Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 04.05.2004

Untertitel: Bundeskanzler Gerhard Schröder: "Es kann eigentlich kaum einen besseren Zeitpunkt geben, um gemeinsam über Europa und die Zukunft der Globalisierung nachzudenken. Hinter uns liegt, durch den Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten zur Europäischen Union, die größte Erweiterung in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses. Und im Juni werden die wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt im Kreise der G 8 zusammenkommen."
Anrede: Lieber Helmut Schmidt, liebe Loki, verehrter Herr Präsident Giscard d'Estaing, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/87/646987/multi.htm


Eigentlich kann es kaum einen besseren Zeitpunkt geben, um gemeinsam über Europa und dessen Zukunft, aber auch über die Zukunft der Globalisierung zu reden, als es dieser Zeitpunkt ist. Hinter uns liegt - Franz Müntefering hat darauf hingewiesen - durch den Beitritt von zehn neuen Mitgliedsstaaten zur Europäischen Union die größte Erweiterung in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses. Im Juni werden die wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt im Kreise der G 8 zusammenkommen. Es wird dann der 31. Weltwirtschaftsgipfel sein. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing haben 1975 in Rambouillet erstmals die Initiative für ein solches "Kamingespräch", wie Sie es damals nannten, der Staats- und Regierungschefs aus Japan, den Vereinigten Staaten von Amerika, Italien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland ergriffen.

Längst geht es bei diesen Zusammenkünften nicht mehr allein um Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Wie schon in der Vergangenheit - etwa beim Gipfel in Köln 1999, der wesentlich zur Beendigung des Kosovo-Krieges beitragen konnte - , werden die G 8 auch diesmal Fragen von Krieg und Frieden, unter anderem im Nahen und Mittleren Osten, zu diskutieren haben. Fragen von Krieg und Frieden müssen einen Weltwirtschaftsgipfel auch wegen des sehr engen Zusammenhangs zwischen friedlicher Entwicklung in der Welt einerseits und Entwicklung der Weltwirtschaft andererseits beschäftigen.

Als Initiatoren dieses Prozesses haben Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing eine über diese Fragen hinausgehende Ausweitung des Themenkatalogs womöglich nie geplant. Angesichts der damals herrschenden Block-Konfrontation des Kalten Krieges wäre das wohl auch wenig realistisch gewesen. Und Realisten waren beide ja immer. Aber beim heutigen Entwicklungsstand der Globalisierung lassen sich Fragen der Weltwirtschaft einerseits und der internationalen Politik andererseits nicht mehr sauber voneinander trennen. So zeugt es von der besonderen Weitsicht der - wenn ich das so sagen darf - "Gründerväter", dass die von ihnen geschaffene Institution der Weltwirtschaftsgipfel auch für die heutige Zeit mit ihren neuen Herausforderungen und auch mit ihren neuen Fragestellungen unverzichtbar geblieben ist.

Meine Damen und Herren, die Konferenz von Rambouillet im Jahr 1975 war in gewisser Hinsicht die erste Antwort der demokratischen Politik auf den Globalisierungsprozess. Mag auch der Begriff damals nicht unmittelbar verwandt worden sein oder jedenfalls nicht so geläufig gewesen sein wie heute - die Phänomene einer globalen, sich immer stärker vernetzenden Wirtschaft wurden schon Mitte der 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sichtbar.

Damals begann, wie manche Historiker das beschrieben haben, der Übergang von einer "inter-nationalen" zu einer "trans-nationalen" Wirtschaft, also einer Wirtschaftsordnung, in der nicht mehr nur zwischen verschiedenen Volkswirtschaften kooperiert wird, sondern einer Arbeitsteilung, bei der die Heimat eines Unternehmens in einem bestimmten Nationalstaat für seine eigentliche Tätigkeit immer mehr an Bedeutung verliert, jedenfalls verlieren kann.

