Redner(in): Christina Weiss
Datum: 02.04.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss eröffnet in Moskau die Ausstellung "Berlin-Moskau / Moskau-Berlin 1950-2000" im Rahmen der deutsch-russischen Kulturbegegnungen 2003/2004.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/51/631751/multi.htm


Anreden!

Ein Mann schnürt frühmorgens den Rucksack, schließt die Tür hinter sich und weiß, dass er schier Unmögliches zu tun beabsichtigt. Dieser Mann begibt sich von Berlin aus auf den Weg nach Moskau.

Nicht mit dem Flugzeug, nicht mit der Bahn oder mit dem Auto. Der Mann geht zu Fuß. Tausende von Kilometern, bei Wind und Wetter, wie man so schön sagt.

Auf seinem Weg durchmisst er Straßen, Wege und Felde, blühende und weniger blühende Landschaften. Er durchmisst aber auch ein enormes Potenzial an Erfahrungen - mit Gegenden, mit Menschen, mit Kulturen. Und Erinnerungen.

Man könnte sagen, dieser Mann sei ein Verrückter, ein Abenteurer. Nur auf der Suche nach einer Sensation, nach den Rändern seiner eigenen Existenzbedingung. Ich bin dieser Meinung aber keineswegs.

Das, was Wolfgang Büscher - der Wanderer zwischen Berlin und Moskau - getan hat, fordert mir den allergrößten Respekt ab! Einmal, weil es in einer Zeit der Schnelllebigkeit, der fast unaufhaltsamen zivilisatorischen Progression, ein Gegenmodell kreiert: den Moment des Innehaltens, der eingehenden Betrachtung von Menschen und deren kultureller Identität.

Und zum anderen, weil dieser Reisende meines Erachtens weit mehr ist als nur ein Reisender mit einem sehr persönlichen Ziel. Er ist mit dieser Reise in die Rolle eines Kulturvermittlers, eines Botschafters der Humanität geschlüpft, hat sie sich selbst und seinem Tun eingeschrieben. Er hat, erlauben Sie mir dies emphatische Wort, mit seiner Reise von Berlin nach Moskau einen Brückenkopf geschlagen zwischen Ost und West. Zwischen zwei Kulturen, die einander seit jeher so nah und zugleich doch immer auch so fremd gewesen sind. Berlin - Moskau. Eine Reise zu Fuß " - so heißt das Buch, das Wolfgang Büscher nach seiner Heimkehr geschrieben hat. Vielen Lesern in Deutschland hat es die Augen geöffnet, und ich würde mich persönlich freuen, wenn es irgendwann einmal auch in Russland einen Verleger und ein neugieriges Publikum finden würde. Verdient hat es dieser Reisebericht allemal, erzählt er Deutschen und Russen doch nicht nur von der Fremde, sondern auch von der eigenen Befindlichkeit.

Warum berichte ich von einem Reisebuch, da ich heute doch selbst eine Reisende bin? Da ich mich selbst auf den Weg gemacht habe von Berlin nach Moskau, um mit Ihnen die Kunst zu feiern, die in unseren Städten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entstanden ist? - Nun, ich sehe in der Ausstellung, die wir heute eröffnen, und in dem Buch, dass sich mit der inneren Beziehung zwischen unseren beiden Ländern beschäftigt, ein wichtiges Zeichen einer immer besser werdenden, einer durch Kultur immer besser werdenden Verständigung zwischen unseren Ländern und Völkern. Mag es Zufall gewesen sein, oder nicht: Das Buch "Berlin Moskau" ist just zu dem Zeitpunkt erschienen, als die "Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003 / 2004" ihre ersten Höhepunkte feierten:

Ich erinnere etwa an die Übergabe des legendären, nunmehr restaurierten Bernsteinzimmers im Katharinenpalast zu Zarskoje Zelo. Ich erinnere an die Veranstaltungen im Rahmen der 300-Jahr-Feiern der Stadt Sankt Petersburg. Und natürlich erinnere ich auch an die Eröffnung dieser Ausstellung in Berlin im Herbst des letzten Jahres.

Mehr als 500 Werke von rund 200 Künstlern hatte der Berliner Martin-Gropius-Bau versammelt, und rund 70.000 Besucherinnen und Besucher, darunter viele internationale Gäste, haben den ersten Teil der Schau gesehen. Und ich bin sicher, meine Damen und Herren, dass die nun überarbeitete Präsentation auch in Moskau viele neugierige Besucher anlocken wird.

Dabei handelt es sich bei der Präsentation im Historischen Museum um mehr als eine Fortsetzung oder gar eine Übernahme aus Berlin nur. Wenn neben der bildenden Kunst nun verstärkt auch Dokumentationen, Architektur, Film - und Videokunst einbezogen werden, so kann Kunst stärker aus der Perspektive der Massenmedien präsentiert werden - eine Interpretation, die sowohl der offiziellen Staatskunst sowjetischer Prägung als auch subversiver künstlerischer Ausdrucksformen gerecht werden kann. - Für ihre Arbeit gilt den Kuratoren der Ausstellung, Pawel Choroschilow, Ekatarina Degot und Viktor Misiano auf der russischen Seite und Jürgen Harten, Angela Schneider und Christoph Tannert auf der deutschen mein besonderer Dank.

