Redner(in): Christina Weiss
Datum: 29.04.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss spricht zum europäischen Einigungsprozess bei der vom Goethe-Institut, der Robert-Bosch-Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung veranstalteten Konferenz "Eurovisionen" am 29. April 2004 im Kronprinzenpalais in Berlin.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/83/645283/multi.htm


wir haben keine bessere Antwort auf das mörderische 20. Jahrhundert als die europäische Vereinigung. Es geht um den Versuch, die Zukunft gemeinsam, friedlich und in gegenseitiger Achtung zu gestalten. In der westlichen Hälfte Europas ist dies in den letzten fünf Jahrzehnten gelungen.

Jetzt müssen wir die Erfolgsgeschichte des europäischen Vereinigungsprozesses im Osten fortschreiben. Das ist unsere Aufgabe.

Mit Förderprogrammen allein ist das nicht zu leisten. Sie können die Rahmenbedingungen bereitstellen, sie können organisatorische und materielle Unterstützung gewähren - aber ohne ein Wollen, ohne politische Passion, ohne humanistische Motivation für diesen Vereinigungsprozess bleibt er instabil.

Wir brauchen einen Wahrnehmungssprung, einen Mentalitätswandel, wir brauchen ein verändertes, ein erweitertes kulturelles Bewusstsein. Dann - und nur dann - werden wir die Herausforderungen und Chancen des neuen Europa begreifen, sie annehmen und zu unserem gemeinsamen Nutzen gestalten können.

Ohne Arbeit an der wechselseitigen Verständigung kann dies nicht gelingen. Unsere Nachbarn sind uns unbekannt geworden. Daran ändern auch all die publizistischen Initiativen nichts, die wir in den letzten Wochen erfreut registrierten. Wir wissen zu wenig über die Nachbarn; wir sprechen ihre Sprachen nicht.

Ein halbes Jahrhundert Nachkriegsgeschichte hat die Spuren der gemeinsamen Geschichte verblassen lassen.

Zu unterschiedlich waren die prägenden Erfahrungen, die materiellen und sozialen Lebensbedingungen, zu ungleich verteilt das Maß an Glück und Leid, zu unterschiedlich, oft konträr die utopischen Hoffnungen und Träume.

Auf beiden Seiten wissen nur noch wenige, was uns einst verbunden hat: Dabei muss man kein Historiker sein, um in Polen oder in den baltischen Ländern, in der Ukraine oder in Ungarn, die Spuren eines untergegangenen Kulturraums zu entdecken, der einmal Frankfurt am Main und Tallinn, Berlin und Lemberg umschloss.

Die Architektur ist nur der sichtbarste Ausdruck des kulturellen Raums, den wir Europäer einmal gemeinsam bewohnt haben. Leipzig, Görlitz, Prag, Riga - wie schön und anziehend sind diese Städte wieder geworden.

Welche Chance, in ihnen die vergessenen Traditionen wieder aufzudecken, Traditionen der Aufklärung und der Moderne, die nicht mehr präsent sind. Denken wir an den künstlerischen Aufbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der ganz Europa erfasste, auch die östlichen Peripherien.

Dieser gemeinsame kulturelle Raum, in dem die jüdische Bevölkerung eine zentrale Vermittlerrolle, eine Brückenfunktion einnahm, ist durch den Nationalsozialismus, die Shoah wie auch durch Stalins Terror vernichtet worden.

In gewisser Weise ist in Osteuropa der Zweite Weltkrieg gerade erst zu Ende gegangen. Die Hinterlassenschaften der Sowjetherrschaft sind heute noch überall sichtbar: vielfach eine zerstörte Natur und Menschen, denen zwar Arbeit, Kleidung, Wohnunggegeben, Freiheit und Selbstverantwortung jedoch genommen wurden.

Kein Marshallplan, kein Wirtschaftswunder sorgte - wie bei uns - für Wiederaufbau und Prosperität, für den Luxus des Verdrängens und Entronnenseins.

Die Nachkriegszeit gestaltete sich ungleich härter, der Aufbau erfolgte praktisch aus dem Nichts. Die "Sowjetisierung" ließ Tschechen und Slowaken, Ungarn und Rumänen, Esten und Letten, Polen und Litauer hinter einem Vorhang verschwinden.

Sie verwandelten sich für uns in "Ostblock" -Bewohner und in vermeintliche Brudervölker. Fortan stand das Trennende zwischen ihnen und uns im Vordergrund, nicht das Gemeinsame. Es hätte nicht so kommen müssen - wir hätten es besser wissen können.

Wenn wir wirklich wollen, dass eine transnationale, europäische Identität heranwächst, dann müssen wir einer "Osterweiterung des europäischen Bewusstseins" das Wort reden. Schon einmal haben die Intellektuellen Mitteleuropas sich als die eigentlichen und offensiven Treuhänder der europäischen Idee erwiesen: als dertschechische Exilschriftsteller Milan Kundera 1983, unterstützt von dem polnischen Nobelpreisträger Czeslaw Milosz und dem ungarischen Autor György Konrád, seine Thesen über die "Tragödie Mitteleuropas" veröffentlichte und damit Einspruch erhob gegen die Eingemeindung Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei in den Osten, die jeder kulturellen Zugehörigkeit Hohn spräche.