Die Digitalisierung der Produktion und der gewaltige Fortschritt bei den Informations- und Kommunikationstechniken haben dazu geführt, dass die Globalisierung heute mit Recht als ein Veränderungsprozess bezeichnet wird, der in seinen Auswirkungen allemal der ersten industriellen Revolution gleich kommt. Für mindestens ebenso bedeutsam halte ich den politischen Aspekt dieser Globalisierung, der gewiss auch der Rambouillet-Initiative zu Grunde liegt: Die Notwendigkeit nämlich, in einer sich rasant beschleunigenden globalen Wirtschaft zu verbindlichen Absprachen und Regeln zu kommen, damit Welthandel und Wettbewerb sich frei entfalten können, die aber gleichzeitig sicherstellen, dass die Chancen und Möglichkeiten der Globalisierung nicht zu neuen Ungerechtigkeiten führen, sondern allen an der Weltwirtschaft Teilnehmenden zugute kommen.

Vor 30 Jahren wurden solche Absprachen durch die Krise der Weltwirtschaft 1973/74 dringend nötig. Man sollte sich deshalb die Tragweite der damaligen Situation ruhig noch einmal vor Augen führen: Eine überhitzte Konjunktur und der Ölpreisschock hatten das "goldene Zeitalter" der Nachkriegszeit schlagartig beendet. Innerhalb eines Jahres gingen die Produktion und der Außenhandel in den entwickelten Industrieländern dramatisch zurück. Das Wechselkurssystem von Bretton Woods, das die wichtigsten Währungen der Welt an den Dollar und diesen an einen festen Goldpreis gebunden hatte, brach in sich zusammen. Gleichzeitig waren, z. B. durch den Krieg im Nahen Osten und die Zypernkrise, die politische und wirtschaftliche Stabilität auch in Europa in Gefahr geraten.

Ich will an dieser Stelle eine persönliche Anmerkung machen: Lieber Helmut Schmidt, ich denke, dass Deutschland, aber auch Europa und unsere Freunde in der Welt, dir zu großem Dank verpflichtet sind. Vor fast genau 30 Jahren hast du nach dem Rücktritt von Willy Brandt das Amt des Bundeskanzlers übernommen. Die Umsicht und Entschlossenheit, mit der du die Geschicke Deutschlands - und damit zu einem großen Teil auch Europas und des transatlantischen Bündnisses - in jener schwierigen Zeit gelenkt hast, sind beispielhaft und machen deine wahrhaft historische Bedeutung aus. Ich denke, das spürt auch jeder in Deutschland.

Meine Damen und Herren, sicher haben die heutigen Weltwirtschaftsgipfel nicht mehr den vertraulichen, beinahe privaten Charakter des Kamingesprächs von Rambouillet. Aber das hohe persönliche Engagement der Teilnehmer, die Suche nach dem intensiven Gespräch abseits der großen Mitarbeiter-Stäbe, kennzeichnen die G-8 -Treffen nach wie vor. Schon 1976 war Kanada zum Kreis der Sechs gestoßen. Ende der 90er-Jahre kam schließlich auch Russland hinzu. Damit war der alte Gegensatz zwischen Ost und West auch auf dieser Ebene überwunden, und bei der Gestaltung der Globalisierung konnte ein neues Kapitel beginnen. Russland hat zwar aufgrund seiner spezifischen Situation in Währungs- und Finanzfragen weniger Koordinationsmöglichkeiten als die alten G 7, aber die Einbindung Russlands ist - das ist meine feste Überzeugung - bei der Lösung der globalen politischen Probleme unabdingbar. Dass im Jahre 2006 zum ersten Mal ein ordentlicher Weltwirtschaftsgipfel in Russland stattfinden wird, ist Ausdruck einer schon alltäglichen Normalität im Ost-West-Verhältnis. Das ist eine Normalität, die sich vor 15 Jahren wohl niemand von uns hat vorstellen können.

Meine Damen und Herren, den entscheidenden Impuls für die weitere Gestaltung der Zukunft aber hat Rambouillet durch sein eindeutiges Bekenntnis zur multilateralen Zusammenarbeit gegeben. Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und die folgende Vervierfachung des Ölpreises hatten eine Situation geschaffen, in der einseitige, national-egoistische Entscheidungen nahe liegend schienen. Tatsächlich versprachen die Abkehr von geregelten Finanzmärkten und protektionistische Maßnahmen einzelnen Volkswirtschaften durchaus vorübergehend Entlastung. Demgegenüber wussten die Initiatoren des Weltwirtschaftsgipfels: Ein unkontrolliertes freies Spiel der Kräfte auf den Welt- und Geldmärkten würde die Ungleichheiten und damit auch die gefährliche Entwicklung für Wohlstand und Weltfrieden befördern. Sie hatten erkannt, dass bei fortschreitender Globalisierung Fehlentwicklungen in einem Teil der Welt auch negative Auswirkungen auf alle anderen Teilnehmer der Weltwirtschaft haben würden.

