Redner(in): Christina Weiss
Datum: 29.03.2004
Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss spricht bei der Veranstaltung "Die Rede" des SPD-Kulturforums Schleswig-Holstein am 29. März 2004 in Plön über Ästhetik und Kunst, das "Gesetz des guten Tons" und die Aufgaben der Bundeskulturpolitik.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/43/629543/multi.htm
Kunst und Verwaltung, so konstatierte einst Adorno apodiktisch, seien inkompatibel, weil die Kunst immer nur das Besondere, das Unangepasste, das Gegen-die-Normen vertreten kann. Man kann dieses Diktum so interpretieren, dass Kulturpolitik als wenig aussichtsreiches Unterfangen erscheint. Man kann aus ihm aber auch eine Verpflichtung, eine besondere Herausforderung lesen: Die Künste brauchen gerade deshalb einen Vermittler, eine Vertretung, die in die Gesellschaft wirkt. Kulturpolitik hat die Aufgabe, Freiräume zu schaffen, um künstlerische Produktion zu ermöglichen. Sie muss als Vermittlerin agieren, sie muss Brücken bauen zwischen Kunst und Publikum, dafür Sorge tragen, dass Angebote der Information, des Begreifens, des Diskutierens bereit stehen.
Dies gilt gerade in Zeiten, in denen viel von der "Ökonomisierung des Lebens" die Rede ist. Denn unser Leben kann sich nicht allein auf das vermeintlich Effiziente gründen, es wäre dann in einem substanziellen Sinne unvollkommen. Es wäre fatal zu glauben, die Kultur und insbesondere die Kunst seien etwas Zweitrangiges, etwas, dem man sich später widmen könnte, nachdem man die ökonomischen Probleme einer Nation in den Griff bekommen hat. Es wäre fatal, weil Demokratie eine kulturelle Errungenschaft ist und Kunst ihre Dynamik widerspiegelt, ihre Zukunft somit auch vom künstlerischen Antrieb geprägt wird. Wir brauchen die Zusammenhänge der Philosophie, der Künste, der geistigen Werte, die dem alltäglichen Leben erst den Orientierungsrahmen geben, innerhalb dessen die praktischen Ziele verfolgt werden sollen. Erich Marcks, Historiker und einer der Gründungsväter der Hamburger Universität, hat dies bereits 1913 pointiert formuliert: "Wirtschaftliche Enge und kulturelle Banalität" seien die wirkliche Gefahr für die geistigen Lebenskräfte.
Es gebe nichts "Unpraktischeres als die Blindheit für den Wert des Unpraktischen"."Denn keine Begrenzung auf das Nützliche ist wahrhaft nützlich."
Diese Diagnose gilt nach wie vor; sie ist vielleicht aktueller denn je. Wir sehen uns im weiten Feld der Kultur mit einer paradoxen Situation konfrontiert:
Einerseits gibt es das verbreitete Unverständnis den Werken der zeitgenössischen Kunst gegenüber, ein Unverständnis, das aus mangelnder Neugier und mangelnder Wertschätzung für künstlerische Arbeit generell, aber auch aus mangelnder Vermittlung heraus wächst. Oft genug wird fast reflexartig die Frage nach dem Sinn staatlicher Förderung gestellt - "für so was".
Als Folge solch gestörter Kommunikation sehen sich auch die Künstler einem verschärften Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, der durch die Finanzkrisen auf allen Ebenen noch zugespitzt wird.
Das ist die eine Seite der Problematik, die andere betrifft unsere Konsumhaltung und die in den letzten Jahrzehnten beschleunigte "Ästhetisierung unserer Lebenswelt". Wir leben in einer durchgestalteten Event-Gesellschaft mit einer wachsenden Nachfrage nach "schön" gestalteten Oberflächen, Designambienten und Wellness-Emotionen. Und viele Menschen verlangen auch von der Kunst, sie solle "ästhetisch" sein und gefallen - sie meinen in Wahrheit "gefällig sein".
