Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 21.04.2004

Untertitel: "Die globale Epidemie HIV/AIDS bleibt eine der wirklich epochalen Herausforderungen, denen wir uns ausgesetzt sehen."
Anrede: Verehrter, lieber Herr Schrempp, sehr geehrter Herr Botschafter Holbrooke, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/93/640693/multi.htm


Eines ist bei dem, was Jürgen Schrempp gesagt hat, klar geworden: Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, so wichtig er ist, darf nicht dazu führen, die weiteren großen Herausforderungen, vor denen wir in unserer einen Welt stehen, zu verdrängen und Lösungsansätze zu vernachlässigen. Wenn ich von einer großen Herausforderung rede, meine ich in erster Linie das Thema HIV / AIDS. Man könnte - Bono weiß, worüber zu reden ist - in diesem Zusammenhang auch über die Schulden der Dritten Welt reden. Denn die Verschuldung der Dritten Welt hat mit Verelendung, mit Unterentwicklung, mit Hunger und - zwar nicht direkt, aber indirekt - mit dem Thema des heutigen Abends zu tun.

Wir werden uns in der internationalen Politik überlegen müssen, wofür wir Geld ausgeben. In den Parlamenten ist bedauerlicherweise für bestimmte Aufgaben Geld leichter zu mobilisieren als zum Beispiel für den Kampf gegen HIV / AIDS. Vielleicht können solche Veranstaltungen dazu beitragen, dass es nicht so bleibt. Ich jedenfalls würde mir das wünschen.

Armut, Hunger und die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen bedrohen das Leben und Überleben der Menschen auf allen Kontinenten. Dies nachhaltig zu bekämpfen, bleibt unsere gemeinsame Aufgabe. Der Zugang zu Bildung und Gesundheit ist als globales Menschenrecht längst nicht überall durchgesetzt. Die globale Epidemie HIV / AIDS bleibt - diesbezüglich stimme ich Jürgen Schrempp ohne Einschränkung zu - eine der wirklich epochalen Herausforderungen, denen wir uns ausgesetzt sehen.

Ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen: Weltweit sind heute über 40 Millionen Menschen mit dem AIDS-Virus infiziert. 3 Millionen Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer geworden. Es trifft überproportional Frauen und zunehmend junge Menschen.

Wer glaubt, das sei vor allen Dingen oder gar ausschließlich ein Problem Afrikas und deswegen könnten wir es hier in Europa verdrängen, der irrt. Wir müssen uns auch in unserem Land damit auseinander setzen. Das hat sicherlich anders zu erfolgen als bei der Bekämpfung dieser Seuche in Afrika. Lassen Sie mich hinzufügen: Nicht nur wir müssen dieses Problem zur Kenntnis nehmen, sondern auch unsere Freunde in Afrika müssen das tun.

AIDS ist eine menschliche Tragödie, die Leben auslöscht. Das muss und soll im Vordergrund stehen, ansonsten sind die gewaltigen Summen, die wir brauchen, um AIDS erfolgreich zu bekämpfen, nicht mobilisierbar. Es kommt aber darauf an zu verdeutlichen, dass in vielen Ländern und Regionen AIDS auch die Entwicklung und damit die Chancen auf ein besseres Leben nachhaltig behindert. Es ist also auch ein ökonomisches Problem. Wenn ich dies sage, will ich gar nicht von den humanen Fragestellungen ablenken. Man muss sich aber auch vergegenwärtigen, dass in Afrika südlich der Sahara das Pro-Kopf-Einkommen heute niedriger ist, als es noch vor vierzig Jahren der Fall war.

Um klar zu machen, wie eng der Zusammenhang zwischen diesen Entwicklungen einerseits und der Verelendung von Menschen und den daraus folgenden Handlungen andererseits ist, möchte ich darauf hinweisen: Die Lebenserwartung der Menschen in dieser Region beträgt gerade einmal 48 Jahre. Dieser Teufelskreis, der Teufelskreis aus Armut und Krankheit, könnte alle Erfolge, die mit enormen Anstrengungen gerade der Menschen in den besonders betroffenen Ländern in den letzten 20 Jahren erreicht worden sind, wieder zunichte machen. Wer wüsste das besser als Sie, Herr Wolfensohn, als jemand, der sich in den letzten Jahren um Entwicklung in einer Weise gekümmert hat, die ich wirklich für bewundernswert halte. Für Ihren Rat, aber auch für die Kritik, die Sie gelegentlich leisten, bin ich Ihnen persönlich sehr dankbar.