Meine Damen und Herren, für Europa entstand im Geist von Rambouillet - und wiederum auf Initiative von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing - das Europäische Währungssystem EWS. Damit konnten nicht nur Währungs- und Finanzbeziehungen für Europa und seine wirtschaftlichen Partner stabilisiert werden. Nein, in seiner gesamten Logik war das EWS bereits auf den viel größeren Schritt, den zur Wirtschafts- und Währungsunion, angelegt. Der Beitrag des Euro zu einer guten Gestaltung der Globalisierungsbeziehungen kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Für Unternehmen, die im gemeinsamen Währungsraum operieren, gibt es kein Wechselkursrisiko mehr. Vor allem aber sind die Volkswirtschaften der Eurozone zuverlässiger gegen Spekulationen von außen geschützt. Den Druck, auf die Entwicklung der Finanzmärkte reagieren zu müssen, tragen nun alle Euroländer gemeinsam. Zudem ist mit dem Euro eine Währung entstanden, die auf den Weltmärkten neben dem Dollar eine zweite Leitwährung werden kann. Damit kann Gefahren für das weltwirtschaftliche Gleichgewicht ungleich besser als jemals zuvor begegnet werden. Aber auch Risiken, wie sie etwa im anhaltend hohen Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizit der Vereinigten Staaten liegen, kann so besser begegnet werden. Entscheidend ist auch dabei, dass durch die G 8 ein Forum geschaffen worden ist, das sich zu einer kooperativen Lösung solcher Probleme verabredet hat. Im Übrigen - und auch das gehört gewissermaßen zum Erbe von Rambouillet - ist die Institution der Weltwirtschaftsgipfel ein überzeugender Beweis für die Möglichkeiten und die Notwendigkeit einer deutsch-französischen Zusammenarbeit.

Meine Damen und Herren, es stimmt, dass durch die Globalisierung und den Zugang zum Welthandel mehr Menschen aus Hunger und Armut geholfen werden konnte als je zuvor in der Geschichte. Das ist auch etwas, was man als Antwort auf die - von Franz Müntefering zu Recht erwähnten - Ängste gelegentlich öffentlich und wieder einmal deutlich sagen muss. Dennoch gibt es keinen linearen Weg von der Globalisierung zur gerechteren Verteilung des Wohlstands in der Welt. Noch immer ist es so, dass 60 % der Weltbevölkerung sich mit etwas mehr als 5 % des globalen Einkommens begnügen müssen. Das Bevölkerungswachstum in Afrika und Teilen Asiens ist eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Vor dreieinhalb Jahren hat sich die internationale Gemeinschaft auf ein Programm verständigt, die Millenniumserklärung der Vereinten Nationen, das versucht, auf diese gewaltigen Aufgaben angemessen zu reagieren. Es ist ein Programm für gute globale Regierungsführung im 21. Jahrhundert - ein Programm, das Wege zu einer gerechteren Gestaltung der Globalisierung aufzeigt. Es ist ein Programm, das globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung begründen soll. Dies ist im Übrigen unabdingbare Voraussetzung für Frieden und Sicherheit auch in den reicheren Teilen der Welt.

