Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 18.04.2004

Anrede: Verehrter Herr Präsident Nasarbajew, Herr Ministerpräsident, Herr Oberbürgermeister, sehr verehrte Präsidenten Harting und Dr. Rogowski, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/45/639145/multi.htm


ich möchte zu Beginn Ihnen, verehrter Herr Präsident Nasarbajew, dafür Dank sagen, dass Sie nach Hannover gekommen sind. Sie haben immer wieder betont, dass Sie ein Freund Deutschlands sind und dass Sie sich eine möglichst enge Zusammenarbeit zwischen der deutschen Wirtschaft und Kasachstan wünschen. Das ist in der Vergangenheit auch so gewesen. Die Möglichkeiten sind jedoch längst noch nicht ausgeschöpft.

Allein in den vergangenen fünf Jahren hat sich das Handelsvolumen zwischen unseren beiden Ländern verdoppelt. Im abgelaufenen Jahr hat es zum ersten Mal die 2-Milliarden-Euro-Grenze überschritten. Wer Kasachstan ein wenig kennt, wer die ökonomischen Strukturen kennt, wer die Dynamik, die fühlbar und sichtbar ist, erfahren hat, weiß, dass es ein großes Maß an Möglichkeiten gibt. Ich würde mir wünschen, dass diese vielen Möglichkeiten auch genutzt werden. Viele haben sich aufgemacht, um in Ihrem Land tätig zu werden. Ich bin ganz sicher, weitere werden folgen. Die Bundesregierung sieht es mit Freude und wird dies auch weiterhin unterstützen.

Bei meinem Besuch in Kasachstan haben wir über wichtige Projekte, in denen deutsche Unternehmen engagiert sind oder sich engagieren wollen, miteinander geredet. Ich bin ganz sicher, dass Ihr heutiger Besuch hier und die Tatsache, dass wir morgen gemeinsam die Präsentation Kasachstans auf der Hannover-Messe eröffnen werden, die Möglichkeiten deutscher Unternehmen in Ihrem Land positiv beeinflussen werden. Wir haben eben in einem kurzen Gespräch schon Übereinstimmung darin gefunden, dass immer dann, wenn Hilfe nötig ist - auf der einen wie auf der anderen Seite - auch Hilfe gewährt werden wird. Das ist gut für unsere Zusammenarbeit, und das ist gut und wichtig für die deutschen Unternehmen, die auf diesem zukunftsträchtigen Markt präsent sein wollen. Noch einmal, Herr Präsident, herzlich willkommen und auf weiterhin sehr gute Zusammenarbeit!

Meine Damen und Herren, ich möchte drei Entwicklungslinien deutscher und internationaler Politik kennzeichnen, die auch für die wirtschaftlichen Tätigkeiten von enormer Bedeutung sind: Die Entwicklung der Weltwirtschaft, die Entwicklung in der Europäischen Union und die Entwicklung in Deutschland.

Erstens: Die weltwirtschaftliche Situation ist gegenwärtig von Chancen und positive Entwicklungen geprägt. Wir spüren in den Vereinigten Staaten von Amerika Aufschwungtendenzen, die nicht nur den konsumtiven Bereich, sondern mehr und mehr auch die Investitionen und den Investitionsgütermarkt betreffen. Das ist ein ermutigendes Zeichen.

Diese Entwicklung, die im Übrigen auch auf den asiatischen Märkten sichtbar ist, darf nicht gestört werden. Deshalb wird sich die internationale Politik ganz besonders der Situation im Nahen und Mittleren Osten widmen müssen. Wir brauchen um Frieden zu erhalten, aber auch aus weltwirtschaftlichen Erwägungen heraus, eine Stabilisierung in dieser Region. Zwei Bereiche sind in diesem Zusammenhang besonders zu nennen. Zum einen der Irak und zum anderen das Verhältnis zwischen Israel und Palästina, also der Friedensprozess im Nahen Osten. Beides sind Problembereiche von ungeheurer Wichtigkeit auch für die ökonomische Entwicklung in den nächsten Jahren. Wenn Politik hier deeskalierend und Frieden stiftend wirken kann - das muss sie wollen - , dann wird das auch positive Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung weltweit haben.

