Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 27.04.2004
Untertitel: Die Eröffnung der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer sei ein gutes Zeichen, sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 27. April in Köln. Es gebe türkische Unternehmen, die jedes Jahr einen Umsatz von 30 Milliarden Euro hier in Deutschland erzielten.
Anrede: Verehrter Herr Ministerpräsident, lieber Freund Deutschlands, verehrter Herr Ministerpräsident Steinbrück, meine sehr verehrten Minister, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/46/643446/multi.htm
Herr Präsident Sahin!
Zwei Menschen, die heute hier sind, stehen in besonderer Weise für die Gegenwart und für die Zukunft der Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland. Wenn ich mich der Gegenwart zuwende, meine ich den türkischstämmigen Unternehmer Öger, der als Deutscher auf der Liste der Sozialdemokraten für das Europäische Parlament kandidiert. Was könnte wohl besser die gegenwärtigen Beziehungen ausdrücken, die wir zwischen der Türkei und Deutschland haben, was könnte klarer auf den erreichten Stand der Integration hinweisen, als genau diese interessante, vor einem oder zwei Jahrzehnte kaum denkbare, persönliche Geschichte? Aber es ist zugleich die Geschichte der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern und zugleich ein Beispiel für die Integrationsfortschritte, die wir miteinander erreicht haben.
Wenn ich mich der Zukunft zuwende, meine ich die junge Dame, die in brillantem Deutsch und, wie ich annehme, in ebenso brillantem Türkisch moderiert. Das hat mit der Zukunft der Beziehungen der beiden Länder zu tun, denn diese Menschen werden in Zukunft die kulturellen, die politischen und die ökonomischen Mittler nach Innen wie in den bilateralen Beziehungen sein. Wir sollten alles daran setzen, eine solche gute Zukunft durch eine verbesserte Integration und durch eine möglichst zureichende Ausbildung der mehr als zwei Millionen Türken, die, teilweise mit deutscher Staatsangehörigkeit, hier leben, zu ermöglichen. Wer behauptete, dieser Integrationsprozess sei in erster Linie eine Last, der irrt gründlich. Dieser ist in erster Linie eine Chance für unsere beiden Länder und für unsere Beziehungen. Wir würden einen riesigen Fehler machen, wenn wir Schwierigkeiten, die es gibt - es ist doch gar keine Frage, dass es sie gibt - , überbewerteten und diese enorme Chance nach innen wie nach außen damit missachteten. Dass es die Türkisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer jetzt gibt, ist ebenso ein gutes Zeichen. Man muss immer wieder der Öffentlichkeit in unserem Land deutlich machen: Es gibt inzwischen türkische Unternehmen, die jedes Jahr einen Umsatz von 30 Milliarden Euro hier in Deutschland - vor allem in Nordrhein-Westfalen - erzielen. Diese Unternehmen - es sind über 60.000 - beschäftigen inzwischen mehr als 350.000 Menschen, keineswegs nur Türkinnen und Türken, sondern auch deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Herr Ministerpräsident Erdogan, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass auch die Türkei aus zwei Gründen eine Chance für Europa ist. Erstens aus ökonomischen Gründen. Die Türkei verfügt über einen Markt von rund 70 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die überwiegend jung, sehr lernbegierig und gut ausgebildet sind, und zwar nicht zuletzt auf deutschen höheren und höchsten Schulen. Damit verfügt sie natürlich auch über eine junge Generation, die etwas in diesem Land und mit diesem Land erreichen will und die auch Garant für wirtschaftlichen Erfolg sein kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Dynamik, wenn wir jetzt keine Fehler machen, eine Chance für Europa ist. Für Deutschland ist das allemal auch eine Chance, denn wir sind bereits jetzt füreinander Partner Nummer eins im Handel und in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Ich bin überzeugt: Wir sind erst am Anfang dieser enormen Möglichkeiten.