Dabei ist unser Alltagsgebrauch des Wortes "ästhetisch" eigentlich ein Missverständnis: "Ästhetisch" bedeutet nämlich eben nicht "schön", auch wenn diese Bedeutung sich seit der Aufklärung in unser Denken geschlichen hat. Und "ästhetisch" bedeutet erst recht nicht "gefällig", wie uns die Werbung glauben lassen will. Ästhetisch "ist im Grunde ein kunsttheoretischer Begriff und bezieht sich auf den Anspruch eines Werkes, als Kunst bezeichnet zu werden." Ästhetisch "heißt: eine an der künstlerischen Wahrnehmung trainierte Wahrnehmung." Schön " ist dagegen ein sehr relativer Gefallensbegriff, der sich weitaus mehr auf Genussobjekte und Konsumgegenstände bezieht. Die Zwischenbereiche der angewandten Künste und des Design, die auf Funktionalität und gelungene Form setzen, fördern das Missverständnis, ästhetisch sei gleichzusetzen mit schön.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Jeder würde zustimmen, dass eine Architektur wie die des Jüdischen Museums von Daniel Libeskind oder die des Guggenheim-Museums in Bilbao von Frank Gehry den Künsten zuzuordnen ist, also ästhetisch im Sinne der Ausgewogenheit von Idee und Ausdruck. Im Sinne von: Es macht neugierig, es packt mich, es lässt kein distanziertes Achselzucken zu. Diese Werke lassen aber sehr wohl zu, dass jemand sie nicht als schön wertet. Das ist auch vollkommen gerechtfertigt, und kann sich so leicht in sein Gegenteil wie in sein Missverständnis wandeln: Wenn Sie etwa einen Teil der schon mehr als 100.000 Besucher der Berliner MoMA-Ausstellung zu den Ikonen der Klassischen Moderne befragen, werden sie oft hören, wie "schön" doch die Werke seien, deren Ästhetik auf die Zeitgenossen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber provozieren und abstoßend wirkte.
Die Vermischung der Begriffe und der damit verbundenen Vorstellungen geht noch heute eindeutig zu Ungunsten der neuen Künste aus. Wie bei der heute als Klassik geltenden Kunst geschieht aber gerade und nur hier etwas anderes, etwas innovatives, etwas, das nicht so glatt und poliert als "ästhetisch" bezeichnet würde von denjenigen, die damit nur "schön" ausdrücken wollen.
Und so stellt sich so ein Missverständnis gegenüber den Künsten ein, das mitunter gefährlich ist. Insbesondere wenn die Künstlerinnen und Künstler die Schönheitserwartung enttäuschen - wie es bei Werken der zeitgenössischen Kunst häufig der Fall ist - entstehen erhebliche Legitimationszwänge. Die Bedeutung von Kunst gerät dabei leicht aus dem Blick: Dabei ist Kunst doch das Kraftfeld der Kreativität in einer Kultur! In der Auseinandersetzung mit den Künsten lernen wir, unsere Subjektivität auszuprägen, unsere innere Vielfalt, unsere geistige Unabhängigkeit. Im Umgang mit Kunst erwerben wir Fähigkeiten, die grundlegend, aber nicht selbstverständlich sind: Wir trainieren unsere Wahrnehmungsfähigkeit, schulen die emotionale Intelligenz ebenso wie das Vermögen, über plurale Weltsichten nachzudenken und mit kulturellen Differenzen produktiv umzugehen.
Künstlerinnen und Künstler erkunden Grenzbereiche, sie zeigen Grenzen auf und überschreiten sie zugleich. Und die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung präsentieren sie als Angebot an die Sinne, das in jedem Akt der Rezeption neu und anders begriffen werden kann. Kunst stellt immer wieder neue Beziehungen her zwischen Optionen der Wahrnehmung und Formen der Reaktion. Die Künste - nicht nur, aber auch die "Klassiker" - ermöglichen und erfordern eine Art von Kommunikation, wie sie für unsere Gesellschaft einmalig ist. Diese Kommunikation erschließt uns neue Felder der Erfahrung und des Denkens. Kunst ist das Labor für die Energien der Phantasie.
Ich glaube, aus dem Gesagten wird klar, dass die spezifische Form der Kommunikation, in die uns die Auseinandersetzung mit Kunst führt, der Vermittlung bedarf, weil sie Offenheit und die Bereitschaft, bis dato Unbekanntes zu erfahren, voraussetzt. Und es ist an der Kulturpolitik, die Weichen dafür stellen, dass wir uns diese Neugierde erhalten, dass Kunst zugänglich gehalten und verstehbar gemacht wird, damit sie selbst produktiv und entwicklungsfähig bleiben kann.
