Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 29.11.1999

Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, sehr geehrter Herr General von Kirchbach, meine Herren Kommandeure, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/44/11744/multi.htm


Gerne bin ich Ihrer Einladung, Herr von Kirchbach, gefolgt, heute zu Ihnen zu sprechen.

Sie, die Kommandeure der Bundeswehr, kennen die Stichworte bestens, die ich heute aufgreifen will: Kosovo-Konflikt, NATO-Öffnung und neues Strategisches Konzept, Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Zukunft der Bundeswehr.

Die 90er Jahre haben uns allen eine neue schmerzliche Erfahrung gebracht: Die Rückkehr von Massenmord, Vertreibung und Krieg nach Europa.

Alle am Anfang dieses Jahres gemachten Versuche, das Regime in Belgrad zur Einstellung seiner schweren Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zu bewegen, waren vergebens.

Wir hatten deshalb keine andere Wahl, als gemeinsam mit unseren Verbündeten entschlossen zu reagieren. Die Staatengemeinschaft war nicht bereit, das Morden innerhalb des Kosovo und die Massenvertreibung länger hinzunehmen. Sie mußte die Rückkehr der Flüchtlinge durchsetzen.

Von Ende März bis Anfang Juni des Jahres befanden sich deutsche Soldaten - Seite an Seite mit ihren Kameraden aus anderen NATO-Ländern - zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Kampfeinsatz.

Dabei erfüllten sie nicht nur eine schwierige, sondern auch eine gefährliche Mission. Wir sind dankbar dafür, dass alle Piloten gesund und wohlbehalten von den Einsätzen zurückgekehrt sind.

Heute steht die Bundeswehr im Rahmen der KFOR-Operation im Kosovo für Sicherheit und Frieden, sie braucht dabei keinen Vergleich mit unseren Verbündeten und Partnern zu scheuen.

Mit dem Einsatz auf dem Balkan hat Deutschland in den letzten Jahren bewiesen, dass es bereit und in der Lage ist, seine Rolle in Europa und im Rahmen des transatlantischen Bündnisses umfassend und verantwortungsbewusst wahrzunehmen.

Wenn KFOR heute von einem deutschen General geführt wird, dann ist dies auch ein deutlicher Beweis dafür, dass die Leistungen der Bundeswehr bei unseren Partnern Anerkennung erfahren.

Bei meinen Besuchen im Einsatzgebiet haben mich der Mut, die hohe Motivation, die Leistungsbereitschaft und das tadellose Auftreten der militärischen und zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr stark beeindruckt.

Für diesen professionellen Einsatz, für die Bereitschaft, Leib und Leben einzusetzen, danke ich den Angehörigen der Bundeswehr ausdrücklich.

Dass jeder Friedenseinsatz auch seine Gefahren birgt, wurde uns bereits mehrfach drastisch vor Augen geführt: den Opfern der tragischen Unfälle gilt unser Mitgefühl und ihren Familien unser tief empfundenes Beileid.

Die Entscheidung der Bundesregierung zur Beteiligung der Bundeswehr an KFOR war eine richtige Entscheidung.

Nun weiß ich von der Sorge, durch die notwendige Konsolidierung des Bundeshaushaltes könnte den Soldaten im Einsatz die materielle Basis entzogen oder beeinträchtigt werden.

Die Bundesregierung wird dies jedoch nicht zulassen: Zum einen hat sie Vorsorge für die Kosten des Balkaneinsatzes immerhin in der beträchtlichen Größenordnung von 2 Milliarden DM getroffen.

Zum anderen wird sie auch weiterhin alles daran setzen, dass unsere Soldaten im Einsatz über die Ausrüstung und das Gerät verfügen, das sie dafür benötigen.

Allerdings ist es unvermeidlich, dass auch das Verteidigungsministerium - genauso wie alle anderen Ressorts - einen Beitrag zur überfälligen Sanierung der Staatsfinanzen leistet.

Sie wissen, dass wir nicht sparen um des Sparens willen, sondern dass wir im Interesse des Gemeinwohls, im Interesse aller Bürger die Grundlagen schaffen wollen und müssen, um die staatliche Handlungsfähigkeit zu bewahren.

Vor zehn Jahren war es einfach unvorstellbar, dass deutsche Soldaten auf dem Balkan zum Einsatz kommen würden.

