Redner(in): Christina Weiss
Datum: 03.04.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss stellt bei ihrem Besuch in Moskau am 3. April 2004 ein Gedenkbuch vor, das über die Schicksale ehemals sowjetischer Kriegsgefangener in Deutschland berichtet.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/64/631764/multi.htm


ich freue mich außerordentlich, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Gemeinsam wollen wir heute einem Buch den Weg ins öffentliche Bewusstsein bahnen, das ein schwieriges Buch ist. Eine schmerzhafte Dokumentation. Ein Kompendium des Todes.

Dieses Buch trägt auch einen schwierigen Titel "Für die Lebenden. Der Toten gedenken", und es bereitet ein schwieriges Thema auf. In diesem Buch ist das Schicksal sowjetischer Soldaten verzeichnet, die während des Zweiten Weltkrieges von deutschen Truppen gefangen genommen wurden, auf dem Weg in die Gefangenenlager starben oder dort ihr Leben verloren.

Wir wissen alle, dass der Krieg keine Würde kennt. Und so blieb auch das Schicksal vieler Opfer bislang unbekannt. Zwar verzeichneten die deutschen Kriegsverwalter Namen, Daten und Orte des Todes. Doch verbargen die Verantwortlichen ihre Taten hinter Zahlen und Kürzeln und interessierten sich nicht dafür, dass sie über das Schicksale von Menschen richteten. Doch wie überall auf der Welt waren die Soldaten auch hier immer auch Ehemänner, Väter und Söhne, die Familien hatten, Eltern, Frauen und Kinder. Deren Hoffen und Bangen jedoch, deren Trauer und Sehnsucht hatte keinen Platz auf Kladden und in den Akten, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges für immer schlossen, scheinbar für immer. Die Akten nahmen ihren Weg in das Archiv der Wehrmachtsauskunftsstelle, das Archiv selbst wurde nach Kriegsende in die Sowjetunion verbracht. Die Angehörigen der Opfer erfuhren nie, wie, wo und wann ihre Familienangehörigen, ihre Soldaten starben. Ob es nicht doch ein Grab gibt, eine Gedenkstätte oder ein Ehrenmal. Ihre Trauer musste ohne letzte Ruhestätte auskommen. Auch das ein unwürdiger Zustand, den wir mit diesem Buch und den folgenden Publikationen beenden wollen.

Ich möchte es vermeiden, hier ausführlich auf jene historischen und forschungsgeschichtlichen Einzelheiten einzugehen, die zur Herausgabe des Buches führten. Dies werden später jene Wissenschaftler gern tun, die am Aktenbestand der ehemaligen Wehrmachtsauskunftsstelle arbeiten. Ich möchte jedoch ausdrücklich betonen, dass es für mich bei der Aufarbeitung der Soldatenschicksale nicht allein um Geschichte und Gerechtigkeit, Würde und Erinnerung geht. Für mich ist die Arbeit wider des Vergessens auch ein ganz wichtiger Teil der Aussöhnung zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion - mit Russland, Weißrussland und der Ukraine - und einem Deutschland, das nach Diktatur und Krieg seinen Weg in die Demokratie, in die Einheit und in die Freiheit gefunden hat. Einem Deutschland, dass sich seiner Geschichte stellt, auch wenn diese eine auf Dauer schmerzende Wunde schlug.

Aus diesem Grund war es für die Bundesregierung weit mehr als nur eine moralische Verpflichtung, sich an der Aufarbeitung der Akten der ehemaligen Wehrmachtsauskunftsstelle zu beteiligen, die von den Historikern Rolf Keller und Dr. Reinhard Otto 1999 zuerst im Archiv des Verteidigungsministeriums der russischen Föderation in Podolsk bei Moskau aufgefunden worden waren. Für uns, und nicht allein für meine Behörde, war es eine Selbstverständlichkeit, Versöhnungsarbeit auch finanziell zu stützen, insgesamt stellt die Bundesregierung rd. 230.000 Euro pro Jahr zur Verfügung. Allein die Menge der erhaltenen Akten - anfänglich auf 500.000, inzwischen auf fast 1 Million Stück geschätzt - stellte die Frage nach dem Procedere. Acht bis zehn Jahre nämlich braucht man, um eine solche Datenflut zu beherrschen. Und so standen am Beginn der nun erfolgreich ins Etappenziel gelangten Arbeit zwei Fragen:

Erstens: Es musste eine Institution gefunden werden, die ein solches Projekt organisatorisch und wissenschaftlich bewältigen kann. Und ich bin sehr froh, dass wir mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten in Dresden einen verlässlichen und kompetenten Partner gewinnen konnten, der vor allem für die wissenschaftliche Qualität der Arbeit bürgt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich ganz ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung zu bedanken. Mein Dank geht zugleich jedoch auch an die Länder Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen sowie an den Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge e. V. , die sich ebenfalls sehr stark mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten für dieses Projekt eingesetzt haben und sicher auch zukünftig einsetzen werden.