Meine Damen und Herren,

vor vier Jahren haben die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen in der Millenniums-Erklärung beschlossen, bis zum Jahre 2015 der weltweiten Verbreitung von HIV / AIDS Einhalt zu gebieten und alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Krankheit zurückzudrängen. Fast 150 Staats- und Regierungschefs haben sich auf der Millenniums-Generalversammlung der Vereinten Nationen diesem Ziel verpflichtet. Auch in Osteuropa nimmt die Zahl der Infizierten in bedrohlicher Weise zu. Die Europäische Union hat deswegen in der Erklärung von Dublin deutlich gemacht, dass wir als Union das Problem kennen und an der Lösung mitarbeiten. Gegenüber gelegentlich geäußerter Kritik will ich hier sehr deutlich machen: Wir haben als Bundesregierung die AIDS-Politik verstärkt. Wir stellen jährlich 300 Millionen Euro für die weltweite Bekämpfung bereit. Ebenfalls mit dem Thema HIV / AIDS - Bekämpfung hängt der Schuldenerlass, den wir für die Ärmsten der Armen beim Weltwirtschaftsgipfel in Köln beschlossen haben und bei dem wir uns weiterhin nachhaltig engagieren, zusammen.

Die Anstrengungen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene zeigen - es gehört dazu, dass man auch das sagt - erste Erfolge. Die Vereinten Nationen weisen auf drei Entwicklungen hin, die zwar vorsichtige Zuversicht, aber doch Zuversicht wecken:

Erstens. In Afrika engagieren sich immer mehr Regierungen im Kampf gegen AIDS. Meine Damen und Herren Botschaftern aus dieser Region, Ihre Regierungen verdrängen nicht das Problem und versuchen nicht, es gleichsam als ein Entwicklungsproblem darzustellen. Sondern sie nehmen mit uns zusammen den Kampf auf. Das ist wirklich ein Erfolg.

Ich will nicht über Einzelheiten reden, aber man kann feststellen, dass insgesamt bei den Regierungen in vielen Staaten Afrikas eine Veränderung der Haltung stattgefunden hat und dass das auch auf andere Bereiche, in denen AIDS wütet, ausgedehnt werden muss. Das ist eine der Aufgaben, die wir als verantwortliche Politikerinnen und Politiker haben. Wir wollen und werden sie wahrnehmen.

Zweitens. Für die Bekämpfung von HIV / AIDS werden in Entwicklungsländern heute erheblich mehr finanzielle Mittel eingesetzt als noch vor einigen Jahren. Das ist - ich will das hinzufügen - auch ein Erfolg der Nichtregierungsorganisationen, ein Erfolg der Zivilgesellschaft in den westlichen Ländern.

Drittens. Die Behandlung mit Medikamenten, die den Ausbruch der Immunschwächekrankheit verhindern können, ist besser, weil preiswerter geworden. Das Umdenken der Pharmaindustrie, das nicht zuletzt auf den Druck durch die Zivilgesellschaften zurückzuführen ist, ist aber auch dem unglaublichen Engagement von zwei Männern zu verdanken: von Kofi Annan und Bill Clinton. All das hat zu einer deutlichen Senkung der Behandlungskosten in vielen Ländern Afrikas geführt.

Die bescheidenen Erfolge reichen aber nicht aus. Wenn wir das Elend dieser Krankheit überwinden wollen, müssen wir einen umfassenden Ansatz verfolgen. Dazu gehören die Aufklärung der Menschen über die Infektionswege und über die Präventionsmöglichkeiten. Mit kulturellen Institutionen, die dem entgegenstehen, muss man ernsthaft, aber deutlich reden. Solange es keinen Impfstoff gibt, ist diese Form der Aufklärung der einzige Weg, die Ausbreitung von AIDS einzudämmen.

Wir brauchen zudem überall ein funktionierendes Gesundheitswesen, das zumindest eine Grundversorgung der AIDS-Kranken sicherstellen kann. Auch davon sind wir noch weit entfernt. Das müssen wir uns eingestehen.

Wir brauchen eine Bündelung aller Kräfte, und zwar in den betroffenen Ländern - man muss wohl sagen: in den hauptsächlich betroffenen Ländern; denn betroffen sind wir alle - ebenso wie bei den Gebern, bei den staatlichen Organisationen, bei den nichtstaatlichen Organisationen, aber eben auch bei der privaten Wirtschaft.

