Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 28.04.2004

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/41/645441/multi.htm


Es ist eine Freude und für uns alle eine besondere Ehre, Sie hier in Berlin zur Antisemitismuskonferenz der OSZE begrüßen zu dürfen.

Die Bundesregierung hat Sie alle zu dieser Konferenz nach Berlin eingeladen - in unsere Haupstadt, in die Stadt, in der vor beinahe 70 Jahren nicht weit von hier die Vernichtung des europäischen Judentums beschlossen, geplant und dann ins Werk gesetzt wurde. Wir wollen uns als Gastgeber zur historischen und moralischen Verantwortung Deutschlands für die Shoa bekennen. Die Erinnerung an dieses monströse Verbrechen gegen die Menschheit wird die deutsche Politik auch in Zukunft bestimmen.

Gerade vor diesem Hintergrund bin ich beeindruckt und bewegt davon, wie zahlreich Sie unserer Einladung nach Berlin, in das wiedervereinigte, demokratische Berlin, gefolgt sind. Und es sind nicht nur Vertreterinnen und Vertreter von Staaten und Regierungen gekommen, sondern vor allem auch Verbände Gruppen und Initiativen aus der Zivilgesellschaft, Mitglieder der Parlamente und Journalisten.

Sie alle, Regierungsvertreter ebenso wie Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen aus dem ganzen OSZE-Raum, gestalten diese Konferenz gemeinsam und machen damit deutlich, dass Antisemitismus eben nicht ein Problem der Anderen - ein Problem anderer Länder, anderer Zeiten oder anderer Kulturen - ist, sondern dass es uns alle angeht.

Wir, die Teilnehmerstaaten der OSZE, bekennen uns mit dieser Konferenz dazu, dass wir alle die Verantwortung dafür tragen, den Antisemitismus in unseren Staaten gemeinsam zu bekämpfen und zu überwinden. Das ist die erste, wichtige Botschaft dieser Konferenz.

Antisemitismus ist eine Bedrohung, die uns alle angeht - nicht nur die Regierungen. Und deswegen ist es so entscheidend, dass diese Konferenz offen ist für die Beteiligung der Zivilgesellschaft. Wir können das Engagement der zivilgesellschaftlichen Gruppen und Initiativen in diesen Räumen sehen, ihre Präsentationen, ihre Ausstellungen, den regen Austausch untereinander.

Sie prägen ganz entscheidend den Charakter dieser Konferenz. Ich bin überzeugt, dass viele Kontakte, die hier geknüpft, viele Gespräche, die hier begonnen werden, in anderem Rahmen weitergeführt und - sehr wichtig - praktische, positive Konsequenzen haben werden.

Es freut mich in diesem Kontext besonders, dass zahlreiche jüdische Verbände und die verschiedensten Gruppen und Initiativen diese Konferenz zum Anlass genommen haben, in diesen Tagen eigene Diskussionsrunden, Filmvorführungen, Konzerte und vieles mehr in Berlin zu organisieren.

Denn in diesen vielfältigen Veranstaltungen wird die zweite Botschaft dieser Konferenz ganz deutlich: Nicht nur Staaten, Regierungen und Parlamente stehen in der Verantwortung einer wirksamen Bekämpfung des Antisemitismus. Die Ächtung des Antisemitismus ist auch und gerade ein Anliegen und eine Aufgabe der Zivilgesellschaft, ja eines jeden Einzelnen.

Aber was heißt Ächtung des Antisemitismus? Muss man sich mit dieser Frage heute noch beschäftigen?

Ich meine, ja - und das ist meine feste Überzeugung - ja, das muss man. Solange sich jüdische Menschen, Jüdinnen und Juden in unseren Ländern nicht sicher, nicht wirklich zu Hause fühlen, solange Synagogen, jüdische Schulen und Kindergärten von der Polizei geschützt werden müssen, solange Politiker mit antisemitischen Ressentiments auf Stimmenfang gehen - solange müssen wir uns der Bedrohung durch den Antisemitismus gemeinsam stellen.

Und wie wir in unseren Staaten mit Minderheiten - und zuallererst mit Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens - umgehen, sagt sehr viel über uns selbst. Wie willkommen, wie heimisch und sicher sich jüdische Menschen bei uns fühlen, ist ein entscheidender Gradmesser dafür, wie es um unsere Demokratien bestellt ist.

Denn jeder tätliche Angriff gegen einen jüdischen Bürger, jede Schändung eines jüdischen Friedhofs, ja jede einzelne antisemitische Äußerung bedroht nicht nur jüdische Menschen und die jüdischen Gemeinschaften, in Deutschland und anderswo, sondern auch und gerade unsere offene und demokratische Gesellschaft als ganzes.

Der Antisemitismus ist eine Kampfansage an die Grundwerte unserer Gesellschaft als solche, die dem Respekt für jeden einzelnen Menschen, die der Achtung und dem Schutz der Menschenwürde verpflichtet ist. Der Einsatz gegen jede Form von Antisemitismus ist daher zugleich auch ein Einsatz für eine stabile Demokratie, für eine Demokratie, die nicht ausgrenzt, sondern integriert. Die aber auch Antisemiten energisch entgegentritt und Antisemitismus niemals verharmlost oder gar toleriert.

Das ist uns gerade hier in Deutschland, mit unserer Geschichte, besonders bewusst. Unsere Geschichte hat uns die Verpflichtung auferlegt, es nie wieder dazu kommen zu lassen, dass Antisemiten jüdische Menschen bedrohen, ohne dass die Mehrheit aufsteht, sich entschieden dagegen wendet und ihre jüdischen Mitbürger und deren Gemeinden energisch verteidigt. Diese Verpflichtung nehmen wir, nicht nur als Bundesregierung, als Parlament, sondern auch als Gesellschaft, sehr ernst.

Wir wollen mit dieser Konferenz gemeinsam ein Zeichen setzen - ein Zeichen der Erinnerung an die Geschichte, der Wachsamkeit in der Gegenwart und der Verantwortung für die Zukunft.

Vergessen wir aber nicht: Die besten Einsichten nützen wenig. Sie müssen in politisches Handeln umgesetzt werden. Ich wünsche mir deshalb, dass wir diese Konferenz mit einem konkreten Ergebnis und mit einer klaren Botschaft abschließen werden.

Diese Botschaft sollte lauten:

dass wir jede Form des Antisemitismus verurteilen als eine Verletzung der Würde des Menschen, dass wir Instrumente schaffen, um antisemitische Übergriffe im OSZE-Raum zu erfassen und zu beobachten, um dann entsprechend dagegen vorgehen zu können, und dass wir uns gemeinsam politisch dazu verpflichten, uns öffentlich und entschlossen mit allen Formen des Antisemitismus auseinanderzusetzen. Dies wird uns alle binden. Jeder Staat und jeder Bürger im OSZE-Raum soll wissen, dass er sich im Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens daran messen lassen muss.

Wir wollen damit Maßstäbe setzen für unser Handeln. Und wir wollen den jüdischen Gemeinden in unseren Ländern zeigen, dass ihre Sorge um ihre Sicherheit und ihre Zukunft in unserer Mitte unser aller Sorge ist - unser aller Sorge und eine Grundsatzfrage unserer Demokratien.

Vielen Dank!