Es steht außer Frage, dass wir heute vor einem gewaltigen Umbau unserer Kulturlandschaft stehen. Damit meine ich nicht nur Reformen, die in die Zukunft weisen. Ich glaube, dass wir in einer Zeit, in der unsere Wahrnehmung dafür anfällig ist, aus Unsinn Sinn zu machen, Kultur wieder richtig trainieren müssen. Die Helden und Romanciers der Neuzeit wie Stefan Effenberg oder Oliver Kahn, die Superstars und Dschungel-Könige müssen sich vorhalten lassen, das "Gesetz des guten Tons" verletzt zu haben. Der letzte Halt ist bekanntlich stets die Haltung. Wer keine Haltung hat, flüchtet sich in Moden. Die wiederum erzeugen eine neue Art der Verunsicherung darüber, wie man leben soll, und locken die Menschen oft genug an die Regale mit Ratgeberliteratur oder in Designergeschäfte. Schöne Oberflächen - ob bei Menschen oder Gegenständen - werden gern auch mit schönen Seelen verwechselt. Dabei empfiehlt schon Kant: "Ich liebe dergleichen Dinge nicht, die bloß für das Angaffen gemacht sind." Und: "Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann."
Wenn wir also Kultur wieder trainieren müssen, wenn wir zum Beispiel, wie es die Fernsehmoderatorin Elke Heidenreich ausdrückt, die Leute erst wieder zum Lesen bringen müssen, dann ist Kulturpolitik nicht mehr nur Vermittlerin zwischen verschiedenen Ausformungen des Kunstbetriebes, sie muss auch einem System aus Moral und Weltklugheit zum Sieg verhelfen, wie es einst Knigge beschrieb. Ich möchte vor diesem Hintergrund mein Amtsverständnis so beschreiben: Ich verstehe mich als Vermittlerin von Kunst und Kultur. Dazu gehört das Moderieren ( auch zwischen Kunst und Verwaltung ) , das Repräsentieren - im Sinne von Interessen vertreten und der Kultur eine Stimme geben - und das "Missionieren", das politische Werben für Freiheitsräume, das Eintreten für eine Haltung des Respekts und der Neugier gegenüber den Künsten.
Kulturpolitik, die sich als Vermittlungsinstanz begreift, muss für ein entsprechendes Koordinatensystem Sorge tragen. Ein solches Rollenverständnis verlangt den Blick über den Tellerrand des Tagesgeschehens hinaus. Gerade Kulturpolitik darf sich, allen Aufgeregtheiten zum Trotz, nicht allein der Aktualität ergeben. Kulturpolitik ist wie Bildung und Forschung eine Investition in die Zukunft unseres Landes, und ich bin stolz darauf, dass es dem Bundeskanzler und mir gelungen ist, die Kultur aus dem "Koch-Steinbrück-Papier" herauszulösen und vor substantiellem Verlust zu bewahren.
Ich möchte nun auf einige der Vorhaben eingehen, die mich als Kulturstaatsministerin beschäftigen.
Ein Kernelement der Kulturpolitik auf Bundesebene ist die Schaffung möglichst günstiger Rahmenbedingungen für die Entstehung von Kunst und Kultur. Das klingt zunächst abstrakt - es geht um komplexe rechtliche und finanzielle Regelungen, die sich aber sehr konkret auf die Arbeitsbedingungen von Künstlerinnen und Künstlern und auf die Entwicklungschancen von Kultur auswirken.
Vor diesem Hintergrund haben wir in den rot-grünen Koalitionsvertrag mit der Prüfung der Kulturverträglichkeit von Gesetzen und Rechtsetzungsvorhaben ein Instrument aufgenommen, das sich bereits dreimal als sehr wertvoll erwiesen hat: bei der Steuerabzugsfähigkeit von gemeinnützigen Spenden ( die abgeschafft werden sollte ) , beim reduzierten Mehrwertsteuersatz für Kunstwerke ( der ebenfalls gefährdet war ) und bei den steuerlichen Anreizen für den Denkmalschutz. Dass ich mich gemeinsam mit vielen Vertretern der Kulturszene erfolgreich für den Erhalt dieser kulturfreundlichen Regelungen einsetzen konnte, hat wesentlich mit der Festlegung im Koalitionsvertrag zu tun. Übersteigerte Erwartungen muss ich dennoch dämpfen: Die Kulturverträglichkeitsprüfung ist kein Allheilmittel, sie wirkt nicht wie ein wundertätiges Wässerchen, das den Pflanzen der Kultur zu ungeahntem Wachstum verhilft.
Dennoch werden wir sie zum festen Bestandteil des politischen Alltags machen, denn es geht dabei nicht nur um Geld und juristische Details, sondern auch um eine grundsätzliche Haltung der Gesellschaft gegenüber Kunst und Kultur.