Entscheidend ist: Zum ersten Mal kämpften im Frühjahr 1999 deutsche Soldaten für wahrhaft europäische Werte - nicht für einen verblendeten Nationalismus, nicht zur Eroberung fremder Länder, nicht in Verfolgung strategischer oder angeblich strategischer Interessen, sondern für eines der höchsten Ziele überhaupt: für die Verteidigung der Menschenrechte, für die Beendigung von Mord und Vertreibung.

Unser Land befindet sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer strategisch denkbar guten Lage: Wir sind vereint und leben in anerkannten und gesicherten Grenzen.

An die Stelle des Gleichgewichts der Abschreckung zwischen den beiden früheren Blöcken tritt nach und nach ein System der kooperativen Sicherheit in Europa.

Dennoch müssen wir feststellen: Das außenpolitische Gelände ist unübersichtlicher geworden. An die Stelle der Teilung der Welt in zwei große Blöcke zur Zeit des Kalten Krieges sind heute neue Ungewissheiten und Instabilitäten getreten:

Zerfall staatlicher Strukturen, Terrorismus, Massenvernichtung, globale Umweltrisiken, Drogenhandel, Armutswanderung und Fundamentalismus jeder Couleur stellen die Menschheit vor große Herausforderungen. Zugleich wird die internationale Staatengemeinschaft aber auch mehr und mehr zu einer globalen Interessengemeinschaft.

Wir leben in einer Welt, in der die Grenzen der Nationalstaaten immer durchlässiger und die gegenseitigen Abhängigkeiten immer größer werden.

Kein Land kann auf Dauer eigene Interessen auf Kosten anderer verfolgen. Kein Staat, auch keine Gruppe von Staaten, kann die neuen Sicherheitsrisiken allein angehen oder gar lösen.

Seit dem Fall der Mauer gibt es in unserem Land eine Debatte über die zukünftige Rolle Deutschlands in der Welt.

Es geht dabei um die Frage, wie das vereinte Deutschland mit der größeren Verantwortung umgehen soll.

Zunächst einmal gilt jedoch: Die Grundkoordinaten deutscher Außenpolitik sind unverändert:

unsere geographische Lage im Herzen des zusammenwachsenden Europas,

unsere Erfahrungen mit der gelungenen Integration in die westliche Staatengemeinschaft,

unsere Geschichte und die Lehren, die wir daraus gezogen haben. Oberstes Ziel deutscher Außenpolitik ist es, den Frieden, die Sicherheit und das stabile Umfeld, auf dem letztlich unser Wohlstand gründet, zu festigen. Dazu gehören vor allem die Festigung und der Ausbau des europäischen Einigungswerks.

Politik in Europa, von Europa, für Europa - diese Überzeugung ist und bleibt Richtschnur der deutschen Politik.

Vor dem Hintergrund unserer Geschichte und Geographie gibt es zur festen Einbindung Deutschlands in die Europäische Union keine Alternative.

Zu den eindringlichsten Erfahrungen der deutschen Geschichte gehört es, dass Sonderwege nicht in eine europäische Zukunft führen.

Unser Eintreten für tragfähige multilaterale Strukturen in der EU, der NATO, der OSZE und den Vereinten Nationen gründet auf der Erkenntnis, dass solche Strukturen die beste Rückversicherung gegen Unilateralismus und hegemoniale Bestrebungen sind.

Deutschen Interessen entspricht es daher:

die Europäische Union zu vertiefen und sie nach Osten und Südosten zu erweitern;

auf eine Friedensordnung für ganz Europa hinzuwirken, so wie schon im Harmel-Bericht von 1967 vorgegeben;

die transatlantischen Beziehungen zu erhalten und zu stärken;

weiter zur Verbreitung von Demokratie und zur Achtung der Menschenrechte in allen Teilen der Welt beizutragen;

die Vereinten Nationen so zu stärken, dass sie ihrer Rolle als globaler Ordnungsfaktor gerecht werden können;

das System des freien Welthandels zu festigen und auszubauen. Maßvolles Auftreten, Berechenbarkeit, Dialogfähigkeit und Kompromissbereitschaft, aber auch die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, werden Markenzeichen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik bleiben.

