Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 15.04.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder an der Erasmus Universität "World Leader Cycle" am 15. April 2004 in Rotterdam
Anrede: Sehr geehrter Herr Vorsitzender der Fakultätsvereinigung, Magnifizenz, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Jan Peter, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/52/637352/multi.htm


Rotterdam als größte Hafenstadt der Welt symbolisiert vieles, was den Kern der europäischen Einigung ausmacht. Die Freiheit des Warenverkehrs war und ist ein zentrales Element der europäischen Integration.

Rotterdam erinnert aber auch an einen Akt der Barbarei, der uns die andere, die blutige Seite der europäischen Geschichte vor Augen führt. Vor fast genau 64 Jahren fiel Rotterdam dem Bombardement deutscher Faschisten zum Opfer, das ungezählten Menschen das Leben kostete und diese wunderbare Stadt fast völlig zerstörte. Deshalb ist Rotterdam für uns Deutsche, aber auch für alle anderen Europäer eine beständige Mahnung, nicht nachzulassen im Prozess der europäischen Integration, und zwar als Voraussetzung dafür, dass wir Europa zu einem Kontinent dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen machen.

Was diese Stadt in so einmaliger Weise auszeichnet - Frieden, Wohlstand, Kultur und Toleranz - , das gilt es, in ganz Europa zu verankern. Wir sollten uns immer wieder vor Augen führen, wie viel wir miteinander trotz aller Probleme bereits miteinander erreicht haben, um aus diesem Kontinent der Konflikte und Rivalitäten ein Europa der Kooperation und des Friedens zu machen.

Die Niederlande und Deutschland haben als Gründungsmitglieder der damaligen EWG gemeinsam den europäischen Integrationsprozess in Gang gesetzt und immer wieder dynamisch angetrieben und konsequent fortgeführt. Das muss so bleiben, weil das für die Menschen in unseren beiden Ländern, aber auch für Europa insgesamt wichtig ist. Die Bereitschaft zur Versöhnung ging von Beginn an mit dem Willen einher, die gemeinsame Zukunft aktiv zu gestalten. Dieser Prozess ist untrennbar mit den Namen großer Europäer nicht zuletzt aus den Niederlanden verbunden. Ich nenne stellvertretend Joop den Uyl, den ich als sehr junger Mensch noch habe in seiner aktiven Zeit kennen lernen können. Natürlich nenne ich meinen Freund Wim Kok, aber auch Sicco Mansholt.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das in großem Respekt sagen: Wir erinnern uns der kürzlich verstorbenen Königin Juliana. Sie hat in den Jahren nach dem Krieg sehr maßgeblich dazu beigetragen, dass sich unsere beiden Völker versöhnen konnten und auch versöhnt haben. Auch Königin Beatrix hat sich mit bewundernswertem Engagement für die deutsch-niederländische Freundschaft aktiv eingesetzt und dabei sehr viel erreicht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute sind wir im Begriff, der Europäischen Union - und zwar der nach Mittel- und Osteuropa erweiterten Union - eine Verfassung zu geben. Diese Verfassung soll sicherstellen, dass die Europäische Union auf Dauer handlungsfähig, transparent und damit politisch führbar bleibt.

Der Entwurf einer Europäischen Verfassung, den der Konvent vorgelegt hat, enthält hierfür zahlreiche sehr wichtige Verbesserungen und Anregungen, so z. B. die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament und auch eine deutliche Stärkung des Parlaments im Bereich der Gesetzgebung. Der Entwurf sieht außerdem vor, dass die Bereiche, in denen mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann, deutlich ausgeweitet werden. Das ist wichtig, um das zu erreichen, was der Ministerpräsident zu Recht betont, nämlich Europa transparenter und weniger bürokratisch zu machen.