Mit der heutigen Ausstellungseröffnung beginnt das Jahr der deutschen Kultur in Russland, das wir im Rahmen unserer auf zwei Jahre angelegten Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen feiern.

Nach einem erfolgreichen Jahr mit russischer Kultur in Deutschland werden sich nun deutsche Künstlerinnen und Künstler auf den Weg nach Russland machen, wobei unsere Kulturbegegnungen an die gute Tradition von gegenseitiger Neugier und Faszination anknüpfen wollen. Es geht um eine Geschichte der Berührungen, die jenseits von historischen Wunden und wirtschaftlichen Zwängen weitergetragen werden soll. Von Generation zu Generation. Das Fundament der Kulturbegegnungen bildet einerseits die große Vergangenheit einer geistigen Freundschaft, aber auch die Begeisterung für die aktuellen Tendenzen in den Künsten - für eine kulturvolle Zukunft.

Vor einem Jahr haben der russische Präsident Wladimir Putin und der deutsche Bundespräsident Johannes Rau die Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen mit einem Festakt im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt eröffnet. Dies war der Auftakt zu einer neuen Form der Kooperation zwischen beiden Ländern, die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Auswärtigen Amt und dem Kulturministerium der Russischen Föderation geplant und finanziert wird. In der Bundesrepublik Deutschland bot sich bei über fünfhundert Veranstaltungen die Gelegenheit, den Facettenreichtum der russischen Kultur kennen zu lernen, Traditionellem wieder zu begegnen, aber auch auf Neues, Ungeahntes zu stoßen.

Deutschland nun wird sich in diesem Jahr in Russland - und das nicht nur in den Metropolen - mit junger Kunst präsentieren, zeitgenössische musikalische Positionen vorstellen, aber auch Freunde der klassischen Oper zu ihrem Recht kommen lassen. Dabei werden institutionelle und städtepartnerschaftliche Verbindungen von Nutzen sein, die sich seit Jahren bewähren. Und ich bin sicher, das jede Veranstaltung, jedes Segment und jedes Genre sein Publikum finden wird, denn der russische Kunstverstand, die Liebe der Russen zur Kunst ist sprichwörtlich.

Das Politische hat das Kulturelle oft überwölbt, es gewissermaßen verschattet. Unsere gemeinsame Geschichte trägt tiefe Wunden, die nur langsam vernarben, für deren Heilung aber die Kultur, der kulturelle Dialog viele gute Medikamente bietet. Die kulturellen Bande zwischen Russland und Deutschland, zwischen Russen und Deutschen, waren zu allen Zeiten stark genug, diese Belastungen zu überstehen. Und das ist auch heute so, wenn die Kulturbeziehungen zwischen unseren Ländern in den Medien all zu oft auf die Frage der Restitution kriegsbedingt verlagerter Kunstgüter beschränkt wird. Diese Frage ist zwar eine wichtige Frage. Doch sie ist nicht die einzige, die uns bewegt - vor allem: von ihrer Lösung hängt nicht die Güte unserer Kooperation ab. Es ist vielmehr die kulturelle Energie der Gegenwart, die den Motor unserer Beziehungen antreibt.

Und mit Fug und Recht dürfen wir sagen: Der Kulturaustausch zwischen Berlin und Moskau, doch nicht nur zwischen diesen beiden Hauptstädten, ist von einer Vitalität, die ihresgleichen sucht. Sie macht schon jetzt ihrem Titel "Kulturen im Dialog" alle Ehre.

Der Blick auf fünfzig Jahre russische und deutsche Kunst, mit dem wir heute beginnen, ist selbstredend ein Blick zurück. Aber er ist beileibe kein nostalgischer oder ein rein ästhetischer Blick. Es ist ein prüfender, wägender, gleichsam komparatistischer Blick. Einer, der sich nicht scheut, die extremen Gegensätze der offiziellen und nicht-offiziellen Kunst zu vergegenwärtigen - mithin ein riskanter Blick.

Und so ist es der Mut zur Verwunderung, der die Werkschau, die wir heute bewundern dürfen, im Speziellen prägt. Im weiter gefassten Sinne tun die Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen nichts anderes: Wer sich nicht mehr wundern kann, dem wird das Unwahrscheinliche wohl nicht mehr begegnen.

Und wer nicht stets die Hoffnung auf die Weiterführung des kulturellen Dialogs hegt, der wird diesen Dialog nie verständnisvoll führen können. Der große Alexander Puschkin hat dieses Phänomen in treffliche Verse gekleidet: Wie glücklich ist, wer ohne Beben / Die Leidenschaft sich eingesteht; / Wem im geheimnisvollen Leben / Die stille Hoffnung lieblich weht."In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine schöne, anregende und aufregende Ausstellung und ein erfolgreiches Jahr der" Kulturen im Dialog ".

Vielen Dank!