Mit dem Vertrag von Amsterdam und den Beschlüssen des Europäischen Rats in Köln hat die EU bewiesen, dass es ihr ernst ist, eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu entwickeln und zukünftig mit einer Stimme zu sprechen.

Die Konflikte in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo haben in dramatischer Weise gezeigt, dass Europa auch in Krisen international handlungsfähig sein muss.

Dafür müssen wir die Europäische Union mit den nötigen politischen und militärischen Entscheidungsstrukturen, mit den Instrumenten zur Krisenerkennung und zum Krisenmanagement ausstatten.

Wir treten deshalb dafür ein, die Westeuropäische Union in die Europäische Union zu integrieren.

Nur wenn es der Europäischen Union gelingt, ihre Kräfte zukünftig so zu bündeln, dass sie auf der internationalen Bühne mit einer einheitlichen Politik, also als ein Akteur auftritt, wird sie im internationalen Konzert der Mächte gehört und ihrer Verantwortung gerecht werden können.

Ich erinnere an unsere Entscheidung von Köln, das Eurokorps zu einem schnellen Reaktionskorps umzuwandeln. Neueste britische Vorschläge gehen in die gleiche Richtung.

Die künftige Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik - auch dies möchte ich erneut klarstellen - ist kein Ersatz und keine Konkurrenz zur NATO.

Mit ihr ziehen wir vielmehr die Schlußfolgerung aus den europäischen Schwächen und Defiziten, die sich in den vergangenen Jahren gezeigt haben.

Europa muss innerhalb der NATO und in engem Zusammenwirken mit seinen NATO-Partnern künftig mehr Verantwortung übernehmen können.

Die Mandatierung des ehemaligen NATO-Generalsekretärs Javier Solana mit dem Amt des Hohen Beauftragten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU verkörpert diese Bereitschaft.

So wird zugleich europäische Außenpolitik glaubwürdiger, die Lastenteilung gerechter und die Atlantische Allianz stärker.

Neben der Politik der europäischen Einigung bleibt die transatlantische Zusammenarbeit im Rahmen der NATO tragender Pfeiler unserer Außenpolitik.

Dabei spielt die enge Partnerschaft und Freundschaft mit den Vereinigten Staaten und Kanada eine zentrale Rolle. Ihre verläßliche Mitwirkung in Europa bleibt auch in Zukunft für Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent von entscheidender Bedeutung.

Die NATO hat 50 Jahre lang erfolgreich Frieden und Stabilität in Europa gesichert. Dabei war sie stets mehr als eine bloße Zweckgemeinschaft. Sie stand und steht für gemeinsame Werte: für Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Das neue strategische Konzept der NATO trägt der gestiegenen Bedeutung Europas innerhalb des Bündnisses Rechnung. Es passt die NATO den neuen Realitäten in Europa und der Welt an. Konfliktvermeidung und Konfliktregelung werden zu Hauptaufgaben dieser neuen NATO.

Die Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns in das Bündnis besiegelt die von diesen Ländern gewünschte und von Deutschland unterstützte "Rückkehr nach Europa".

Die fortschreitende Öffnung des Bündnisses ist integraler Bestandteil eines umfassenden Ansatzes zur Stärkung von Sicherheit und Stabilität in ganz Europa.

Dabei bleibt es unsere Maxime, dass im Prozess der Öffnung der NATO keine neuen Gräben in Europa entstehen sollen. Eine dynamische und zukunftsorientierte Partnerschaft mit Russland sowie dessen enge Einbindung in die Verantwortung für die dauerhafte Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität in Europa sind für uns besonders wichtig. Das gilt auch für das Verhältnis zur Ukraine.

Bei der Gestaltung gesamteuropäischer Sicherheit müssen wir das Potential der OSZE auch in Zukunft nutzen und, wo möglich, weiterentwickeln.

Vor wenigen Tagen erst haben wir in Istanbul eine Sicherheitscharta der OSZE gezeichnet, die die Grundlagen einer umfassenden und unteilbaren Sicherheitsordnung zwischen Vancouver und Wladiwostok erweitert.

Sie markiert einen großen Fortschritt auf dem Weg zu einer "Kultur der Prävention", so wie sie der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, gefordert hat.

Die OSZE-Regeln werden allerdings ihre friedensstiftende Wirkung nur dann entfalten, wenn alle ihre Mitglieder sie anwenden.