Mit dem Amt eines Europäischen Außenministers und eines Europäischen Diplomatischen Dienstes schaffen wir wichtige Instrumente. Das zeigt, dass wir zusammen gehören und dass wir im Wettbewerb mit anderen Teilen der Welt handlungsfähiger werden wollen als wir es gegenwärtig sind. All diese Instrumente sind nötig, um Europas gewachsene Verantwortung in der Welt und daraus resultierend eine gemeinsame Außenpolitik wirklich zur Geltung zu bringen. Schließlich sorgen wir dafür, dass die Charta der Grundrechte in die Verfassung übernommen wird. Damit unterstreichen wir - wo könnte man das besser betonen als in der Erasmus-Universität - , auf welchem Fundament von aufklärerischen Werten wir das gemeinsame Europa errichten wollen.

Meine Damen und Herren, das vom Konvent vorgeschlagene Prinzip der doppelten Mehrheit, also die Frage, wie Entscheidungen in Europa zu Stande kommen sollen, das von den Niederlanden ebenso wie von Deutschland unterstützt wird, spiegelt die zweifache Natur der Europäischen Union wider:

Sie ist zum einen die Union der Staaten und zum anderen die Union der Bürgerinnen und Bürger. Die Staatenmehrheit unterstreicht die Gleichberechtigung aller Mitgliedstaaten, und zwar unabhängig von ihrer Größe. Das zusätzliche Erfordernis einer bestimmten Mehrheit der Unionsbürger, um zu Entscheidungen zu kommen, entspricht dem alten guten Grundsatz "Ein Bürger - eine Stimme".

Gemeinsame Vorstellungen haben die Niederlande und Deutschland auch in der Frage der zukünftigen Zusammensetzung der Europäischen Kommission. Eine unbegrenzte Aufblähung der Kommission würde ihre Arbeitsfähigkeit gefährden und die Kommission als eine Art Regierung - sie ist es ja noch nicht nach den Verträgen - politisch eher schwächen als stärken. Es wird schwer sein, dieses Prinzip durchzusetzen, weil man nachvollziehen muss, dass neu beitretende Mitgliedstaaten gerade in den ersten Jahren ihrer Mitgliedschaft durch das, was Sie "ihren" Kommissar nennen, in Brüssel vertreten sein wollen. An sich entspricht das nicht dem Geist des Vertrags. Aber es ist ein Stück der politischen Realität.

Wir müssen deswegen zu einem Kompromiss finden, der einerseits dem Verlangen der neuen Mitgliedsstaaten Rechnung trägt und andererseits die Arbeitsfähigkeit sicherstellt. Ein Kompromiss könnte darin liegen, für einige Jahre noch das Prinzip gelten zu lassen, dass jeder Mitgliedstaat mit einem Kommissar in der Kommission vertreten ist. Danach müssen wir aber zu einer deutlich verkleinerten Kommission kommen.

Damit ich nicht missverstanden werde: Deutschland ist bereit, bei der Zusammensetzung der Kommission ein System der gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten unabhängig von der Größe und der Anzahl ihrer Bevölkerung zu akzeptieren. Das würde bedeuten, dass nicht nur "kleinere" Mitgliedstaaten, sondern auch die "großen" Mitgliedstaaten künftig relativ regelmäßig auf einen Kommissar und damit auf eine nationale Vertretung in der Kommission verzichten müssten.

Meine Damen und Herren, darüber hinaus müssen wir uns überlegen, wie die europäische Einigung in einer deutlich vergrößerten Europäischen Union vorangebracht werden kann. Es geht eben nicht nur um Erweiterung. Es geht auch um Vertiefung, also um ein mehr an Integration. Unterschiedliche Integrations-Geschwindigkeiten sind in Europa nichts Neues. Sie sind heute Realität. Beispiele sind die Wirtschafts- und Währungsunion, die auch nicht die ganze Europäische Union umfasst, die Zusammenarbeit in der Schengen-Gruppe und auch die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in der auch nicht alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union mitmachen.

In den Bereichen, in denen das für die Fortführung der Integration notwendig ist, sollten wir auch in Zukunft ganz pragmatisch nach Wegen suchen, die jeweils das Voranschreiten einer Gruppe von Mitgliedstaaten ermöglichen. Wenn ich "pragmatisch" sage, meine ich das so. Man sollte es nicht theoretisch überhöhen. Das Voranschreiten von einzelnen Mitgliedsstaaten oder auch von Gruppen von Mitgliedsstaaten muss immer so geschehen, dass es offen ist für all diejenigen, die später nach einer Phase des Nachdenkens oder der politischen Entwicklung dazu kommen wollen.

