Redner(in): Christina Weiss
Datum: 31.03.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss eröffnet am 31. März 2004 die neue ständige Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden und würdigt das moderne Wissenschaftsmuseum als eines der bedeutendsten Ausstellungshäuser Deutschlands.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/13/630713/multi.htm


Anreden!

Der Homo sapiens, der heutige Mensch, ist eine relativ junge Schöpfung: Seit rund 130.000 Jahren erst existiert er auf diesem Planeten, und das ist nun wahrlich kein Vergleich zu den Jahrmillionen, die Farne, Schildkröten oder Frösche in den Zeittabellen der Evolution beanspruchen. Was uns aber wohltuend von den drei eben genannten Gattungen unterscheidet, ist neben dem aufrechten Gang vor allem unser Gehirn. Und in letzter Konsequenz die einzigartige Fähigkeit, über uns selbst nachzudenken. Diese Leistung, von sich selbst absehen, sich selbst zum Objekt des Denkens machen zu können, ist vielleicht die höchste Stufe intellektueller Entwicklung. Erst damit wird die Reflexion über den Sinn der eigenen Existenz möglich. Und es ist kein Zufall, dass mit Beginn der Neuzeit sowohl die Wissenschaften wie auch die Künste aus dem Schatten von Religion und Aberglauben treten, um sich der Frage "Was ist der Mensch?" zu stellen - im Licht geistiger Freiheit und Vernunft. Sich selbst als Objekt wahrnehmen zu können, das ist der Ausgangspunkt moderner Kunst und moderner Wissenschaft gleichermaßen. Was ist der Mensch? ", diese Frage könnte auch als Leitmotiv über dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden stehen. Denn seit seiner Gründung vor fast 100 Jahren ist der Versuch, Antworten auf diese Frage nicht nur zu finden, sondern auch einem breiten Publikum zu präsentieren, die zentrale Aufgabe des Hauses. Das Staunen als Ausgangspunkt des Fragens und letztlich des Erkennens zu kultivieren, war hier stets Verpflichtung. Der gläserne Mensch, die bestaunte Attraktion aus den 30er Jahren, ist deshalb zu Recht auch eine Metapher für das große Ausstellungsprojekt dieses Museums insgesamt geworden.

Das Deutsche Hygiene-Museum hat nicht nur fast hundert Jahre und zwei Weltkriege überstanden. Es hat zugleich fünf politische Systeme erlebt: vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die SED-Diktatur bis hin zur heutigen Demokratie im wiedervereinigten Deutschland. Die Frage, wie sich die unterschiedlichen Menschenbilder dieser Systeme im Ausstellungsalltag spiegelten, gäbe Stoff für manche Doktorarbeit. Aus einem Institut zur Gesundheitsaufklärung in der Weimarer Republik machten die Nationalsozialisten eine Propagandaanstalt zur Illustrierung ihres Rassenwahns. Heute wirkt das Haus als modernes Wissenschaftsmuseum auf der Höhe der Zeit und ganz im Geiste eines humanistisch geprägten, aufgeklärten Menschenbildes.

Der historische Rückblick macht uns aber klar, dass unsere Vorstellungen von der conditio humana eben keine unvergänglichen Wahrheiten sind. Sie sind kulturell bedingt wie es auch unsere Sinneswahrnehmungen und Emotionen, unsere Gewohnheiten und Redeweisen sind. Vielleicht hat gerade die wechselhafte und teils widersprüchliche Historie des Hauses die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Denkens besonders fest in den Grundsätzen dieses Museums und seiner Mitarbeiter verankert. Wie anders wären die legendären Sonderausstellungen zu erklären, die in den letzten fünfzehn Jahren den Ruf des Hauses eindrucksvoll prägten? Allein die Titel machen neugierig. Ich nenne nur: "Das menschliche Herz - der herzliche Mensch" ( 1995 ) ,"Das große Sterben. Seuchen machen Geschichte" ( 1995/96 ) ,"Gen-Welten. Werkstatt Mensch?" ( 1998 ) oder "Sex - Vom Wissen und Wünschen" ( 2001/2002 ) .