Im friedensbewegten Westdeutschland, das konzentriert war auf die Kritik der amerikanischen Rüstungspolitik, wurde dieses "Heimweh nach Europa" nicht verstanden. Für den Westen gehörten diese Länder zum "Ostblock", die Ostdeutschen blickten zum großen Teil ebenfalls westwärts, die Mehrheit wusste es nicht besser. Nutzen wir heute, jetzt, die Chance dazuzulernen! Inzwischen erlebt "Mitteleuropa" als Inbegriff kultureller Vielfalt eine Renaissance.

Vielleicht, so die Hoffnung des britisch-ungarischen Historikers George Schöpflin, kommt die "nächste kulturelle Vision" sogar aus Mitteleuropa. Manche Anzeichen sprechen dafür: Die Polen, Ungarn, Slowaken, Tschechen, kehren nach Europa zurück, das sie -ihrem eigenen Selbstverständnis nach - nieverlassen haben. Und sie entdecken es neu.

Die Grenzen der Union werden übermorgen weit nach Osten verschoben, bis an den Bug.

Doch kartographische Grenzen sagen nicht viel über die europäische Identität aus, wie die vielfältigen geographischen und politischen Definitionsmöglichkeiten zeigen.

Nicht von ungefähr kommen wir stets auf zwei Faktoren zurück, wenn wir den Begriff "Europa" zu definieren versuchen: die gemeinsamen Werte - und die Kultur. Und so soll auch die künftige Verfassung in dem Bewusstsein entstehen, dass Europas "Bewohner im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft, schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen" des Kontinents.

Eine äußere Form ist damit gegeben, doch ohne Seele ist ein Lebewesen, so heißt es bei Aristoteles, kein Ganzes. Eine europäische Verfassung ist ein grandioses Projekt - aber wir müssen es mit Leben zu füllen. Und dazu brauchen wir Kultur. Sie erst schafft eine europäische Identität.

Das bedeutet, Widerspruch und Vielstimmigkeit zuzulassen, die regionalen Kulturen zu achten, einen Wertekanon aufzustellen, in dem Demokratie und Freiheit verankert sind.

Identität entsteht nur, wenn es uns gelingt, unsere Wahrnehmung zu verändern und uns darüber klar zu werden, dass Europa nicht nur ein geographischer Begriff, sondern vor allem ein geistiger, ein kultureller Raum ist.

Um ihre Zukunft "in Vielfalt geeint" zu gestalten, müssen sich die Völker Europas ihrer Geschichte erinnern, der gemeinsamen wie der trennenden. Deshalb bin ich froh, dass es den Kulturministern aus sechs Ländern noch vor der EU-Erweiterung gelungen ist, ein "Europäisches Netzwerk gegen Zwangsmigration und Vertreibung" zu gründen.

Dieses Netzwerk soll die vielen Geschichtswerkstätten, Museen, Archive und Denkmäler in ganz Europa miteinander verbinden. Wir wollten auf die interessengeleiteten Aktionen mit einer aufrichtigen europäischen Initiative antworten und wir wollten verdeutlichen, dass es nicht reicht, das nationale Gedenken zu organisieren, sondern die europäische Forschung über dieses Thema voranzubringen. Wir wissen, was das bedeutet, welche Bürde wir damit übernommen haben. Ich glaube aber fest daran, dass die europäische Einigung nur gelingen kann, wenn wir die Belastungen, die Traumata der Vergangenheit benennen und aufarbeiten. Weinen bildet nicht, sagt Primo Levi. In diesem Sinne ist es an uns, mit der Aufklärung zu beginnen.

Überall in Osteuropa stößt man auf die Spuren der deutschen Schuld, aber auch auf die der stalinistischen Verbrechen -Geschichten, über die die Betroffenen selbst lange Zeit nicht offen sprechen durften, Geschichten, von denen wir viel zu wenig wissen.

Alles was wir geworden sind, was wir verheert und zerstört und wieder aufgebaut haben, was wir erfunden, geschaffen, erforscht haben, die Zeugnisse des Glaubens und der Kunst, vergessene Schätze und verbrannte Trümmer - alles lagert in dem Boden, auf dem wir das kühne Projekt der europäischen Einheit errichten. Wenn wir uns das bewusst machen, wenn wir bereit sind, sowohl die "vergessenen Schätze" als auch die "verbrannten Trümmer" zu heben, dann werden wir auch die Frage beantworten können, wo Europa aufhört: dort wo die Grenzen unserer gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung verlaufen.

Wenn die Binnengrenzen gefallen sind, stehen wir vor einer dreifachen Herausforderung: Wir müssen erstens: - die mentalen Gegensätze zwischen West und Ost durch gegenseitiges Verständnis zu überwinden suchen und die Vielfalt der Sprachen und Kulturen der östlichen Beitrittsländer als Bereicherung annehmen und aktiv zu fördern.