Die BeNeLux-Staaten, Deutschland und Frankreich haben bei der Erarbeitung der Verfassung sehr eng zusammengewirkt. Wer die BeNeLux-Vorschläge und die deutsch-französischen Vorschläge miteinander vergleicht, der wird feststellen, dass sie zu mehr als 95 Prozent übereinstimmen. Das ist kein Zufall. Als Gründerstaaten des gemeinsamen Europas waren und sind wir dem europäischen Integrationsprozess in ganz besonderer Weise miteinander verpflichtet. Auch darauf hat der Ministerpräsident hingewiesen. Damit ist im Übrigen auch die Behauptung widerlegt, in der Europäischen Union gäbe es einen Gegensatz zwischen so genannten "großen" Mitgliedstaaten auf der einen Seite sowie "mittleren" und "kleinen" Mitgliedstaaten auf der anderen.

Der Einfluss, den ein Land auf die Gestaltung der europäischen Integration ausübt, hängt eben nicht in erster Linie von seiner Größe ab, sondern vielmehr von seinen Ideen, seinen Initiativen und auch von den Persönlichkeiten, die dieses europäische Engagement vertreten und vorantreiben. Die Niederlande, wie auch Belgien und Luxemburg, haben das häufig genug bewiesen.

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang auch eine Bemerkung zur deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa, die auch in Zukunft sehr wesentlich für den Erfolg der europäischen Einigung sein wird. Bei der deutsch-französischen Zusammenarbeit geht es nicht darum, dass wir anderen Mitgliedstaaten etwas vorschreiben, sie gleichsam dominieren wollen. Sie ließen sich das zu Recht nie gefallen, und wir wollen das auch nicht. Abgesehen davon, dass das nicht unsere Absicht ist, würden die institutionellen Spielregeln in der Union den Versuch einer Dominanz großer Mitgliedstaaten anderen gegenüber auch verhindern.

Meine Erfahrung ist allerdings auch: Einigen sich Deutschland und Frankreich nicht, dann gibt es nicht wenige im Europäischen Rat, die das kritisieren und sagen: "Würdet ihr euch einigen, dann wäre ein Kompromiss im Rat leichter". Einigen wir uns, dann gibt es auch eine Kritik, nämlich die, dass wir andere dominieren wollten. Man muss immer wieder deutlich machen, dass diese Einigung in vielen Fragen sehr wichtig ist für den europäischen Integrationsprozess und gerade nicht dazu dient, anderen etwas vorzuschreiben, sondern dazu dient, Europa voranzubringen.

Meine Damen und Herren, die Terroranschläge von Madrid haben uns auf grausame Weise verdeutlicht, dass der Terror auch in Europa eine neue Dimension erreicht hat. Niemand sollte daran zweifeln, dass Europa den Kampf gegen den Terrorismus mit aller Entschlossenheit und gemeinsamen führen muss. Es geht um eine gemeinsame Antwort auf den Terrorismus. Aber natürlich müssen wir darüber reden, wie denn diese Antwort aussehen soll. Nach unserer Auffassung steht in erster Linie die intensive Prävention und Aufklärung durch Polizei und Sicherheitsdienste, also das Vereiteln von Anschlägen und natürlich die Verfolgung der Täter. Zu diesem Zweck müssen und werden wir in Europa noch besser zusammenarbeiten und die Arbeit unserer Sicherheitsorgane - Polizei, aber auch der Dienste - noch enger koordinieren.

Beim Europäischen Rat im März haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union neue Maßnahmen beschlossen, um den Terrorismus gemeinsam zu bekämpfen. Dazu gehört übrigens auch die Schaffung der Stelle eines Koordinators für diese Aufgaben. Es ist sicher kein Zufall, dass dieses Amt eine anerkannte Persönlichkeit aus Ihrem Land, Herr Gijs de Vries, ausüben wird, der dafür die erforderlichen Qualifikationen mit sich bringt.