Der erste Bereich betrifft den Irak. Wie immer man zu der Frage der Notwendigkeit des Krieges gestanden hat - diesbezüglich hat es ja, auch in der westlichen Welt, Differenzen gegeben - , gibt es jetzt ein gemeinsames Interesse an Demokratie und an ökonomischer Entwicklung in diesem Land. Es gibt ein gemeinsames Interesse daran, Terrorismus zu bekämpfen und auch auf diese Weise für mehr Stabilität zu sorgen. Dieses gemeinsame Interesse wird gesehen, und Folge dieses gemeinsamen Interesses werden bestimmte Entscheidungen sein. Darin besteht im Übrigen in Europa ein großes Maß an Übereinstimmung. Es geht erstens darum, dass die politische Autorität zeitgerecht, also zum 30. 06. , auf die irakischen Autoritäten übertragen wird. Dies wird überhaupt nur möglich sein, wenn die Arbeit des Beauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Herr Brahimi, im Irak erfolgreich sein wird. Das bedeutet nicht nur, dass Autorität termingerecht übertragen werden muss, sondern das bedeutet zugleich eine neue, eine sehr viel stärkere Rolle der Vereinten Nationen in diesem Prozess. Sie sind die Einzigen, die über die Möglichkeiten der Legitimation von Politik in diesem Land verfügen. Wir sollten und werden alle miteinander daran arbeiten, dass dies auch geschieht.

Der zweite Bereich betrifft das Verhältnis zwischen Israel und Palästina. Den angekündigten Rückzug der Israelis aus den besetzten Gebieten, aus dem Gazastreifen und aus Teilen der West Bank, kann man nur begrüßen. Aber genauso klar muss sein, dass wir zurück müssen zu dem, was man Road Map nennt. Denn sie ist ein Plan, wie man auch in direkten Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern zu einem Israel in sicheren Grenzen, unbehelligt von terroristischer Gewalt, einerseits und zu einem freien palästinensischen Staat andererseits kommen kann. Wir müssen also zurück zu dem, was die Road Map vorsieht, und zwar in fairen Debatten im Quartett, also innerhalb dessen, was zwischen Amerika, den Europäern, den Russen und den Vereinten Nationen vereinbart ist. Hierbei spielen insbesondere auch die Europäer eine Rolle, und ich bin guter Hoffnung, dass wir diese Rolle auch ausfüllen können. Schaffen wir es, die Gewalt in dieser Region zu deeskalieren und Schritt für Schritt zu friedlichen Lösungen zu kommen, bin ich sicher, dass die positiven Tendenzen, die in der Weltwirtschaft jetzt spürbar sind, sowohl in Amerika als auch in Europa, ebenso in Asien, nachhaltig sein werden. Schaffen wir es nicht, wird es schwieriger werden. Das betrifft nicht nur die Rohstoffpreise, sondern in einer vernetzten Welt auch andere wirtschaftliche Tätigkeiten.

Zweitens: Wir werden - Herr Präsident Rogowski hat darauf hingewiesen - am 1. Mai zehn neue Mitglieder in der Europäischen Union begrüßen können. Dies ist eine gewaltige Chance - politisch, aber auch ökonomisch. Wir haben damit die Möglichkeit, in dieser Generation dafür zu sorgen, dass das ganze Europa zu einem Ort dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen wird. Das ist eine historische Aufgabe.

Darüber hinaus ist es richtig und wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bei diesem Einigungsprozess mehr ökonomische Chancen als Schwierigkeiten gibt. Natürlich gibt es Ängste von Menschen, speziell auch in Deutschland, das die längste Grenze zu den neuen Mitgliedstaaten hat. Natürlich gibt es Ängste von Menschen, die angesichts sehr viel geringerer Löhne und Steuern in den neuen Mitgliedsländern fürchten, dass sie Wohlstandsverluste hinzunehmen haben. Ich kann diese Befürchtungen verstehen, aber wir müssen auch darauf hinweisen, dass ein Markt von 450 Millionen Konsumenten sehr große Chancen eröffnet, dass die Aufholprozesse, die in den Ländern, die zur Europäischen Union stoßen, beginnen werden, für die deutsche Wirtschaft und damit auch für deutsche Arbeitnehmer riesige Möglichkeiten bedeuten. Denn in fast allen Märkten dieser Länder ist Deutschland die Nummer eins.