Zweitens ist die Türkei aus politischen Gründen eine Chance für Europa. Wir reden in Deutschland über die Frage, ob wir Verhandlungen für einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union aufnehmen und darüber am Ende des Jahres im Rat der Europäischen Union positiv entscheiden oder nicht. Meine Meinung ist klar: Es gibt zwei Gründe, warum man eine positive Entscheidung treffen muss, wenn die Voraussetzungen stimmen. Der eine Grund besteht in der Tatsache - und man kann das nachlesen; gelegentlich wünsche ich mir lesefähige Menschen in meiner Opposition - , dass mit dem Assoziierungsabkommen aus dem Jahre 1963 und dann jedes Jahr wieder der Türkei versprochen worden ist: Wenn ihr die politischen Beitrittskriterien erfüllt, die in Kopenhagen in den Verträgen festgelegt worden sind - Unabhängigkeit der Gerichte, klare Verantwortlichkeit von Parlament und Regierung und Unabhängigkeit vom Militär, Achtung der Menschenrechte und der Minderheiten, Religionsfreiheit - , dann werden Beitrittsverhandlungen aufgenommen. 40 Jahre lang hat man das der türkischen Regierung jedes Jahr wieder aus Deutschland versprochen, und zwar unabhängig von der Farbe der Regierung. Zuletzt hat dies mein Vorgänger 1997 getan. Wenn man eine solche Politik macht und wenn man redlich miteinander umgeht, kann man sein Wort nicht einfach brechen. Das hat nichts mehr mit Verlässlichkeit in der internationalen Politik zu tun. Es gibt einen zweiten Grund - Ministerpräsident Erdogan hat darauf hingewiesen - , der mit Sicherheit für Europa und für Deutschland zusammenhängt. Wir müssen nur auf die Region des Nahen und Mittleren Osten blicken. Egal, wie man zum Irak-Krieg stand: Wir haben jetzt als Staatengemeinschaft miteinander die Aufgabe, für Demokratie in diesem Land und für Stabilität in der ganzen Region einzutreten. Aber wäre es nicht ein unglaublicher Sicherheitszuwachs für Europa, für Deutschland, wenn es in der Türkei gelänge, einen nicht aggressiven, einen nicht fundamentalistischen Islam mit dem zu verbinden, was wir die Wertvorstellungen der europäischen Aufklärung nennen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, man muss sich mit der Frage auseinander setzen, ob die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfüllt. Wir werden das bis zum Dezember 2004 tun müssen, wenn der Europäische Rat entscheidet. Nun hat sich die türkische Regierung, gestützt auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, auf einen Weg gemacht, das durchzusetzen, was die Kopenhagener Kriterien abverlangen. Das ist ein steiniger und beschwerlicher Weg. Aber die beiden letzten Reformpakete, die im Parlament durchgesetzt worden sind, zeigen, dass der Weg in die richtige Richtung führt, nämlich in die Richtung der Realisierung der Kopenhagener Kriterien. Ich bin fest davon überzeugt, dass der beschrittene Weg fortgesetzt wird. Ich will Ihnen ein aktuelles Beispiel nennen. Es hat in den letzten Tagen eine Entscheidung eines Berufungsgerichts gegeben, welche ein altes Urteil gegen eine kurdische Politikerin bedauerlicherweise bestätigt hat. Alle haben gesagt: Das wird schwierig für die Frage der Realisierung der Kriterien. Nun möchte ich Ihnen einmal vorlesen, wie die türkische Regierung reagiert hat. Da meldet eben AFP, die türkische Regierung wolle nach den Worten von Außenminister Abdullah Gül mit einer Verfassungsänderung die Freilassung der Kurden-Politikerin Leyla Zana und drei weiterer ehemaliger Abgeordneter erreichen."Eine kleine Änderung der Verfassung wird sicherstellen, dass sie frei kommen."