Mir liegt aber daran, dass klar wird, dass Europa diesen Kampf auf der Basis seiner Wertvorstellungen führen wird, dass Europa nicht dazu gebracht werden wird, gerade nicht durch Terroristen, im Kampf gegen den Terrorismus die Wertvorstellungen etwa der Rechtstaatlichkeit und des aufklärerischen Verhaltens preis zu geben. Mir liegt daran, dass auch deutlich wird, dass Europa weiß, dass dieser Kampf sich nicht in polizeilichen oder gar militärischen Mitteln erschöpfen darf, sondern dass Terrorismus nur zu besiegen sein wird, wenn man die Grundlagen für die Möglichkeit von Terroristen beseitigt, Massen zu mobilisieren. Die Grundlagen bestehen in Hunger, in Verelendung, in Unterentwicklung. Wenn wir das übersehen und den Kampf gegen diese Geißel der Menschen z. B. in der Dritten Welt nicht aufnehmen, werden wir beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht erfolgreich sein können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sicherheit in Europa können wir heute mehr denn je nur gemeinsam garantieren. Wir brauchen die Europäische Verfassung auch deshalb, weil sie wichtige Fortschritte im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit bedeutet. So hat der Konvent Bestimmungen zur europäischen Justizpolitik vorgeschlagen, die den Kampf gegen Terror, aber auch gegen grenzüberschreitend organisiertes Verbrechen verbessert.

Die Verfassung bringt zudem die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik deutlich voran. Deren Fortentwicklung ist von zentraler Bedeutung nicht nur für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in diesem Bereich, sondern auch für die transatlantische Partnerschaft. Die NATO ist und bleibt weiterhin Grundlage der kollektiven Sicherheit ihrer Mitglieder. Die jüngste NATO-Erweiterungsrunde demonstriert, dass die Vitalität der NATO, die - das sage ich gern - mit Jaap de Hoop Scheffer einen hervorragenden Generalsekretär besitzt, ungebrochen bleibt.

Wichtig ist aber auch: Eine starke NATO braucht einen starken europäischen Pfeiler. Ich bin sicher, dass unsere amerikanischen Freunde das mehr und mehr verstehen. Das Deutsch-Niederländische Korps in Münster steht beispielhaft für diese Zusammenarbeit. Mit unserem gemeinsamen Einsatz in Afghanistan als "lead-force" von ISAF haben wir bewiesen, dass für uns - Deutschland und die Niederlande - gemeinsame Sicherheitspolitik nicht nur auf dem Papier steht, sondern praktizierte Politik ist. Gemeinsam bekennen wir uns zur Rolle Europas beim Kampf gegen neue Risiken und für mehr Sicherheit in der Welt. Dies gilt auch für die aktuelle Krise im Irak.

Zwar sind wir in der Vergangenheit auch in Europa zum Teil unterschiedlicher Auffassung über den richtigen Weg gewesen. Aber zu Rechthaberei besteht überhaupt kein Anlass. Heute steht klar das gemeinsame Interesse an der Stabilisierung des Irak im Vordergrund. Die Ereignisse der letzten Tage haben die Brisanz der Lage in tragischer Weise erneut deutlich gemacht.

Meine Damen und Herren, die Rolle der Europäischen Union in der internationalen Politik beschränkt sich jedoch nicht nur auf sicherheitspolitische Fragen. Europa - es ist mir wichtig, dies gerade hier zu sagen - zeichnet sich durch ein einmaliges Sozialmodell aus, ein Modell der umfassenden Teilhabe der arbeitenden Menschen, und zwar am Wohlstand, aber auch an den Entscheidungen, am Sagen in der Gesellschaft. Unser Anspruch sollte also sein, dass ein starkes und geeintes Europa aktiv am Aufbau einer kooperativen Weltordnung mitarbeitet, damit wir die Globalisierung im Sinne von größerer Gerechtigkeit im Inneren und mehr Teilhabe, übrigens auch zwischen Nord und Süd, auf unserem Kontinent mitgestalten können.

