Redner(in): Christina Weiss
Datum: 14.04.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss hat das neue Besucherinformationszentrums in der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen eröffnet.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/04/636804/multi.htm


am 19. April 1944 - fast auf den Tag genau vor 60 Jahren also - , waren zwei Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen damit beschäftigt, im Gebäude der Lager-Kommandantur eine neue Zwischenwand zu errichten. Unter den Augen ihrer Peiniger fügten sie in diesem Haus, nur wenige Meter von der Stelle, an dem ich jetzt stehe, aber nicht nur Steine und Mörtel zusammen. Sie wagten auch die Subversion, die sie leicht das Leben hätte kosten können: In einem Hohlraum der Wand versteckten sie eine Flasche, in der Flasche einen Kassiber und auf dem Kassiber eine jener bedrückenden Nachrichten, aus längst vergangener, all zu oft auch gut verdrängter Zeit. Vor genau einem Jahr kam die Flaschenpost zum Vorschein, als bei der Errichtung des neuen Besucherinformationszentrums die alte Zwischenwand weichen musste, und hatte nach 59 Jahren ihren Adressaten erreicht: die Freiheit.

Aber wie lautete die Nachricht? Sie war so schlicht wie symbolreich: Anton Engermann aus Frechen bei Köln, der 1933 als Kommunist verhaftet und 1937 in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingewiesen worden, und der junge Pole Tadeuzs Witkowski, den man 1940 nach Sachsenhausen verschleppte, hatten zuerst ihre Namen, ihre Häftlingsnummern und die Daten ihrer Einlieferung auf das kleine Stück Papier notiert. Sie personalisierten damit das mit Bedacht namenlose Verbrechen der Nazis und nahmen ganz unbewusst einen Teil unserer modernen Gedenkstättenarbeit vorweg, die sich ja längst nicht mehr auf die großen Unterdrückungs- und Vernichtungsmechanismen beschränkt. Zugleich mahnt uns die Botschaft der Häftlinge, nicht bei der Rekonstruktion des Leidens zu verweilen, denn es war je gerade das Leben außerhalb des Lagers, das ihnen geraubt wurde, das Leben ohne Häftlingsnummer und Appell. Und so notierte Engermann in kurzen Sätzen, was wohl Witkowski bewegte: "Nach der Heimat möchte ich wieder. Wann sehe ich meine Lieben in Frechen-Köln mal wieder. Mein Geist ist trotzdem ungebrochen. Bald muss es besser werden." - Der Zufall wollte es, dass beide Häftlinge die Befreiung erlebten. Engermann kehrte zu seiner Familie zurück; Witkowski emigrierte nach Übersee, wo sich seine Spur verlor.

Warum, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist mir die Geschichte einer KZ-Flaschenpost so wichtig? Nun, einerseits freue ich mich darüber, dass es in diesem neuen Besucherinformationszentrum - am authentischen Ort - eine Ausstellungsvitrine gibt, die die Flaschenpost und die Lebensgeschichten ihrer Urheber dokumentiert. Denn die Flaschenpost aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen ist selbstredend ein Glücksfall für die Museumsmacher, die immer auf der Suche nach bewegenden Geschichten und Exponaten sind. Andererseits enthält die Flaschenpost eine implizite Botschaft, die mit diesem neuen Gebäude und dessen Funktionen eng verknüpft ist: Sie gemahnt uns, die Erinnerung am Ort des Verbrechens zu bewahren und jene Relikte zu achten, die uns - vor allem aber den nachwachsenden Generationen - Zeugnis von der Geschichte ablegen müssen, wenn man keine Zeitzeugen mehr finden kann, die uns Rede und Antworte stehen.