In diesen Ausstellungstiteln scheint die besondere Stärke des Hygiene-Museums auf: Elegant und spielerisch überbrücken sie die Trennung zwischen Wissenschaft, Kultur und Geschichte. Der Mensch wird unter psychologischen, sozialen, kulturellen und politischen Aspekten dargestellt, und dabei reflektieren die Ausstellungsmacher stets die Geschichtlichkeit des eigenen Blickwinkels.

Heute erfindet sich das Deutsche Hygiene-Museum Dresden neu: durch eine umfassende bauliche Sanierung und die Neuformierung seiner ständigen Ausstellung. Im Rahmen des Programms "Kultur in den neuen Ländern" hat sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren mit über 6,4 Mio. Euro an der Wiederherstellung des Museumsgebäudes sowie an der Planung und Realisierung der neuen Dauerausstellung beteiligt. Und zwar deshalb, weil es sich hier um eine der weltweit ungewöhnlichsten Kultureinrichtungen handelt.

Auch im so genannten "Blaubuch" der Kulturellen Leuchttürme in den neuen Ländern, ist das Hygiene-Museum aufgelistet. Unter den zwanzig Kultureinrichtungen von nationaler Bedeutung finden sich dort z. B. die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, die Stiftung Weimarer Klassik und hier in Dresden die Staatlichen Kunstsammlungen sowie die Naturhistorischen Sammlungen. Das Hygiene-Museum ist also in bester Gesellschaft.

Dass dieses Haus seit seiner Gründung eine unbestritten nationale Dimension hat, verdeutlicht die Eröffnung des Museumsgebäudes am 16. Mai 1930. Damals sprachen nicht nur die Vertreter von Stadt und Land, sondern von Seiten des Deutschen Reiches auch Staatssekretär Weismann als Vertreter des Reichsrates, Reichstagspräsident Paul Löbe sowie Reichsinnenminister Wirth im Namen der Reichsregierung und des verhinderten Reichspräsidenten Hindenburg. Heute, 74 Jahre später, sind wieder Bund, Land und Stadt vereint, um die Neueröffnung zu feiern und denen zu danken, die dieses Museum zu einem der bedeutendsten Ausstellungshäuser dieser Republik gemacht haben.

Ich beglückwünsche Sie, Herr Ministerpräsident und Herr Bürgermeister, zu diesem erfolgreichen Haus. Herrn Dr. Boetius von der Deutschen Krankenversicherung, danke ich für fortwährendes Förderengagement, das als ein Modelfall von Public-Private-Partnership in Deutschland wirklich seinesgleichen sucht! Vor allem aber danke ich Ihnen, lieber Herr Vogel, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, weil Sie diese traditionsreiche Einrichtung so klug und fantasievoll mit Leben erfüllen.

Im Denken der Renaissance war der Mensch der Ort, wo Wahrheit entsteht. Francesco Petrarca hat dafür ein paar Sätze geprägt, die ich abschließend dem Deutschen Hygiene Museum mit auf den Weg geben möchte, verbunden mit allen guten Wünschen für eine glückliche Zukunft.

Petrarca schreibt: "Da wissen sie nun viele Dinge über Tiere, Vögel und Fische. Wie viel Haare der Löwe im Scheitel trägt und wie viele Federn der Falke im Schwanz, und mit wie vielen Windungen die Meerschlange den Schiffbrüchigen umschlingt... Und wenn es doch alles wahr wäre, so würde es doch nichts zum seligen Leben vermögen. Denn was nützt es, die Natur der Tiere, Vögel und Fische zu kennen und dafür die Natur des Menschen, seinen Zweck, seine Herkunft und sein Endziel nicht zu kennen oder zu missachten."

Vielen Dank!