Meine Damen und Herren, im zweiten Halbjahr 2004 werden die Niederlande die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union innehaben. Die vor uns liegenden Aufgaben sind gewaltig. Schon deshalb arbeiten wir mit Ministerpräsident Balkenende darauf hin, dass es der irischen Präsidentschaft gelingt, die Verhandlungen über die Europäische Verfassung noch in diesem Halbjahr erfolgreich abzuschließen. Dann kann sich die niederländische Präsidentschaft auf die dann anstehenden, gewiss ebenso schwierigen Fragen konzentrieren.

So müssen im zweiten Halbjahr 2004 die Verhandlungen über das nächste Finanzpaket der Europäischen Union weiter vorangetrieben werden. Im Dezember des vergangenen Jahres haben die Staats- und Regierungschefs von sechs Mitgliedsstaaten, darunter die Niederlande und Deutschland, ihre Position in einem gemeinsamen Schreiben dem Kommissionspräsidenten, Herrn Prodi, übermittelt.

Drei Punkte sind bei dieser gemeinsamen Initiative für uns besonders wichtig:

Erstens muss der neue Finanzrahmen klare Prioritäten für die Europäische Union setzen. Dazu gehören vor allen Dingen - Ministerpräsident Balkenende hat darauf hingewiesen - die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie, die Förderung von Innovation, Forschung und Entwicklung, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie der gemeinsame Schutz der Außengrenzen der größer gewordenen Europäischen Union.

Zweitens: Die Politik des wirtschaftlichen Zusammenhalts muss fortgeführt werden. Dabei müssen diejenigen, die bislang Solidarität der Europäer erfahren haben, diese Solidarität nun auch gegenüber den neuen, ärmeren Mitgliedsstaaten zeigen. Man kann angesichts knapper Ressourcen in Europa nicht nach dem Motto verfahren: Wenn neue hinzukommen, dann satteln wir eben drauf. Sondern diejenigen, die vom Teilen gelebt haben, müssen jetzt zum Teilen bereit sein.

Drittens: Wir brauchen langfristig gesunde Finanzen in ganz Europa. Die Gesamtausgaben der Europäischen Union müssen deshalb auf ihrem derzeitigen Niveau stabilisiert werden und dürfen auch künftig nicht mehr als ein Prozent des EU-Bruttonationaleinkommens betragen. Es wäre den Menschen schwer zu vermitteln, wenn das europäische Budget immer weiter ausgedehnt würde, während in den nationalen Haushalten, mit zum Teil schmerzhaften Einschnitten für die Menschen, weiter gespart werden muss.

Meine Damen und Herren, auf dem Gipfel von Lissabon haben sich die Mitgliedsstaaten das Ziel gesetzt, Europa bis zum Jahr 2010 zur dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Region der Weltwirtschaft zu machen. Dazu brauchen wir eine aktive Innovationspolitik und eine nachhaltige Verbesserung der Infrastruktur. Und wir brauchen - mehr als in der Vergangenheit - Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einen Satz sagen, der sich an die neuen Mitgliedsstaaten richtet. Ich verstehe natürlich, dass man sich im Aufholprozess und wegen der Wohlstandserwartungen der eigenen Bürgerinnen und Bürger darauf ausrichtet, sich möglichst komparative Kostenvorteile zu verschaffen, mit niedrigen Steuern und Sozialabgaben, mit niedrigen Löhnen und Gehältern. Und dass man zugleich die Hoffnung hat, dass die Mittel, die deswegen für die Entwicklung der Infrastruktur ausfallen, durch Europa ausgeglichen werden. Dieses Verhalten auf die Spitze getrieben hielte ich für falsch, weil es dazu führen würde, Bereitschaft zur Solidarität in Europa zu schwächen.

Meine Damen und Herren, in Europa finden rund 45 Millionen Menschen Arbeit im industriellen Sektor. Ihre Arbeitsplätze werden wir nur sichern können, wenn wir weiter konsequent an der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit nicht nur des Dienstleistungssektors, sondern auch des industriellen Sektors arbeiten. In diesen Zusammenhang gehört auch der Gedanke, die industrie- und wettbewerbspolitische Ausrichtung der Kommission zu stärken. Ich habe deshalb gemeinsam mit Präsident Chirac und Premierminister Blair vorgeschlagen, einen Vize-Präsidenten der Kommission zu ernennen, der ausschließlich für diesen Sektor und die notwendigen wirtschaftlichen Reformen zuständig ist. Ich glaube, die Konzentration in diesem Bereich ist nötig und wichtig für die Wohlstandsentwicklung in Europa.