Man kann und man muss ebenfalls erklären, dass man, um Märkte auf Dauer zu sichern, in diesen Märkten präsent sein muss, und zwar auch mit Investitionen. Ich habe allerdings die Bitte an die Verantwortlichen in den Wirtschaftsverbänden, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass es mit diesem Engagement nicht um die dortigen Märkte und damit verbunden um die hiesigen Arbeitsplätze ginge. Oder gar den Eindruck entstehen zu lassen, dass man, weil man politisch anderer Auffassung ist oder gar Druck ausüben möchte, fahrlässig mit Deinvestitionen hier und Investitionen dort agiert. Das würde es ungleich schwerer machen, der Bevölkerung die vorhandenen Chancen zu vermitteln. Zu vermitteln, dass die Chancen größer sind als die Belastungen - das müssen wir miteinander leisten. Die eine oder andere Debatte in der letzten Zeit war dabei nicht hilfreich.

Drittens: Wir werden in Deutschland den Weg, den wir mit den Reformen der Agenda 2010 eingeschlagen haben, fortsetzen. Herr Rogowski und Herr Harting haben von den Schwierigkeiten gesprochen, in diesem Land Reformen umzusetzen. Es ist wahr: Wir haben kein Erkenntnisproblem. Die meisten wissen, was nötig ist. Es ist aber auch wahr: Wir haben durchaus ein Umsetzungsproblem, das mit mangelnder Akzeptanz zu tun hat. Die Frage, die wir uns gemeinsam stellen müssen, lautet: Woran liegt das eigentlich? Es hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen ist es nachvollziehbar, dass Menschen, die durch ihre eigene Arbeit Wohlstand erreicht haben, den Wunsch haben, diesen festzuhalten. Dieser verständliche Wunsch führt dazu, dass die Reformbereitschaft abstrakt zwar sehr groß ist, dass aber in dem Moment, in dem in diesem Reformprozess etwas abgegeben werden muss, die Reformbereitschaft schwindet. Zum anderen haben wir die Tatsache, dass die Belastungen einer Reform aktuell spürbar sind, die positiven Folgen der Reform aber erst später eintreten können.

Trotzdem sage ich: Was wir mit der Agenda 2010 angefangen haben, war und ist notwendig. Es ist notwendig für die jetzige, aber mehr noch für die künftige Generation. Und weil es notwendig ist, werden wir es unbeirrt fortsetzen. Es geht nicht nur darum, dass wir in Deutschland weiter im Wohlstand leben können, sondern es geht auch darum, dass Sozialstaatlichkeit auf hohem Wohlstandsniveau auch für unsere Kinder und deren Kinder gesichert werden soll. Das ist das Ziel, das wir verfolgen. Alles andere sind Instrumente, über die man in der Tat streiten kann; das Ziel aber sollte außer Streit sein.

Ein weiteres Ziel der Agenda 2010 ist es, Ressourcen freizubekommen und zwar durch die Umverteilung von Vergangenheits-Subventionen hin zu Zukunfts-Investitionen. Das ist die Aufgabe, die gleichsam die Kehrseite der Medaille ist, die sich mit der Agenda 2010 verbindet. Es muss gemacht werden, um Sozialstaatlichkeit nachhaltig zu sichern, und es muss zugleich gemacht werden, um in Bildung, in Wissenschaft und auch in bessere Betreuung von Kindern zu investieren.

Die Agenda 2010 hat auch etwas mit Flexibilität zu tun, auch mit der Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Die betriebliche Wirklichkeit in Deutschland ist sehr viel weiter, als die öffentliche Debatte gelegentlich vermuten lässt. Es ist falsch, in der jetzigen Situation darüber zu reden, ob man eine neue Stundenzahl braucht, die oberhalb oder unterhalb der jetzigen Arbeitszeit liegt. Vielmehr wäre es gut, wenn man einmal darüber reden würde, was man an Bedingungen benötigt, um marktgerecht produzieren zu können. Das bedeutet: Flexibilität heißt nicht: 42 oder 35. Flexibilität heißt vielmehr, so zu produzieren, dass die Unternehmen ihre Produktionsleistung auch erbringen können. Es gibt sehr viele betriebliche Gestaltungsmöglichkeiten, die genutzt worden sind und auch weiterhin genutzt werden sollten.