Eine wesentliche Plattform - auch unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung - haben wir mit der Kulturstiftung des Bundes geschaffen. Aus meiner Sicht hatte die Stiftung einen fulminanten Start. Diese Institution kann Debatten anstoßen und organisieren, und sie kann - manch skeptischen Einwürfen zum Trotz - die Vorteile föderaler Verfasstheit mit der Aufwertung zentraler kultureller Vorhaben durch den Bund kombinieren. Die Kulturstiftung des Bundes wird das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für die Belange von Kunst und Kultur fördern, die Kraftzentren kreativer und geistiger Entwicklung stärken und nicht zuletzt auf der europäischen Ebene sichtbar agieren.
Und es hat sich bereits gezeigt, dass die Kulturstiftung des Bundes eine wertvolle Ergänzung ( und nicht eine Einschränkung ) der Kulturförderungen der Länder bildet. Leider ist es nicht gelungen, aus der Kulturstiftung des Bundes und der der Länder eine gemeinsame nationale Stiftung zu gründen. Vor allem der bayerische Ministerpräsident hat im Sommer letzten Jahres das ehrgeizige Projekt, das von der Mehrheit der Länder getragen wurde, blockiert. Und nun sieht es so aus, als würde es auf Dauer von der politischen Tagesordnung gestrichen. Die Vorteile unseres föderalen Systems werden dabei auf den Kopf gestellt, wenn der Bund, der den weitaus größten finanziellen Anteil in die Stiftung eingebracht hätte, bei jedem Projekt, das er fördern will, damit rechnen muss, durch den Einspruch eines oder zweier Länder gestoppt zu werden. Politischer Willkür wäre dabei Tür und Tor geöffnet. Und das hat mit meinem Verständnis von Kulturpolitik wirklich nichts zu tun.
Eine weitere Institution, die prädestiniert ist, das Miteinander von Bund und Ländern in der Förderung von Kunst und Kultur zu verdeutlichen, ist die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Es ist ein gutes Zeichen, dass die Länder ihre Absicht zum Ausstieg aus der Stiftung revidiert haben und sich weiter an ihrer Finanzierung beteiligen wollen.
Eines der wichtigsten, wenn nicht das zentrale Projekt der Stiftung ist die Sanierung der Berliner Museumsinsel. Der Bund hat mit der vollständigen Übernahme des Bauhaushaltes der Stiftung in Höhe von rund 100 Millionen € jährlich die Finanzierung dieser Aufgabe von nationalem Rang übernommen. Dieses Museumsbauprojekt versinnbildlicht wie keine anderes in Deutschland die Kraft der Kultur und der Künste; wie ein Brennspiegel bündelt es Vergangenheit, gegenwärtige Aufgaben und künftige Chancen kultureller Entwicklung.
Eine zentrale Stelle in meinem ersten Amtsjahr nahm die Novellierung des Filmfördergesetzes ein, dass zum 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist.
Die Zusage von ARD und ZDF, ihre Leistungen für die Filmförderanstalt zu verdoppeln, haben es ermöglicht, den deutschen Film endlich auch finanziell auf ein solideres Fundament zu stellen. Der Millionenerfolg von "Good bye, Lenin", der Oscar für Caroline Link, der "Goldene Bär" für "Gegen die Wand" und die vielen Festivaleinladungen für deutsche Filmemacher belegen, dass der deutsche Film in guter, kreativer Verfassung ist, dass er sehr selbstbewusst, aber nicht übermütig auftreten kann. Das sage ich ganz lässig auch in Richtung Cannes, wo man sich noch immer nicht entschieden hat, ob man auch dieses Jahr ohne deutschen Film im Wettbewerb bestehen will. Wir können gewinnen, wenn wir uns auf unsere eigene Kraft besinnen und nicht das Bild bedienen, das sich andere von uns gern machen wollen. - Von dieser Kraft zu künden wird eine der Hauptaufgaben der neuen "Deutschen Welle" sein, der wir gerade in der vergangenen Woche ein neues Gesetz geben konnten, der auch diesem, oft als "Tanker" verspöttelten Medienunternehmen die Zukunft durch mehr Eigenverantwortlichkeit und finanzielle Sicherheit sichern wird.
