Redner(in): Christina Weiss
Datum: 26.03.2004

Untertitel: Bei der Verleihung des Kurt-Wolff-Preises auf der Leipziger Buchmesse hielt Staatsministerin Weiss am 26. März 2004 die Laudatio auf die Preisträger.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/91/628391/multi.htm


heute ist für mich wirklich ein Anlass zur Freude. Ich darf gleich dreifach gratulieren, nämlich alter und neuer Avantgarde und zum dreißigjährigen Bestehen des Nautilus-Verlages.

Der supposé-Verlag, so klein und so tapfer, gewinnt den Preis für besondere Projekte, der Nautilus-Verlag, so klein, aber so konsequent den Kurt-Wolff-Preis.

Die Kurt-Wolff-Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene wurde von einem meiner Vorgänger, Michael Naumann, im Jahr 2000 gegründet und vergibt seitdem zum vierten Mal den Kurt-Wolff-Preis für besondere verlegerische Leistungen. Kurt Wolff, der Schirmherr und Pate des Preises, müsste sich seiner beiden diesjährigen Kandidaten nicht nur nicht schämen, er wäre stolz auf sie. Vergessen wir nicht, dass Kurt Wolff ein großer Ästhet war. Beide Editionen hätten ihm nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich der typographischen Sorgfalt garantiert gefallen. Beide Verleger auch. Seine Antwort auf die Frage, wo er seinen Beruf erlernt habe, war stets: nirgends, die Hauptsache, die man mitbringen müsse, sei Enthusiasmus, verbunden mit Geschmack. Und Glück sei natürlich auch unentbehrlich.

Unsere beiden Kandidaten haben heute Glück. Aber das reicht nicht, für sie nicht und für die anderen erst recht nicht.

Die begrüßenswerte Tatsache, dass mit Hilfe solcher Preise Kleinverlage eine dringend nötige Aufmunterung bekommen, macht erst deutlich, wie groß die Misere im deutschen Verlagswesen ist. Engagierte Verlage, die nicht mit einem großen Publikum rechnen können, haben kaum eine Chance zu überleben. So schön der Kurt-Wolff- Preis für die glücklichen Gewinner ist, er bleibt, insgesamt gesehen, ein Tropfen auf den heißen Stein als Anerkennung vom Staat. Was die Programme kleiner Verlage betrifft, geht es aber oft um das kulturelle Gedächtnis des Landes, und eigentlich müsste die Kulturnation selbst sich die Förderung solcher Verlage zur Aufgabe machen - gewissermaßen als Geschäftsführer ohne Auftrag. Natürlich wäre es auch schön, wenn sehr große Verlage, die Millionen scheffeln, sehr kleinen Verlagen unter die Arme griffen. So was nannte man früher Querfinanzierung, Mischkalkulation oder was immer. Das sollte auf Konzernebene klar erkennbare Politik sein.

Es scheitert nie daran, dass Geld fehlt. Es scheitert meist daran, dass die Programmgestaltung der großen Verlage sich immer mehr darin erschöpft, Bestseller herauszubringen. In dem großen Gerangel um den Kassenknüller geht der literarische Aspekt von Literatur mehr und mehr verloren. Aber statt Zukunftsmusik jetzt Audiophilosophie! Wir sprechen vom supposé-Verlag.

supposé heißt "angenommen dass", ein Name, der Spielraum für Perspektivenwechsel und Reflexion eröffnet. Er stammt von der ersten Aufnahme mit Vilem Flusser und blieb ihm gewissermaßen als Devise erhalten. Brecht hätte gesagt: "In Erwägung dessen" oder wörtlich: "In Erwägung, dass" das Geschäft mit dem Hörbuch boomt, überlegen wir doch mal, was man noch mit dem Medium Stimme machen kann, außer einen Schauspieler vors Mikro zu setzen und ihn Thomas Manns "Tod in Venedig" lesen zu lassen.

Bei supposé gibt es nur Originalaufnahmen, entweder historische Aufnahmen oder Aufnahmen mit den Autoren selbst, mit Cioran, Konrad Bayer, Hubert Fichte; die CD's basieren nicht auf existierenden Büchern, sondern sind Versuche, eine eigenständige Publikationsform für Audioaufnahmen zu entwickeln, Sachen an der Grenze zwischen biographischen Dokumenten, Feature und Einführungen in bestimmte Wissensgebiete durch einen Könner auf dem Gebiet. Der Gesang der Schlittenhunde, den Oswald Wiener in den Wäldern Kanadas aufgenommen hat, mag eine gewisse Ausnahme darstellen, insofern sie nicht historisch und autorenbezogen höchstens im Sinne eines Kollektivsubjekts ist. Viele dieser Tondokumente sind jenseits dessen, was sie semantisch transportieren, interessant - als Zeitkolorit, als Stimmausdruck, per se dadurch, dass sie alt sind. Lise Meitner, Albert Einstein, Max Planck - akustisch Überlebende erreichen uns durch Zeitkorridore.

