kultur? Macht es denn Sinn, zwischen U- und E-Kultur zu unterscheiden, was in anderen Ländern belächelt würde? Welche Ansprüche stellt man an Kultursendungen? Wo liegt das Außergewöhnliche fernab der Spartenkanäle? Kultur im Fernsehen verlangt nach neuen Antworten und ungewöhnlicheren Formaten abseits der ausgezirkelten "Denk-Sendungen". Denn hier geht es nicht nur darum, ein elektronisches Feuilleton aufzubauen, sondern ganz aktiv eine Rolle als Vermittlerin zu spielen, eine Öffentlichkeit für Kultur herzustellen. Und dies keineswegs nur mit leichten, gefälligen, unterhaltsamen Beiträgen, sondern durchaus ernsthaft, aber verständlich! Wir leben in einer Zeit, in der Schwellenängste gegenüber der Kultur immer größer werden. Es gibt Menschen, die sich nicht in ein Museum trauen, die die Oper meiden oder glauben, im Theater nicht alles zu verstehen, dabei aber durchaus neugierig sind auf das, was dort geboten wird. 44 Prozent aller Deutschen interessieren sich - zumindest zaghaft - für Kunst und Kultur. Ein Fünftel der Bevölkerung hat nach eigenen Angaben eine gewisse Affinität dazu. Was für ein Zuschauerpotential! Diese Menschen mitzunehmen, ihnen zu zeigen, dass Musik, Film oder Theater, die Kunst überhaupt, Spaß und Freude bereiten kann, zu neuen Einsichten führt und trotzdem unterhaltsam sein kann, das gehört für mich zum Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender. Und wenn mit einer Sendung wie "Sunday Night Classics" junge Leute für die klassische Musik gewonnen werden sollen und wenn es nötig sein sollte, eine Konvergenz zwischen Rosenstolz und Renée Fleming herzustellen, dann sollten wir darüber nicht die Nase rümpfen, sondern uns darüber freuen. Gleichwohl darf natürlich die Frage gestellt werden, warum man Pop-Musik von heute mit klassischer Musik von gestern kombiniert. Nimmt man die Idee der Sendung wirklich ernst, wäre es doch eher konsequent, Rosenstolz zum Beispiel mit Matthias Pintscher zu konfrontieren.

Wenn auch Kritiker aufjaulen und dem Fernsehen jedes kritische Bewusstsein für Literatur absprechen, Elke Heidenreich und Dennis Scheck zum Beispiel bringen mit ihren Sendungen andere Menschen zum Lesen als Zeitungsrezensenten. Das ist doch das Gegenteil von der Vorstellung, Kultur mit der Elle des Boulevardjournalismus zu messen. Das ist das Gegenteil von Oberflächlichkeit. Das meint nicht nur, das Alte, Bewährte wahrzunehmen, sondern auch den Reiz des Neuen erkennen zu können. Mut zur Vermittlung ist für mich ein absolut wichtiger Bestandteil des kulturellen Diskurses in unserer Gesellschaft. Insofern sind die öffentlich-rechtlichen Sender genau die richtigen Partner für diese Art von geistiger Entwicklungshilfe. Ich glaube mit Hans Mayer,"dass mit Hilfe der Schallplatte, der Taschenbücher, der Rundfunksendungen, natürlich auch der anspruchsvollen und interessanten Fernsehaufzeichnungen die Zahl der Menschen gewaltig anstieg, welche von diesen neuen Möglichkeiten einer Begegnung mit Schöpfungen der Künstler und den Denkweisen der Wissenschaft wirklich Gebrauch machen." Wir brauchen also das Fernsehen, wenn wir unsere Zeit verstehen wollen: um uns zu bilden, um zu erkennen, um uns zu orientieren. Insofern ist es eben nach meiner Einschätzung ein Fehler, Kultur- und Wissenschaftssendungen erst kurz vor Mitternacht auszustrahlen, wenn ein Großteil der Prime-Time-Zuschauer sich bereits vom Apparat verabschiedet hat. Vielleicht können wir heute auch darüber sprechen.

Unterschätzen wir die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht. In diesem Sinne freue mich jetzt auf eine ehrliche Diskussion ohne Ausflüchte, um der Wahrheit ans Licht zu helfen. Ich danke der Friedrich-Ebert-Stiftung sehr herzlich für die gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der heutigen Veranstaltung. Mein Dank gilt auch dem Sender 3sat, der uns seinen Moderator Gert Scobel heute ausgeliehen hat. Ich danke allen Gesprächspartnern des heutigen Nachmittags für Ihr Kommen und hoffe sehr, dass wir die den Titel der Diskussion nicht nur mit einem Begriff aus der Mengenlehre beantworten. Vielen Dank, lieber Herr Scobel bitte übernehmen Sie!