Zu den vornehmsten Aufgaben der Bundeskulturpolitik zählt die Interessenvertretung innerhalb des zusammenwachsenden Europas. Durch das Amt der Staatsministerin für Kultur und Medien hat Deutschland nun endlich nicht nur ein kulturpolitisches Gesicht im Kreis der europäischen Kulturminister, sondern natürlich auch ein Ohr und eine kulturpolitische Stimme. Ich werde mich dafür einsetzen, dass das, was wir auf nationaler Ebene vereinbart haben, auch im europäischen Rahmen geschieht: eine sorgsame Prüfung der Kulturverträglichkeit von Brüsseler Rechtsetzungen in allen Politikbereichen. Es geht dabei zum Beispiel um das Urheberrecht, um das Folgerecht oder um Fragen der Besteuerung von Kulturgütern. Als deutsche Kulturministerin trage ich aber auch im Hinblick auf die Osterweiterung - ich sage gern: Vervollständigung der EU - besondere Verantwortung. Und so war es nicht zuletzt die Initiative meines Hauses, die bis 2019 bereits festgelegte Vergabe der "Kulturhauptstadt Europas" neu zu überdenken, da die neuen Mitgliedstaaten in diesem Verfahren gar nicht erst berücksichtigt worden waren. Nun wird sich jede Kulturhauptstadt der "alten" EU mit einer Partnerstadt in Osteuropa präsentieren und neuerlich unter Beweis stellen, dass es die Kultur ist, die eine der entscheidenden Brücken zwischen den Teilen Europas schlägt.
Die Kulturbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU sind bemerkenswert selbstverständlich geworden. Kenntnis und Wertschätzung der Alltagskultur, des Films, der Literatur, der Musik ( etc. ) des jeweils anderen Landes gehören zur kaum noch in Frage gestellten Lebensqualität. Dennoch bedarf das Interesse aneinander ebenso wie das Verständnis füreinander einer konstanten Pflege und Sensibilität. José Ortega y Gasset formulierte es einmal so: "Die europäische Kultur ist eine immer fortdauernde Schöpfung. Sie ist keine Herberge, sondern ein Weg, der immer zum Gehen nötigt."
Und die Perspektive hier ist eine auf Europa insgesamt: Ich begreife die europäische Kulturlandschaft als einen Zusammenschluss von Regionen, in denen die Akzeptanz des Anderen eine Voraussetzung dafür ist, sich der eigenen kulturellen Wurzeln zu vergewissern. Ich sage dies auch mit Blick auf die künftigen osteuropäischen Mitglieder der EU. Die Grundlage Europas kann nur eine geistig-kulturelle, nicht eine ökonomische sein. Und diese Grundlage wird letztlich nur tragen, wenn die Kulturbeziehungen zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn dieselbe Selbstverständlichkeit erlangen wie die zu unseren westlichen Partnern. Und so freue ich mich besonders, dass es meinem polnischen Amtskollegen gelungen ist, gemeinsam mit der Bundeskulturstiftung das nächste Jahr zum deutsch-polnischen Kulturjahr zu erklären, dem vielleicht schon bald ein deutsch-tschechisches Kulturjahr folgen wird, nachdem wir im letzten und in diesem Jahr die "Kulturen im Dialog" erfolgreich mit den Völkern Russlands begehen konnten und können.
Warum plädiere ich so stark für die Stärkung des Kulturaustauschs mit unseren östlichen Nachbarn? Ganz klar: Weil es auf beiden Seiten noch zu viel Skepsis gibt, zu viele Klischees, die wechselseitig bedient werden.
Aber es gibt auch Hoffnung. In Görlitz zum Beispiel. Nach Jahrzehnten der Teilung finden die beiden Stadthälften wieder zusammen. Man lebt nicht mehr mit dem Rücken zum Grenzfluss Neisse, sondern mit dem Gesicht zu ihm. Es entsteht ein neuer, ein gemeinsamer Stadtraum in einer jahrhundertealten, europäischen Kulturlandschaft. Mich interessiert, wie unseren künftigen Partner in der EU, die ja alte Bekannte sind, auf uns blicken, was sie von uns erwarten. Oder wie sagte mir vor wenigen Tagen in Breslau der Marschall der Region Niederschlesiens: "Wir freuen uns auf Europa, weil wir Europa nie verlassen haben."
Lassen Sie mich zusammenfassen: die Kultur besitzt für unser Leben auf allen Ebenen - auch und gerade auf der der Bundespolitik - fundamentale Bedeutung. In Zeiten, in denen immer wieder von Krise, gar von "Depression" die Rede ist, brauchen wir Orientierung im Grundsätzlichen. Die Energien dafür liefert uns nur das Kraftfeld der Kultur. Ohne sie ist das geistige, seelische und soziale Überleben unserer Gesellschaft immanent gefährdet. Kultur hilft dem Einzelnen, sich seiner selbst bewusst zu werden und sich zu positionieren. Und sie hilft der Gesellschaft, die Gegenwart eben auch als Chance zu begreifen. Kulturpolitik muss helfen, dafür die Weichen zu stellen.
Vielen Dank!