Da gibt es natürlich vor allem die Verlockung der Authentizität. Man hört Leute in eigener Sache reden und nicht nur als die mehr oder minder geschickten Reproduzenten schon vorhandener Texte, denen eine nicht authentische Stimme gegeben wird, die aber die authentische Stimme des Textes zu sein vorgibt."Authentisch" ist jedoch noch nicht das eigentliche Zauberwort. Was weit über Authentizität hinausgeht, ist die erotische Komponente: die Stimme als Werbungsträger. Damit sind diese Aufnahmen das Gegenteil von Vermarktung, für die Stimmen eingesetzt werden, es ist eine Werbung, die noch nichts von Vermarktung weiß. Es ist die erotische Komponente, die man beim Buch imaginieren muss.

Wir kommen vom Mysterium der sokratischen Rede - Sokrates hatte ja den absoluten Vorbehalt gegen das Schreiben und ist insofern der wahre Schutzheilige der mündlichen Rede - zum submarinen Kassiber.

Nautilus, wie die Jules Verne Leser unter uns wissen, fährt unter Wasser und hat die ganze Zivilisation in sich. Er fährt allerdings leider ununterbrochen dem Maelstrom zu. Diejenigen, die uns das berichten, sind gerade noch vorher ausgestiegen. Unserem Nautilus hier wünschen wir, daß er nicht wie der Ur-Nautilus des Kapitän Nemo im Maelstrom versinkt, sondern immer wieder auftauchen und über Wasser ankommen möge und die Schätze der Zivilisation, die in seinem Bauch verborgen sind, tatsächlich allen zugänglich macht. Dazu soll dieser Preis verhelfen.

Während der originale Nautilus mit einer eklektisch universalen Bibliothek bestückt war, ergibt die des Nautilus-Verlags ein gezieltes Bild einer subversiven Bibliothek, denn hier finden wir die Dokumente, die die Gesellschaft sich nicht nehmen lassen darf, und während der alte Kapitän mit dem Odysseusnamen Nemo unbeweibt zur See fuhr, hat unser Kapitän Lutz Schulenburg, ohne den es diesen Verlag nicht gäbe, eine Muse zur Seite, Hanna Mittelstädt, und die verhindert offensichtlich, dass er, anders als sein Namengeber, zum Rächerkapitän wird. Schulenburg und seine Crew können sich auf das Subversive beschränken. Das ist Rache genug.

Womit ist der Nautilus Verlag bestückt?

Mit "Schneckenbissen der Unvernunft" beispielsweise, aber die sollen nur als Metapher dafür stehen, wie herz- und geisterfrischend sich die "Kleine Bücherei für Hand und Kopf" allen möglichen Windungen und Strömungen öffnet, die wir etwas grob unter der Chiffre Surrealismus zusammenfassen können. Das wahre Wunder des Nautilus ist natürlich die in Jahren erarbeitete Franz Jung- Ausgabe. Welcher kleine Verlag hat schon die Kraft bzw. das Geld eine richtig große Gesamtausgabe zu stemmen? Dieser Autor ist sogar bei der Wiederentdeckung des Expressionismus zu kurz gekommen, wozu er ja auch gar nicht richtig gehört, eher ist er so etwas wie ein Anarchist der Neuen Sachlichkeit.

Politisch immer bei allen Leuten schlecht angesehen, außer angeblich in den 60er und frühen 70er Jahren in der DDR. In Wirklichkeit passte er nirgends hin eben wegen seiner anarchischen Tendenzen und da haben die Nautilusleute zugegriffen und gesagt: zu uns passt er. Er passt in der Tat gut in deren Mischung von Expressionismus, Dadaismus, linkem Anarchismus der 20er Jahre. Jung ist der Verfasser eine Autobiographie mit dem Originaltitel "Der Torpedo-Käfer", eine der ganz großen Autobiographien, später erschien sie unter dem Titel "Der Weg nach unten". Dazu kommen viele Erzählungen, darunter geniale Texte, die z. T. noch gar nicht richtig wahrgenommen wurden. Er hat am Spartakusaufstand mitgemacht, während des Dritten Reichs im Untergrund gearbeitet, tagsüber an der Börse gejobbt, d. h. nachts also den Laden unterminiert, den er tagsüber betreiben half.

Schließlich wanderte er aus und wurde von Pfeilkreuzlern in Ungarn beinahe umgebracht - ein irres Schicksal und literarisch eine hochinteressante Figur im Sinne essayistischer und rhythmisierter Prosa aus dem ersten und zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

Was ihm wie ein Stigma angehangen hat, waren seine reale politische Tätigkeit und seine Stellungnahmen, die sich nicht in dem Pathos des Neuen Menschen erschöpften. Das nennt man Doppelleben. Erst wenn so ein Doppelleben literarisch erscheint, wird es ein zusammenhängendes Leben. Diese "Lebensrettungen" gegen den Zeitgeist hat sich der Verlag zur Aufgabe gemacht und hält diese Aufgabe auch bei den anderen "Doppelleben" eisern durch - von Durruti über Fritz Mierau, Erich Mühsam, Leo Malet, Che Guevara, Frantz Fanon, Woody Guthrie, Billie Holiday bis Inge Viett.

Erst in dem Augenblick, wo deren Lebensgeschichten veröffentlicht werden, lässt sich eine Zeitsignatur erkennen, verkommen sie nicht zu einer unveröffentlichten Legende. Das ist die Leistung von Nautilus.

Herzlichen Glückwunsch!