Ohne den authentischen Ort, meine Damen und Herren, kann unser Gedenken an den Nazi-Terror keine sichere Zukunft haben. Die Orte von Leid, Unterdrückung und Tod sind längst zu wichtigen historischen Quellen aufgestiegen, zu Beweismitteln auch, ohne die das Gedenken gegen Ignoranz und Lüge nicht bestehen kann. Unmittelbar nach ihrem Amtsantritt hat die Bundesregierung deshalb die Forderung der Enqûete- Kommission des Deutschen Bundestages nach einem langfristigen Engagement für die Gedenkstätten von herausgehobener Bedeutung aufgegriffen und gerade in den ostdeutschen KZ-Gedenkstätten einen umfassenden Prozess der Sanierung und Neugestaltung eingeleitet. Das Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung sieht zudem vor, die seit 1993 angelaufene Förderung westdeutscher Gedenkstätten auszubauen und den Paradigmenwechsel der Erinnerungsarbeit im gesamten Bundesgebiet konsequent zu unterstützen. Gedenkstätten werden weiterentwickelt zu modernen zeithistorischen Museen, die die Erinnerung an die Staatsverbrechen des vergangenen Jahrhunderts wachhalten werden. - Vorbildlich in diesem Gesamtprozess waren und sind die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen, für die der Bund und das Land Brandenburg seit Bestehen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten rund 16 Millionen Euro bereitgestellt haben. Dass auch die 2001 auf Initiative des Bundeskanzlers bereitgestellten Sondermittel in Höhe von 9,7 Millionen Euro für ein neues Besucherinformationszentrum und die noch folgende Neugestaltung des Eingangsbereiches, des zentralen Gedenkorts "Station Z" sowie des Bodenrelief der Barackenstandorte richtig und zukunftsweisend angelegt sind, können wir heute, am Ende einer ersten, wichtigen Etappe, gemeinsam begutachten.

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch einmal auf die Flaschenpost und ihre Botschaft zurückkommen."Bald muss es besser werden", schrieb Anton Engermann im April 1944 und brachte damit nicht nur seine Hoffnung auf das baldige Ende des NS-Regimes und des SS-Terrors in den Konzentrationslagern zum Ausdruck. Der Satz beinhaltet auch die Hoffnung auf eine bessere, gerechtere und humane Zukunft, die Hoffnung darauf, dass die Menschheit aus der Erfahrung der nationalsozialistischen Verbrechen dauerhafte Lehren zieht - eine Hoffnung übrigens, die viele Überlebende der Konzentrationslager als ihr Vermächtnis an die Nachwelt formuliert haben.

Ich verstehe diese Hoffnung als Auftrag an die Nachgeborenen, ganz besonders an die Gedenkstätten. Ich bin davon überzeugt, dass das Wissen um die historischen Ereignisse gepaart mit einer empathischen Hinwendung zu den Opfern die Resistenz gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit stärken kann. Dafür genügt es nicht, um im Bild zu bleiben, eine Flaschenpost zu finden. Man muss sie auch öffnen und ihre Nachricht zu neuem Leben erwecken können. Genau dies geschieht auf vielfältige Weise in dem Haus, das wir heute eröffnen und das ein Zentrum des Lernens und der historisch-politischen Bildung sein wird. Die hier konzentrierten Informationsangebote sind einerseits Schlüssel, die den historischen Ort in seiner ganzen Vielschichtigkeit zu öffnen verstehen. Sie heben zugleich die gedenkstättenpädagogischen und museumsdidaktischen Möglichkeiten auf ein neues Niveau. In diesem Besucherinformationszentrum wird das Selbstverständnis der Gedenkstätte als zeithistorisches Museum manifest.

Ich danke allen, die mit ihren Ideen, ihrer Kreativität und ihrem handwerklichen Geschick dazu beigetragen haben, dass wir heute diese Einrichtung ihrer Bestimmung übergeben können. Ich wünsche mir, vor allem aber Ihnen, Herr Prof. Morsch, und den Besucherinnen und Besuchern der Gedenkstätte Sachsenhausen, dass dieses Haus ein lebendiger Ort wird, wo debattiert und auch gestritten wird die komplexen Fragen, die die Geschichte dieses Ortes aufwirft. Ich wünsche uns allen, dass dieses Haus ein Ort sei, wo Geschichte in ihren verbrecherischen und emotional aufwühlenden Dimensionen für junge Menschen erfahrbar wird und ihren Blick für die eigene Gegenwart schärft. Ich wünsche uns allen, dass dieses Haus die Neugier der Besucher aus aller Welt auf die vielen Aspekte der Geschichte von Sachsenhausen weckt und dass sie es mit einem Gewinn wieder verlassen.

Vielen Dank!