Das zweite Problem, das am Beginn der Arbeit an den Akten der ehemaligen Wehrmachtsauskunftsstelle stand, hieß Vertrauen. Vertrauen zwischen deutschen und russischen Archiven, zwischen deutschen und russischen Wissenschaftlern. Und ich bin auch hier sehr stolz darauf berichten zu können, dass die Kooperation zwischen der deutschen und der russischen Seite von Jahr zu Jahr enger und vertrauensvoller geworden ist. Auch hier haben die Wissenschaftler großes Engagement, eben auch persönliches Engagement bewiesen, das allein zu unserer heutigen Publikation führte.

Ich erwähnte bereits, dass ich es gern den hier anwesenden Wissenschaftlern überlassen möchte, näher auf die Forschungsergebnisse einzugehen. Bitte erlauben Sie mir jedoch, auf zwei bereits publizierte Teilergebnisse der bi- und nunmehr auch multilateralen Forschungsarbeit hinzuweisen, die sehr eindrücklich zeigen, wie die Forschung zur Schicksalsklärung beitragen kann:

Bereits bei den deutsch-russischen Regierungskonsultationen im vorletzten Jahr in Weimar hat die deutsche Seite dem russischen Präsidenten Putin ein Gedenkbuch übergeben, das die Namen und teilweise auch Bilder von etwa 700 sowjetischen Offizieren enthält, die im Lager "Am Felschen" bei Hammelburg in Bayern ums Leben gekommen sind. Diese Übersicht bewies einerseits, dass die Aufarbeitung der alten Aktenbestände möglich ist. Die emotionale Kraft, die von einer solchen Übersicht ausgeht, machte andererseits beiden Seiten sehr eindrücklich klar, dass der begonnene Weg der richtige ist und bis zum Schluss verfolgt werden muss. Und so war es nur folgerichtig, dass im September des letzten Jahres am Rande der Tagung der deutsch-russischen Historikerkommission in Moskau dem Russischen Roten Kreuz Unterlagen zu 3.400 Bürgern der UdSSR übergeben werden konnten, die als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter im heutigen Freistaat Sachsen starben und dort auch begraben sind. Anhand dieser Unterlagen ist der Friedhof und die Grablage eines jeden Opfers genau zu bestimmen. Und die große Medienresonanz, die diese Zusammenstellung hervorrief belegte nochmals, wie wichtig - auch aus politischer Sicht - die Schicksalsklärung ist.

Ich bin daher sehr froh, dass das Projekt inzwischen auch in den Themenkatalog der deutsch-russischen Historikerkommission aufgenommen wurde und von dort zukünftig fördernd begleitet werden kann.

Eine Diktatur und ein Krieg kann Völker zu Feinden machen. Auf Dauer wird es dem Hass, der Dummheit und der Barbarei jedoch nicht gelingen, das Miteinander von Kulturvölkern in Freiheit und Demokratie zu vergiften und die Menschen voneinander trennen. Ich bin daher den Verantwortlichen in Russland, in Weißrussland und der Ukraine dankbar, dass sie mit der Öffnung ihrer Archive und der Zustimmung zur Zusammenarbeit mit den deutschen Historikern die Voraussetzungen geschaffen haben, dass das Schicksal sehr vieler Soldaten auch nach dieser langen Zeitspanne noch geklärt wird. Auch dieser Opfergruppe kann und muss ihre Individualität und damit auch ein Teil ihrer Würde zurückzugeben werden. Ebenso ist es mir ein besonderes Anliegen, dass möglichst viele Hinterbliebene, dass Frauen, Kinder und Enkel, nach Jahrzehnten der Ungewissheit erfahren, wo ihre Familienmitglieder bestattet sind, wo sie ihnen die letzte Ehre erweisen können.

Aus diesem Grunde wäre es sehr wichtig, wenn auch jene historisch wertvollen Archivbestände der Forschung zur Verfügung gestellt werden, die heute entweder noch gesperrt sind oder durch eine komplizierte Auslagerungsgeschichte im Vergessenen schlummern. Ich appelliere daher an alle Beteiligten, auf dem Boden des Erreichten behutsam und aufrichtig fortzuschreiten und aus den Erfahrungen der letzten Jahre eine gute Kooperation in der Zukunft zu machen. Deutschland begreift das düsterste Kapitel seiner Geschichte als Verpflichtung, die Beziehungen mit seinen Nachbarn auf der Grundlage gemeinsamer Werte zu vertiefen und zusammen an einem Europa zu arbeiten, in dem der Frieden auf Dauer gesichert ist. Politische Grenzen müssen keine Grenzen für die Menschen sein, friedliche Begegnungen und der Austausch der Kulturen machen uns alle reicher.

Ich danke der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, den Archiven, den anderen Institutionen in den beteiligten Staaten und den Forschern, die an diesem Projekt mitwirken und auch in Zukunft mitwirken werden. Und ich verbinde diesen Dank gerade hier in Moskau mit der Hoffnung, dass es schon bald die Möglichkeit gäbe, noch mehr als bisher auch die Schicksale der deutschen Kriegsgefangenen und Internierten in Russland zu klären.

Vielen Dank!