Ich hoffe, dass der einmütige Appell aller Gipfel-Teilnehmer an Russland, den Krieg in Tschetschenien zu deeskalieren und eine politische Lösung anzustreben, Gehör findet.

Eine der größten Gefahren für die globale Sicherheit im 21. Jahrhundert geht von der Proliferation von Massenvernichtungswaffen aus. Über Jahre schien die nukleare Bedrohung wenn schon nicht gebannt, so doch gebändigt.

Die Atomtests in Indien und Pakistan sowie die Entwicklung weitreichender ballistischer Trägertechnologien sind ein schwerer Rückschlag für die Bemühungen um nukleare Nichtverbreitung und nukleare Abrüstung.

Ziel deutscher Außenpolitik bleibt ein weltweites Verbot aller Massenvernichtungswaffen.

Verlässliche Rahmenbedingungen für die Globalisierung zu schaffen, ist eine der großen Herausforderungen für die Staatengemeinschaft im 21. Jahrhundert.

Die Bundesregierung wird sich dieser Herausforderung stellen und das ihr Mögliche zur Vereinbarung allgemein anerkannter Standards - ich denke dabei insbesondere an Umwelt- und an soziale Standards - in den zuständigen internationalen Foren leisten.

Ich sehe mit Sorge, dass sich der Abstand zwischen entwickelten und sich entwickelnden Ländern mehr und mehr vergrößert. Niemand kann daran interessiert sein, wenn sich die Welt in Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer spaltet.

Aus dem Wohlstandsgefälle dürfen keine neuen Risiken für den Frieden entstehen. Die Länder der Dritten Welt brauchen auch in Zukunft unsere Hilfe. Vor allem Hilfe als Hilfe zur Selbsthilfe.

Für die Bewältigung der großen globalen Herausforderungen im nächsten Jahrhundert müssen wir dringend die Vereinten Nationen stärken.

Sie sind weltweit die einzige Plattform für die Formulierung und Durchsetzung einer internationalen Ordnungspolitik, die auf der Stärke des Rechts und nicht auf dem Recht des Stärkeren gründet.

Treibendes Motiv für unser multilaterales Engagement ist die Verpflichtung auf das Prinzip des friedlichen Interessenausgleichs.

Deutsche Außenpolitik setzt auf die friedliche Lösung politischer Konflikte. Deshalb engagieren wir uns innerhalb der EU auch für den Ausbau der nicht-militärischen Instrumente des Konfliktmanagements.

Der Einsatz militärischer Mittel, so wie im Kosovo erfolgt, ist für uns immer nur ultima ratio.

Für Sie, meine Damen und Herren, die Sie in Uniform oder Zivil Dienst in den Streitkräften und der Bundeswehrverwaltung leisten, stellt sich natürlich die Frage nach der künftigen Rolle der deutschen Streitkräfte im Rahmen unserer Außen- und Sicherheitspolitik.

Hierzu wird die Kommission "Zukunft der Bundeswehr" im nächsten Jahr ihre Vorschläge zu Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung vorlegen.

Der dabei angestrebte Dialog mit vielen gesellschaftlichen Gruppen und Kräften soll dazu dienen, die Neuausrichtung in der Gesellschaft dauerhaft tragfähig zu machen.

Ich könnte es mir jetzt sehr einfach machen und auf die noch nicht vorliegenden Ergebnisse der Kommission verweisen. Ohne Herrn Bundespräsident a. D. von Weizsäcker und seinem Team vorgreifen zu wollen, sind jedoch bereits heute bestimmte Eckwerte für die Neuausrichtung der Bundeswehr klar erkennbar.

Zwei Aspekte will ich mit Vorrang nennen:

Erstens: Militärische Sicherheitsvorsorge bleibt auch in absehbarer Zukunft für Deutschland unverzichtbar.

Und zweitens: Frieden, Sicherheit, Freiheit und Stabilität können in Zukunft weniger denn je ausschließlich militärisch definiert werden.

Der erweiterte Sicherheitsbegriff, der jeder modernen Sicherheitspolitik zu Grunde liegen muss, erfordert ein funktionales, kein primär geographisches Verständnis von Sicherheit.

Wir setzen diese Erkenntnis auf der Grundlage des Koalitionsvertrages um und geben dem Bundessicherheitsrat seine Rolle als Organ zur Koordinierung der deutschen Sicherheitspolitik in einem umfassenden Sinne zurück.