Zweitens sollen, müssen wir: - die traditionell intensiven bilateralen Beziehungen zu den östlichen Nachbarstaaten auf eine neue Basis stellen, indem wir - vor allem dort, wo die Prägung durch die deutsche Geschichte besonders stark war und ist - die gemeinsame, manchmal auch schwere Erinnerungsarbeit um die Suche nach einer gemeinsamen Zukunft erweitern.

Und nicht zuletzt geht es darum: die neuen europäischen Außengrenzen zu Russland, Weißrussland und der Ukraine sowie in Südosteuropa nicht zu einer neuen Teilungslinie werden zu lassen. Niemand darf die gewaltigen Probleme unterschätzen, die uns die Erweiterung der Union ins europäische Haus bringen wird.

Trotzdem freuen wir uns darüber, dass die zerrissenen Fäden der einstigen europäischen Textur zwischen Ost und West nach und nach wieder neu oder noch fester geknüpft werden: durch Städte- und Schulpartnerschaften, durch Schüleraustausch, Chor- und Orchesterfreizeiten, Laientheater, Kirchenpatenschaften, an mehrsprachigen Universitäten wie der Viadrina in Frankfurt / Oder oder der Neisse-Universität Zittau / Görlitz, Wroclaw und Liberec, an den Wissenschaftskollegien in Budapest und Bukarest, auf Musikfestivals, Theatertreffen, Buchmessen.

Das sind enorme Anstrengungen, in die Geld, Arbeit, Phantasie und Energie fließen. Sie werden vorangetrieben von der Beharrlichkeit einer engagierten Minderheit. Dabei darf es nicht bleiben. Europa ist eine Herausforderung für uns alle und unser aller Aufgabe.

Der interkulturelle Dialog, wie er bereits auf so vielen Ebenen tagtäglich realisiert wird, braucht die Unterstützung einer weit in die Zukunft denkenden Politik. Denn Kultur ist ein Langzeitprojekt. Nicht der Euro, sondern das Sprechen und Zuhören, Fragen und Erklären sind das Lebenselement unserer europäischen Gemeinschaft. Wir brauchen ein anderes "Marketing" für die europäische Idee, damit sie ausstrahlen und wirken kann. Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichtum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen ", sagte Wilhelm von Humboldt. Die erweiterte sprachliche Vielfalt Europas wird die Menschen und ihre Sprachen bereichern. Lebenslanges Lernen wird selbstverständlich werden. Länderübergreifende Projekte und Städtepartnerschaften werden das Lernen erleichtern. Übersetzungen müssen angeregt und gefördert werden, damit wir uns nicht um den Reichtum großer Literatur in kleinen Sprachen bringen.

Europa kann nur "von unten" zusammen wachsen: bürgerschaftliches Engagement in den Städten und Regionen muss angeregt und gefördert werden. Von der Einrichtung eines Heimatmuseums bis zur Renovierung ganzer Straßenzüge sichern diese Initiativen nicht nur die kulturelle Substanz, sondern schaffen auch Beschäftigung. Denken wir an die gesellschaftspolitische und stabilisierende Bedeutung von Kulturprojekten in den deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenzregionen. Es ist eine wunderschöne Geste, wenn die Staatlichen Museen zu Berlin Staatsbürger der neuen Mitgliedsländer Anfang Mai zu einem freien Besuch in ihre sechzehn Häuser einladen. Außerdem bin ich sehr froh, dass die Kulturstiftung des Bundes die Chancen des neuen Europa erkannt hat. Wir arbeiten intensiv an der Vorbereitung Deutsch-Polnischer Kulturbegegnungen 2005. Ähnliches ist mit Tschechien, Ungarn und den baltischen Staaten geplant. Die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte, das Nachdenken über die Verwerfungen und die Glücksmomente des 20. Jahrhunderts, die Möglichkeiten einer guten Zukunft in einem alten Kulturraum stehen hier im Mittelpunkt. Nicht vergessen möchte ich das Projekt "relations". Es initiiert in den verschiedenen Ländern des östlichen Europa Projekte auf den Gebieten zeitgenössische Künste, der Kultur und der Wissenschaft.

Den inhaltlichen Schwerpunkt der Projekte bilden lokale und regionale Fragestellungen."relations" lenkt den Blick auf kulturelle Vielfalt und die Verschiedenartigkeit einzelner Orte und Regionen. Das sind neue west-östlicher Partnerschaften, die wir brauchen, um das erweiterte Europa zu verstehen.

Wir hatten das Glück, langjährige Diktaturen fallen zu sehen. Heute sind wir noch immer in einer Phase des historischen Umbruchs und der Neugestaltung, mitten in einem langwierigen Prozess, dessen Gelingen nicht nur von den Institutionen, sondern wesentlich von uns selbst abhängt.

Wir haben jetzt eine einmalige historische Chance. Freuen wir uns darüber und nutzen wir sie!