Redner(in): Christina Weiss
Datum: 26.03.2004
Untertitel: Rede von Kulturstaatsministerin Christina Weiss zur Verleihung des Italo-Svevo-Preises am 26. März 2004 im Gohliser Schlösschen in Leipzig.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/94/628394/multi.htm
der Italo-Svevo-Preis unterstützt ästhetischen Eigensinn, so steht es in den Statuten von Blue Capital, dem engagierten Kulturförderer. Was für ein romantisches Unternehmen, für ästhetischen Eigensinn einzutreten!
Wir sehen hinter dem Label Blue Capital nicht blauen Dunst aufsteigen, vielmehr die unvergessliche blaue Blume unserer unsterblichen inneren Romantik wiederaufblühen.
Zur blauen Blume gehört Musik, wenn auch auf einer "Crazzola", wie Italo Svevo seine Trösterin nannte, und dass er die Geige kratzte - was vielleicht nur Understatement war - spricht auch wieder für den ästhetischen Eigensinn. Nach seiner Crazzola heißt die kleine Zeitschrift Crazzola, die bislang jeden Italo-Svevo-Preis begleitet hat, und das sollte auch so bleiben. Crazzola sollte nicht verstummen, denn ästhetischer Eigensinn zahlt sich aus! Ästhetischer Eigensinn'ist ein Stichwort, das den Namensgeber des Preises mit Eckhard Henscheid verbindet. Und so leuchtet es ein, dass Henscheid, der noch nie einen Preis angenommen hat, beim Italo-Svevo-Preis eine Ausnahme macht. Das ist eine gute Ausnahme, die ermessen lässt, wie groß seine Verehrung für Ettore Schmitz, den "italienischen Schwaben" aus Triest ist, der uns "das Poem unseres komplizierten zeitgenössischen Wahnsinns" geschenkt hat. So formulierte es Eugenio Montale in seiner frühen Hommage an Svevo. Wilhelm Genazino schreibt in einem Essay "Über literarische Erfolglosigkeit", der in der Neuausgabe von "Zeno Cosini", jetzt mit dem Titel "Zenos Gewissen" bei Zweitausendeins abgedruckt ist: "Svevo gehört zu den vielen Schriftstellern, deren Nachruhm ihren Ruhm zu Lebzeiten um ein Vielfaches übertrifft. Allerdings schmeckt Nachruhm immer ein bisschen nach Trostpreis und Sauermilch".
So gesehen sind wir froh, dass Henscheid seinen Ruhm bei Lebzeiten solide befestigt hat. Seine Bücher sind greifbar, und sofern vergriffen, werden sie in den nächsten Jahren in einer großen Werkausgabe bei Zweitausendundeins zu haben sein.
Über Svevo kann man alles Mögliche sagen, er kann sich nicht mehr wehren. Über Henscheid sollte man auf keinen Fall alles Mögliche sagen, er kann sich sehr lebhaft wehren. Furchtlos möchte ich ihn jetzt aber dennoch als den größten deutschen lebenden Satiriker bezeichnen, zumindest wenn ich ganz schnell hinzufüge, ehe er selbst sich diese Klassifizierung verbittet, dass ich dabei an Satire im altrömischen Sinn denke. In Satire steckt unser Wort satt, fruchtbar, reichhaltig. Lanx Satura war der Teller mit reicher Früchteauswahl, den man den Göttern darbrachte.
An dieses Opferritual schlossen sich die Dichterlesungen der lateinischen Satiriker an, auch sie präsentierten solch einen Teller, ein Angebot: hier ist etwas unglaublich Reichhaltiges, etwas Sattmachendes, es ist von jedem etwas, es ist unordentlich und es gehört in einen Ritus, ohne den die Gesellschaft nicht zurande käme mit sich selbst. Einen solchen Teller hat Henscheid der Gesellschaft immer wieder vorgesetzt, ob sie ihn mochte oder nicht.
Wenn dem Satiriker in der Tradition der Reichtum, das Sattmachen zugesprochen wird, so verbindet Henscheid mit Svevo noch anderes, die Leichtigkeit, auch die Bosheit, das Hantieren mit Masken und Maskenlosigkeit.
Seine frühen Romane wie "Die Vollidioten","Geht in Ordnung - sowieso -- genau ---" und die "Mätresse des Bischofs" waren eine bedeutende Chronik der Bundesrepublik in einer Kunstprosa, die die Kunst unterläuft. Dass er aus der Bedeutungslosigkeit vieler Minuten und der Albernheit dessen, was man so im Lauf des Tages von sich gibt, aus dem Dummbabblerischen, Klugscheißerischen, dem kleinbürgerlichen Unverständnis für die Welt, dass man aus Langeweile etwas anderes als Langeweile machen kann, nämlich wirklich Kunst, ist eine tolle Innovation gewesen. Sie ging nicht auf in der Kategorie "den Kulturbetrieb kichernd gegen den Strich bürsten" - was er im Quartett oder Quintett mit Robert Gernhardt, F. W. Bernstein, F. K. Waechter und Bernd Eilert häufig praktiziert hat. Überhaupt nichts dagegen, aber seine große Leistung liegt in seiner eigenen Prosa.
Er ist einer der großen komischen Autoren, für den Kierkegaards Diktum gilt, dass Ironie die säkulare Form des Ethischen ist, und an dieser Stelle muss schließlich auch noch die Ahnenschaft von Jean Paul erwähnt werden, bei dem der - dargestellte, nicht sein persönlicher - "Humor" als der pure Schrecken auftreten kann, in enger Nachbarschaft zu Gemütlichkeit und Brutalität.
Wenn man sich die deutsche Nachkriegsliteratur ansieht, ist die große Literatur, die für uns zählt - also Grass, Böll, Köppen, Johnson - , Heimatdichtung. Da werden alle Widersprüche dieser Welt in die Heimat hineingelegt, und die Heimat beginnt zu leuchten - ob Rheinland oder Danzig oder Mecklenburg. Von Henscheid wird nicht Heimat beschworen, sondern Provinz aufgebrochen, aufgemischt. Sie erscheint so unerträglich, dass man sich nur mit einem Katastrophenlachen aus ihr retten kann.
Auf Umwegen nur kann Henscheid in die Heimat zurückkehren, beispielsweise in seinem wunderschönen Eichendorff-Buch "Aus der Heimat hinter den Blitzen rot", in dem er sich als Liebender offenbart und die Vorstellung aufkommen lässt, dass er dort, wo es sich nicht um Provinz handelt, selbst zu den Heimatdichtern gehören könnte. Hier zeigt er, dass er nicht nur der Provinzzertrümmerer ist, sondern dass er eine Tradition, und zwar eine, die durch einen unmäßigen Gebrauch der Vokabel Heimat depraviert worden ist, als etwas begreift, was zur Ration, zur Lebensration gehört. Es sei auch heute noch bestimmt kein Fehler, sagen wir vierzig Gedichte Eichendorffs auswendig aufsagen zu können, meint er. Auch das ist Henscheid, meine Damen und Herren. Wir verdanken ihm viel.