Deutschland muß auch in Zukunft über Streitkräfte verfügen, die nach Umfang, Qualität und Reaktionszeit zusammen mit unseren Verbündeten auch zu Einsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung fähig sein müssen - also "bündnisfähige" und - im Rahmen der Entwicklung europäischer Kapazitäten - "europafähige" Streitkräfte.

Dabei muss das Spektrum möglicher Einsätze der Bundeswehr in Zukunft von der Unterstützung bei Naturkatastrophen über einen Beitrag zur politischen Lagebeurteilung - im nationalen oder internationalen Rahmen - bis hin zu militärischen Optionen bei humanitären Einsätzen oder bei der Durchsetzung von Bündnisverpflichtungen reichen.

Dazu gilt es natürlich auch weiterhin, die bewährte Kooperation mit unseren Nachbarn und Verbündeten zu pflegen.

Die heutige Bundeswehr, so werden Sie mir sicher zustimmen, ist zwar einerseits für ihren Verteidigungsauftrag im Zentrum Europas gut gerüstet, andererseits hat aber der Einsatz auf dem Balkan die Bundeswehr an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit geführt.

Es gibt eindeutig Nachbesserungsbedarf.

Selbstverständlich muss dabei auch die Frage beantwortet werden, wie es mit der Finanzierung aussieht.

Hierzu muss ich Ihnen ganz klar sagen, dass an einem Grundtatbestand kein Weg vorbeiführt:

Deutschland muss auf dem Gebiet der Staatsfinanzen wieder handlungsfähig werden - deshalb kommen wir an der Konsolidierungspolitik im Rahmen des Zukunftsprogrammes der Bundesregierung, an den für das Haushaltsjahr 2000 beschlossenen Einsparungen, nicht vorbei.

Ich bin überzeugt, Rentner, Arbeitslose, auch weite Teile der Bevölkerung würden nicht verstehen, wenn für die Bundeswehr eine generelle Ausnahmeregelung getroffen worden wäre.

Immerhin wird ja den besonderen Belastungen der Bundeswehr, die ihr durch den Einsatz auf dem Balkan entstehen, Rechnung getragen.

Wir haben einen Schuldenberg von 1,5 Billionen DM. Der zweitgrößte Haushaltstitel nach dem Sozialhaushalt in Deutschland ist die Bedienung von Zinsen.

Angesichts von 82 Milliarden D-Mark Zinszahlungen jedes Jahr - das sind 150.000 DM in jeder Minute, wohlgemerkt ohne Tilgung - muss es Ziel jedes politisch Verantwortlichen in diesem Land sein, diese Schuldenlast nachhaltig zu senken, bis hin zu einem ausgeglichenen Haushalt.

Unsere Konsolidierungspolitik, für deren Unterstützung ich auch bei Ihnen werbe, ist nicht Selbstzweck, sondern unabdingbare Voraussetzung für die Wiedererlangung der staatlichen Handlungsfähigkeit und damit der Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft.

Die Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" wird kommendes Jahr ihre Empfehlungen vorlegen.

Deshalb kann niemand von uns heute guten Gewissens prognostizieren, wie hoch der genaue Finanzbedarf unserer Streitkräfte in Zukunft sein wird. Insofern sind zum jetzigen Zeitpunkt alle in der öffentlichen Diskussion genannten Zahlen spekulativ.

Erst wenn die Ergebnisse der Kommission vorliegen, werden Entscheidungen zu Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung der Bundeswehr anstehen.

Uns ist klar, dass die dann fällige Neuorientierung Geld kosten wird. Dies zeigt die Erfahrung unserer Verbündeten und Partner, die diesen Weg bereits gegangen sind.

Darüber hinaus ist es auch kein Geheimnis, dass innerhalb der Streitkräfte erheblicher Nachholbedarf im investiven Bereich besteht.

Es wird künftig aber auch darum gehen, das Geld intelligenter und wirtschaftlicher einzusetzen, Doppel- und Mehrfachentwicklungen zu vermeiden sowie über "Out-Sourcing" von Aufgaben nachzudenken.

Die Entwicklung der Europäischen Sicherheitspolitik fordert uns geradezu heraus, über die nationalen Grenzen hinweg zu prüfen, ob und wie wir Aufgaben und Kosten mit unseren Verbündeten teilen können.