Meine Damen und Herren, dieses Beispiel, das ich aus guten Gründen zitiert habe, zeigt, dass man nicht nur auf dem Papier die Kopenhagener Kriterien realisieren will und wird - da bin ich guter Hoffnung - , sondern auch und gerade in der Staatspraxis. Nicht das Papier, sondern die Praxis ist ja das Entscheidende für die Menschen. Ich möchte noch ein zweites Beispiel nennen. Einer der großen Konflikte war bislang die Zypern-Frage. Über sehr lange Zeit ist unterstellt worden, dass die Wiedervereinigung der Insel und die Integration der wiedervereinigten Insel in die Europäische Union in erster Linie an der Türkei scheitern würde. Nun muss man sich die Ergebnisse der vergangenen Tage anschauen. VN-Generalsekretär Kofi Annan hat einen rationalen Plan vorgelegt, der zur Integration eines wiedervereinigten Zypern in die EU hätte führen können. Viele haben gefragt: Ob das wohl an der Türkei scheitert? Über die Frage, dass es an der anderen Seite scheitern könnte, ist wenig geschrieben und wenig nachgedacht worden. Dann hat Ministerpräsident Erdogan - ich weiß das aus unserer Begegnung bei meinem letzten Besuch in der Türkei - immer wieder deutlich gemacht: Wir werden dafür sorgen, dass es an uns nicht scheitert. Meine Damen und Herren, das Ergebnis ist eindeutig. Die wünschenswerte Einheit des Landes und damit die Integration eines vereinten Zypern in die EU ist nicht an den türkischen, sondern an den griechischen Zyprioten gescheitert. Wie man vor diesem Hintergrund sagen kann, die Entscheidung in Zypern werfe einen Schatten auf den Beitrittswunsch der Türkei, was in der deutschen Politik geschehen ist, verstehe ich nun wirklich nicht. Wenn sich jemand bemüht hat, eine vernünftige Entscheidung herbeizuführen, dann war es der türkische Ministerpräsident, dann waren es die türkischen Zyprioten.
Meine Damen und Herren, mir scheint also, dass wenig dafür spricht, dass die Kopenhagener Kriterien auf dem Papier und vor allem in der Praxis am Ende des Jahres nicht so erfüllt werden könnten, dass eine positive Entscheidung möglich ist. Die EU-Kommission wird den Bericht vorlegen, nach dem dann der Europäische Rat zu entscheiden hat. Ich will Ihnen hier sehr deutlich angesichts der geschilderten Ereignisse sagen, Herr Ministerpräsident: Sie können sich auf Deutschlands Bereitschaft verlassen, Wort zu halten. Vielleicht ist klar geworden, dass dies nicht nur eine Geste der Freundschaft ist. Auch diese hätten Sie verdient. Aber darum geht es ja in der internationalen Politik nicht in erster Linie. Es geht in erster Linie um Interessen, die Sie haben und die wir haben. Sie haben aus den Gründen, die Sie genannt haben, das Interesse, in einem sicher langwierigen Verhandlungsprozess Mitglied zu werden. Wir haben das wirtschaftliche, aber vor allen Dingen das sicherheitspolitische Interesse, dass das Experiment, für das Sie stehen, gelingt. Es wäre ein enormer Zuwachs an Sicherheit für Europa und damit auch für Deutschland.
Wir haben in der türkisch-deutschen Geschichte Zeiten erlebt, in denen es Schwierigkeiten gab. Wer wollte das bestreiten? Aber zumeist haben die Beziehungen beiden Seiten genutzt - nicht nur politisch, ökonomisch, sondern auch kulturell. Hieraus ist großes Vertrauen entstanden. Dieses Vertrauen wird heute mit der Gründung der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer zu Recht gefeiert. Das ist auch der Grund, Herr Präsident Sahin, warum ich Ihnen und Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern, aber auch allen anderen, die sich in der Handelskammer engagieren, alles erdenklich Gute wünsche. Ich bin fest davon überzeugt, dass Sie einen großen Beitrag im Interesse der beiden Länder und im Interesse der Menschen leisten. Sie leisten diesen Beitrag nicht nur in den bilateralen Beziehungen, sondern auch im Interesse der Integration der jeweiligen Minderheiten, die in unseren Ländern leben und die ein glückliches Leben haben sollen. In diesem Sinne alles erdenklich Gute für Ihre Arbeit!