Wir setzen uns daher auch in Zukunft für den erweiterten Marktzugang der Entwicklungsländer und den Abbau handelsverzerrender Subventionen ein. Wir haben uns daher für die Entschuldung der ärmsten Länder der Welt stark gemacht. Die von dieser Bundesregierung initiierte Kölner Entschuldungsinitiative umfasst mittlerweile 27 der ärmsten hoch verschuldeten Entwicklungsländer. Die Initiative eröffnet ihnen die Möglichkeit einer Schuldenreduzierung im Gesamtumfang von mehr als 50 Milliarden US-Dollar. Zu dieser Vereinbarung gehört auch, dass die Schuldnerländer verstärkt in die Bekämpfung der Armut investieren und sich nachhaltig, sichtbar und spürbar zu guter Regierungsführung bekennen. Im Gegenzug ist es Aufgabe der G 8 dafür zu sorgen, dass die führenden Wirtschaftsnationen den Entwicklungsländern auf diesem Wege auch wirklich helfen und nicht etwa versuchen, sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, indem sie auf die Einhaltung dieser Kriterien verzichten.

Meine Damen und Herren, auch daran zeigt sich, dass die politischen Aspekte der Globalisierung, eine globale Friedenspolitik nämlich, immer mehr in den Vordergrund rücken. Die Gefahren, die auch die Weltwirtschaft heute besonders bedrohen, beschränken sich bei weitem nicht auf Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und eine Zunahme asymmetrischer, d. h. privatisierter Gewalt. Auch die Herstellung, beziehungsweise Wiederherstellung funktionierender staatlicher Strukturen, die politische Teilhabe und rechtsstaatliche Regeln garantieren, ist eine vordringliche Aufgabe, um den Frieden in der Welt zu sichern. Die Fortschritte, die wir in diesem Zusammenhang in Afghanistan gemacht haben, sind essenziell. Hinzu kommt, dass auch wir in Europa, in Deutschland ein vitales Interesse an der Stabilisierung im Irak haben. Das gilt unabhängig von der Frage, wie man zu diesem Krieg stand. Wir wollen unabhängig von der Antwort auf diese Frage, dass der Weg frei wird für ein Engagement der Vereinten Nationen an der Seite einer souveränen irakischen Regierung - und das so schnell, wie es irgend möglich ist.

Wir wissen, Freiheit, Rechtssicherheit und Teilhabe an wirtschaftlicher Entwicklung sind die besten Voraussetzungen für die Verhütung von Konflikten, die Sicherung des Friedens und den Kampf gegen den Terrorismus. Dazu braucht die internationale Gemeinschaft einen effektiven Multilateralismus, möglichst breit abgesicherte internationale Konzepte, Regelwerke und Institutionen. Von zentraler Bedeutung sind dabei starke und handlungsfähige Vereinte Nationen als Garanten eines Völkerrechts, das den Interessen der Menschen und den Herausforderungen der Zeit angemessenen ist und das von jedem, wie stark er auch immer sein mag, beachtet werden muss. Notwendig sind aber auch verantwortlich handelnde internationale Wirtschafts- und Finanzinstitutionen, damit Globalisierung für die ärmeren Teile der Welt nicht im sprichwörtlichen Sinne zu einer Falle wird. Schließlich müssen wir uns auch immer wieder der Aufgabe stellen, wesentliche Akteure der Weltökonomie und der Weltpolitik in multilaterale Kooperation einzubinden.

Mit Helmut Schmidt, meine Damen und Herren, bin ich auch über die besondere Bedeutung Chinas einig. Der chinesische Ministerpräsident hat gerade Deutschland einen, wie man jetzt schon sagen kann, für die politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern, aber auch für die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen sehr erfolgreichen Besuch abgestattet.

Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass in der Globalisierung die internationale Zusammenarbeit unmittelbar den Interessen der Bürgerinnen und Bürger entspricht. Auch das gilt es immer wieder zu betonen. Aber diese Zusammenarbeit lässt sich natürlich umso besser erreichen, wenn die Regierungen und Bevölkerungen zentrale Wertvorstellungen und Ziele teilen und wenn die Institutionen der Zusammenarbeit transparent arbeiten und von den Menschen jederzeit zur Rechenschaft gezogen werden können. Für mich ist das der Kern des europäischen Beitrags zur Globalisierung. Nichts wäre verkehrter, als mit dem Hinweis auf die Globalisierung auf die Errungenschaften des europäischen Sozialmodells zu verzichten: Sozialen Frieden, die Verpflichtung des Staates, für Sicherheit und öffentliche Güter zu sorgen, die Sozialbindung des Eigentums und schließlich Freiheit und Gerechtigkeit durch angemessene Teilhabe möglichst aller an den gesellschaftlichen Entscheidungen und am Wohlstand, der von allen erarbeitet worden ist. Diese Werte und Ziele haben Europa stark gemacht, und sie müssen weiter gelten.