Deshalb begrüße ich ausdrücklich das Signal des britisch-französischen Gipfels vom vergangenen Donnerstag.

Besonders freut es mich, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich morgen auf dem Gipfel in Paris eine Erklärung verabschieden wird, in der als eine konkrete Maßnahme im Rahmen der Schaffung europäischer militärischer Fähigkeiten der Aufbau eines "Europäischen Lufttransportkommandos" vorgeschlagen wird.

Gelegentlich höre ich, der Verteidigungshaushalt müsse deshalb erhöht werden, weil viele unserer NATO-Partner deutlich mehr Geld für ihre Sicherheitsvorsorge ausgäben und Deutschland im Vergleich der Verteidigungshaushalte der NATO-Partner an hinterer Stelle läge.

Meine Damen und Herren, dazu muß ich zunächst darauf hinweisen, dass ein Vergleich der Verteidigungshaushalte als einziger Maßstab dafür, was ein Staat für die Sicherheitsvorsorge ausgibt, viel zu kurz greift.

Sicherheits- und Stabilitätsvorsorge hat mehr als nur militärische Elemente.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die hohen Finanzaufwendungen Deutschlands im Zusammenhang mit der Auflösung der NVA, dem Abzug der russischen Truppen und dem Bau von Wohnungen für russische Soldaten in ihrem Heimatland.

War dies etwa kein wesentlicher Beitrag für die Stabilität und Sicherheit Europas?

Haben wir nicht Hunderttausende von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo in Deutschland aufgenommen?

Wir tragen wesentlich zum Balkan-Stabilitätspakt und zu den im Kosovo tätigen Missionen der Vereinten Nationen sowie der OSZE bei.

Der auf absehbare Zeit fortbestehende Zwang zum Sparen bedeutet jedoch in der Tat: Viel Wünschenswertes wird sich die Bundeswehr in nächster und in näherer Zukunft nicht unbedingt und nicht sofort leisten können.

Im Herbst 2000 wird die Bundesregierung festlegen, welche Vorschläge der Kommission sehr schnell umgesetzt werden können und welche auf längere Sicht angegangen werden müssen.

Dabei ist es unser fester Wille, dass erste Schlußfolgerungen aus der Arbeit der Kommission schon im Etat 2001 umgesetzt werden.

Wir werden innerhalb der Koalition und, falls irgend möglich, auch mit der Opposition gemeinsam die politischen Vorgaben zur Weiterentwicklung der Bundeswehr festlegen.

Dabei ist und bleibt unser festes Ziel, dass Deutschland auch in Zukunft über gut ausgebildete, funktionsfähige und einsatzbereite Streitkräfte verfügt.

Sind die politischen Vorgaben definiert, dann vertraue ich bei der Realisierung dieser Entscheidungen auf Ihren militärischen Sachverstand und Ihr berufliches Ethos.

Ich weiß, dass Sie diese politischen Vorgaben absolut loyal umsetzen werden.

Es wird bei Ihren Entscheidungen vorrangig nicht um Bewahren, sondern um Neugestaltung, nicht um Festhalten, sondern um Aufbruch gehen - und das vor dem Hintergrund einer sich auch weiterhin rasant verändernden Welt.

Wir stehen vor einer entscheidenden Weichenstellung deutscher Sicherheits-politik: Die aktuelle Situation kann durchaus verglichen werden mit der Situation in den 50er Jahren, als es darum ging, Deutschland verteidigungsfähig zu machen.

Wie damals so geht es auch heute darum, etwas Neues zu schaffen - die Bundeswehr der Zukunft kann und wird nicht mehr so aussehen, wie wir sie in den letzten 40 Jahren erlebt haben.

Deshalb fordere ich Sie dazu auf, meine Damen und Herren: Haben Sie den Mut, Überkommenes in Frage zu stellen - jeder an seinem Platz, jeder in seinem Verantwortungsbereich.

Es geht darum, eine Bundeswehr zu formen, die gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten auch in Zukunft ihren Auftrag erfüllen kann.

Wenn wir diese Aufgabe, meine sehr verehrten Damen und Herren, zusammen und entschlossen anpacken, werden wir auch erfolgreich sein.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihrer Tagung, Herr von Kirchbach, viel Erfolg.