Meine Damen und Herren, ich möchte eine Bemerkung zu einer Diskussion machen, die aktuell von großem Interesse ist, nämlich zur Diskussion über die Förderung der neuen Bundesländer.

Ich finde es durchaus richtig und gut, dass darüber diskutiert wird. Aber nicht richtig ist, dass so getan wird, als sei bisher nichts erreicht worden. Das ist schlecht für Deutschlands Ruf auf den internationalen Märkten. Seit fast 14 Jahren werden jährlich rund 4 % des Bruttoinlandproduktes oder 83 Milliarden Euro von West nach Ost transferiert, zur Förderung von Infrastruktur im Osten, zur direkten Produktionsförderung und auch konsumtiv. Ich kenne kein anderes Industrieland, das diese gewaltige Leistung erbringt und trotzdem auf den Märkten der Welt nicht verloren, sondern gewonnen hat. Wir sind im vergangenen Jahr Exportweltmeister geworden, trotz der Dollar-Euro-Relation, die zeitweise nicht sehr günstig war. Man darf diese Leistung, die nicht zuletzt auch eine Leistung der Ostdeutschen ist, nicht aus den Augen verlieren, wenn man gelegentlich kritisch und auch ein bisschen zu selbstkritisch über die Erfolge der Ostförderung redet.

Im Übrigen: Das sogenannte Gießkannen-Prinzip gibt es schon lange nicht mehr. Wir haben funktionierende industrielle Kerne in Ostdeutschland geschaffen. Herr von Pierer, Sie wissen es besser als andere, was sich in Dresden etwa in der Informations- und Kommunikationstechnologie entwickelt hat. Dort haben sich ja nicht nur Infineon, früher Siemens, sondern zum Beispiel auch AMB mit gewaltigen Investitionen angesiedelt. Wenn ich mir anschaue, was in Thüringen wieder an weltweit führender optischer Industrie vorhanden ist, oder was in Chemnitz und Umgebung in der Automobilindustrie geleistet worden ist, und was in den anderen neuen Ländern entstanden ist, dann wird klar: wir haben überhaupt keinen Anlass, diese gewaltige volkswirtschaftliche Leistung und die gewaltige Veränderungsleistung, klein reden zu lassen. Ich sage damit nicht, dass wir nicht immer wieder kritisch prüfen müssen, ob es effizient ist, wie wir fördern. Aber auch die Tatsache, dass wir bereits jetzt zwischen Bund und allen Ländern einen Solidarpakt II bis einschließlich 2019 mit einer Größenordnung von 153 Millarden Euro fest vereinbart haben, zeigt, wie leistungsfähig dieses Land ist. Ich jedenfalls bin sehr gern bereit, mich sehr kritisch, auch selbstkritisch, an der Debatte zu beteiligen. Aber jene Tendenz in Deutschland, die Leistungen anderer immer ganz besonders zu würdigen, die eigene aber klein zu schreiben, sollten wir nicht unterstützen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Reformprozess dient der Zukunftssicherung unseres Landes und ich unterstreiche, was Sie, Herr Dr. Rogowski, hinsichtlich des innovativen Bereiches gesagt haben. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung an vorderer Stelle. Wir sind unter den großen europäischen Industrieländern die Besten. Wir geben zurzeit rund 2,5 % des Bruttoinlandproduktes für Forschung und Entwicklung aus. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, möglichst schnell auf das Niveau von 3 % zu kommen. Das geht nur, wenn Staat und Wirtschaft, beide, in Innovation, in Forschung und Entwicklung mehr als in der Vergangenheit investieren. Das sind wir auch unseren europäischen Partnern schuldig. Denn die europäische Wirtschaft ist sehr stark abhängig von der Entwicklung der stärksten Volkswirtschaft in Europa. Unsere Reformprogramme setzten wir daher nicht nur aus Verantwortung für unser Volk durch, sondern auch aus der Verantwortung für Europa.

Meine Damen und Herren, die Präsidenten beider Verbände haben betont, dies werde eine Messe, die Aufbruch deutlich mache. Es gibt positive Zeichen, auch und gerade in Deutschland, was die wirtschaftliche Entwicklung in diesem und im nächsten Jahr angeht. Es ist unser aller Aufgabe, die positiven Anzeichen zu verstärken. In diesem Sinne eröffne ich die Hannover-Messe. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.