Meine Damen und Herren, es gehört zu den zentralen politischen Aufgaben der niederländischen Ratspräsidentschaft, den Erweiterungsprozess fortzuführen.

Auch hier will ich klar sagen: Deutschland unterstützt das Ziel, dass Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 Mitglieder der Europäischen Union werden können. Auch über den Beitrittsantrag Kroatiens wird zu entscheiden sein. Ob diese Staaten dies schaffen, darf nicht in erster Linie von politischen Entscheidungen abhängen, sondern muss davon abhängen, ob sie sich selbst in den Stand versetzen - ökonomisch und natürlich auch politisch - , die Zielvorgaben zu erfüllen.

Ende 2004, also in der niederländischen Präsidentschaft, steht - nach unserem gemeinsamen Beschluss im Europäischen Rat - auch die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei an, wahrlich eine schwierige Entscheidung, aber eine notwendige. Ich habe mich im Februar bei meiner Reise in die Türkei von den großen Fortschritten überzeugen können, die in der Türkei unter Ministerpräsident Erdogan bei den innenpolitischen Reformen gemacht worden sind.

Gewiss - auch das gilt es deutlich zu machen - : Manches steht bislang noch auf dem Papier und manches wird von der Türkei noch zu leisten sein. Doch wir, die Mitglieder der Europäischen Union, sollten nicht vergessen: Die Europäische Union hat der Türkei über Jahrzehnte - seit 1963, als der Assoziierungsvertrag geschlossen worden ist - zugesagt, dass am Ende Beitrittsverhandlungen und der Beitritt stehen werden. Seit 40 Jahren ist das immer wieder deutlich gemacht worden, von allen Regierungen unterschiedlicher Couleur. Mehrfach wurde versprochen, dass die Türkei dabei nach den gleichen politischen und ökonomischen Kriterien behandelt werden wird, wie sie selbstverständlich auch für alle andere Kandidaten gelten.

Wenn die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien, also Rechtsstaatlichkeit, Einhaltung der Menschenrechte und Schutz der Minderheiten, erfüllt, müssen die Beitrittsverhandlungen - die ja nicht identisch sind mit einem Beitritt - auch beginnen. Das sind wir der eigenen Glaubwürdigkeit und dem Respekt vor diesem Land schuldig. Und ein wichtiger Gesichtspunkt, den ich zu überlegen bitte: Welch ein Sicherheitszuwachs würde es für Europa wohl bedeuten, wenn es durch diese Form der Kooperation, also durch die Zustimmung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, gelänge, in einem islamischen Land eine Versöhnung zu schaffen zwischen islamischem Glauben einerseits und demokratischen Wertvorstellungen, wie sie der Westen vertritt, anderseits.

Meine Damen und Herren, ich bin fest davon überzeugt, dass Ministerpräsident Balkenende und die niederländische Präsidentschaft an die anstehenden Aufgaben kenntnisreich - das erleben wir immer wieder im Europäischen Rat - und engagiert und damit auch erfolgreich herangehen werden.

Auf diesem gemeinsamen Weg, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, lieber Jan Peter, sichere ich Ihnen auch für die Zukunft eine gute, eine vertrauensvolle, ja eine freundschaftliche Zusammenarbeit zu und ich bin sicher, dass es uns gemeinsam gelingen wird, Europa sowohl, was die Erweiterung als auch, was die Vertiefung angeht, voranzubringen.

Der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und den Organisatoren dieser 20. Business Week wünsche ich viel Erfolg für die Veranstaltungen der nächsten Tage und natürlich bedanke ich mich bei Ihnen, liebe Studentinnen und Studenten, für die Einladung, als Hauptredner der "Business Week 2004" zu Ihnen sprechen zu dürfen und die Business Week 2004 eröffnen zu dürfen, was ich hiermit offiziell tun will.