Meine Damen und Herren,

seit mehr als zehn Jahren führen private Unternehmen in besonders betroffenen Ländern Kampagnen durch, um ihre Belegschaften über HIV / AIDS aufzuklären. Aus den Anstrengungen einzelner Unternehmen ist eine wirkliche Bewegung der gesamten Wirtschaftswelt geworden, das, was wir zurecht "Global Business Coalition" gegen HIV und AIDS nennen.

Sie, lieber Jürgen Schrempp, haben diese Initiative mit angestoßen und sie in den zwei Jahren Ihrer Präsidentschaft zu einem wirklich weltweit geachteten Partner in der AIDS-Bekämpfung gemacht. Hierfür möchte ich Ihnen ein herzliches Dankeschön sagen. Gleicher Dank gebührt auch dem Präsidenten dieses Bündnisses, Ihnen, lieber Richard Holbrooke. Mit Ihrer Arbeit und Ihrer Führung haben Sie eine solide Basis geschaffen, um den Kampf gegen HIV / AIDS erfolgreich weiterzuführen.

Meine Damen und Herren,

ein Beispiel, das ich hervorheben möchte, zeigt, wie erfolgreich Ihre Arbeit ist. Vor zwei Jahren wurde DaimlerChrysler für das HIV / AIDS-Arbeitsplatzprogramm in Südafrika ausgezeichnet. Dieses Programm wurde mit Unterstützung der Bundesregierung in einer so genannten "Public-Private-Partnership" entwickelt. Es geht dabei darum, einerseits Aufklärungsarbeit zu betreiben, andererseits die medizinische Versorgung zu verbessern und Mittel zur Verfügung zu stellen, mit denen die Folgen einer Infektion zumindest gelindert werden können. Zusammen mit den vielen anderen Mitgliedern der Global Business Coalition wurden so Standards und Vorbilder für HIV / AIDS-Arbeitsplatzprogramme weltweit entwickelt. Der Erfolg dieser Programme wird in Zukunft weitere Unternehmen überzeugen - dessen bin ich mir sicher - , sich in ähnlicher Weise zu engagieren.

Der "Globale Fonds gegen AIDS, Malaria und Tuberkulose" ist ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen privatem und öffentlichem Sektor. Wir haben bis 2007 für diesen Fonds 300 Millionen Euro zugesagt. Der Fonds wurde erst vor zwei Jahren gegründet und hat bereits fast 5 Milliarden US-Dollar an Zusagen erhalten. Es ist inzwischen vorgesehen, dass die private Wirtschaft in strukturschwachen Ländern Mittel des Fonds für die AIDS-Bekämpfung in Anspruch nehmen kann.

Die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit hat für den morgigen Tag zu einer Veranstaltung eingeladen, um über die sich daraus ergebenden Möglichkeiten zu diskutieren. Das zeigt, wie eng und entschieden die Arbeit von der Bundesregierung - ich will gern die zuständige Ministerin Frau Wieczorek-Zeul nennen - , unterstützt wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt eine gemeinsame Verantwortung. Man redet häufig von der "einen Welt". Bezogen auf die Probleme, über die wir heute reden, gibt es sie wirklich, weil sie für die vielen Betroffenen existenziell spürbar wird. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die hauptsächlich betroffenen Länder nicht allein lassen.

Viele von denjenigen, die heute Abend hier sind, agieren als "Global Player" in der Weltwirtschaft. Ich finde, dass sich auch und gerade an diesen Beispielen zeigt, dass es Unternehmen und Unternehmensführungen gibt, die nicht nur betriebswirtschaftliche Verantwortung - diese haben sie auch - für das Gedeihen ihrer Unternehmen verspüren, sondern die auch wissen, dass Wirtschaft nicht Selbstzweck ist, sondern dass damit auch eine humanitäre Verantwortung verbunden ist. Wo könnte sie aktiver gepflegt und deutlich gemacht werden, als im Kampf gegen Seuchen wie AIDS!

Sie haben sich entschlossen, Partner in dieser weltweiten Verantwortungsgemeinschaft zu sein. Wir alle, die wir das unterstützen, haben guten Grund, Ihnen dafür zu danken. Das will ich sehr gern tun. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für die weitere Arbeit und für die weitere Zusammenarbeit.