Der Beitritt zehn neuer Mitgliedstaaten zeigt, wie attraktiv dieses Gesellschaftsmodell ist. Noch nie wurden so viele Mitglieder auf einmal in die europäische Familie aufgenommen. Dabei gilt es, in unserer Gesellschaft klar zu machen: Das war kein irgendwie gearteter "Gnadenakt", gewährt durch diejenigen, die bisher die Europäische Union ausmachten. Sondern Länder, die in ihrer Kultur und Geschichte immer zu Europa gehört haben, sind endlich in unseren Kreis zurückgekehrt. Gleichwohl stellt uns diese Erweiterung institutionell auf eine schwere Probe. Deshalb ist der Vertrag über eine europäische Verfassung von so großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen, Herr Präsident Giscard d'Estaing, für Ihre herausragende Rolle danken, die Sie als Vorsitzender der europäischen Verfassungskommission in diesem sehr schwierigen Prozess gespielt haben. Sie haben das - wenn Sie mir gestatten, das so zu sagen - glanzvoll gemacht.

Man sollte das, was erreicht worden ist, auch nicht klein reden. Das Europäische Parlament wird gestärkt, also ein Demokratiezuwachs. Mit der Übernahme der Charta der Grundrechte in die Verfassung unterstreichen wir deutlich, auf welchem Fundament von Werten wir das gemeinsame Europa errichten. Herr Außenminister Genscher, ich denke, auch und nicht zuletzt Sie wissen, wie viel Kraft es gekostet hat, dass das ganze Europa diesen Wertvorstellungen der europäischen Aufklärung folgt. Welche riesige Chance ist damit verbunden. Hätten wir es uns geleistet, diese Chance aus Rücksicht auf die Ängste zu verpassen, so bin ich in einem sicher: Unsere Kinder und deren Kinder würden uns große Vorwürfe machen, wenn wir diese historische Chance, dieses Europa zu einem Ort dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen zu machen, verpasst hätten.

Die Abstimmung oder die Willensbildung, die in dem größer gewordenen Europa stattfinden muss und wird, ist wichtig. Die Frage, wie das geschieht, ist nicht nur Technokratie. Das Prinzip der "doppelten Mehrheit", das der Konvent vorgeschlagen hat, drückt nämlich Gleichheit in einem doppelten Sinne aus. Die Europäische Union ist eine Union der Staaten und der Bürger. Zur Mehrheit der Staaten muss also eine bestimmte Mehrheit der repräsentierten Bürger hinzu kommen. Ich bin im Übrigen zuversichtlich, dass es der irischen Präsidentschaft gelingt, die Verhandlungen über die Europäische Verfassung erfolgreich abzuschließen.

Die Erweiterung - und ich werde jetzt nicht auf die hypothetische Frage eingehen, ob sie "zu früh" oder "zu spät" gekommen ist, denn zum historischen Ablauf gibt es gar keine realistische Alternative - ist im Übrigen nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch eine riesige Chance für uns. Experten rechnen damit, dass sich durch die Erweiterung das Sozialprodukt sowohl in den alten als auch in den neuen Mitgliedstaaten erhöhen wird. Es entsteht ein Wirtschaftsraum, der für ein Viertel des gesamten Weltsozialproduktes steht. Damit, meine Damen und Herren - auch das müssen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern immer wieder sagen, weil wir damit werben können - , ist nicht nur dieser größer gewordene Markt mit gewaltigen Konsummöglichkeiten geschaffen, sondern damit rückt Deutschland in den Mittelpunkt dieses Marktes mit 450 Millionen Einwohnern. Als größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union wird Deutschland - das ist bereits erkennbar; Herr Müntefering hat darauf hingewiesen - von der Erweiterung in besonderer Weise profitieren. Es ist ja richtig, dass wir seit langer Zeit in diesen Märkten, um die es geht, die Nummer Eins sind. Es ist richtig, dass das Arbeitsplätze in Deutschland unmittelbar absichert. Denn der Außenhandel mit diesen neuen Mitgliedstaaten ist schon heute größer als der Export aus Deutschland in die Vereinigten Staaten von Amerika.

Im Übrigen - das füge ich hinzu - wird dieses größer gewordene Europa seine ökonomischen Aufgaben und seine Aufgabe als Friedensmacht nur dann richtig anfassen können, wenn wir es ernst meinen mit der strategischen Partnerschaft Europas in der Beziehung zu Russland. Ich glaube, dass dieser Aspekt als die nächste ganz große politische Aufgabe neben der Entwicklung der Erweiterung Europas noch nicht hinreichend in der interessierten Öffentlichkeit in Deutschland angekommen ist. Diese strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Russland wird die Aufgabe dieses und des nächsten Jahrzehnts sein. Ich weiß von der russischen Seite, jedenfalls vom russischen Präsidenten, dass es seine zentrale Vorstellung ist, Russland in eine solche strategische Beziehung zu bringen. Wir wären töricht, wenn wir diesen Willen nicht aufnehmen würden.

Meine Damen und Herren, in Lissabon haben wir uns vorgenommen, die Europäische Union bis Ende des Jahrzehnts zum dynamischsten Wirtschaftsraum der globalen Ökonomie zu machen. Deshalb werden wir unsere Politik noch stärker auf Innovation, auf günstige Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung ausrichten. Das geht nur, wenn wir es schaffen, Vergangenheitssubvention - wir haben eine intensive Debatte über die Eigenheimzulage - in Zukunftsinvestition umzulenken. Dann und nur dann sind wir auf dem richtigen Weg. Dies können wir bei der Eigenheimzulage schaffen. Sie war vernünftig, als wir in Deutschland Wohnungsnot hatten und wir dafür sorgen mussten, dass über solche Anreize privates Kapital mobilisiert werden konnte. Doch wenn wir uns den Osten unseres Landes anschauen, kann man wirklich nicht von Wohnungsnot reden, sondern vom Gegenteil. Das gilt im Übrigen - von einigen Ballungszentren abgesehen - auch im Westen unseres Landes. Die Eigenheimzulage ist eine Subvention, die zu den besten Zeiten 10 Milliarden gekostet hat, die man wahrlich sinnvoller einsetzen kann. Bei allen notwendigen Debatten zwischen Regierung und Opposition: hier ist die Opposition wegen ihrer Mehrheit im Bundesrat gefordert, sich nicht taktisch zu verhalten, sondern für die Zukunft des Landes mitzuarbeiten. Das wäre die richtige, in die Zukunft gerichtete, Debatte über Finanzpolitik in Deutschland.

Meine Damen und Herren, wir haben uns auch einer anderen Herausforderung gestellt. Die andere Entwicklungslinie neben der Globalisierung ist ein radikal veränderter Altersaufbau unserer Gesellschaft, der Druck auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ausübt. Beides muss bewältigt werden, die Globalisierung auf der einen Seite und der veränderte Altersaufbau auf der anderen Seite. Deswegen muss man den Menschen in Deutschland immer wieder sagen: Der Umbau des Sozialstaates ist zum einen die unerlässliche Bedingung dafür, dass der Sozialstaat in Zukunft erhalten werden kann. Zum anderen können wir nur auf diese Weise jene Ressourcen frei bekommen, die wir benötigen, um in Forschung und Entwicklung, in Betreuung von Kindern und in Bildung investieren zu können. Das ist eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass Wohlstand auch in Zukunft garantiert bzw. ermöglicht werden kann. Wir haben mit der "Agenda 2010" auf diese Herausforderungen reagiert.

Meine Damen und Herren, die Quellen des zukünftigen Wachstums liegen bei Forschung und Entwicklung und bei technologischen Innovationen. Auch deshalb ist es notwendig, in dieser Debatte eine neue Balance zu finden zwischen Risiken durch neue Technologien einerseits und darin liegenden Chancen andererseits. Nur auf diese Weise werden wir der Verantwortung gerecht, die wir in Europa als größte Volkswirtschaft haben. Nur auf diese Weise werden wir dem Werk und der Erwartung von Helmut Schmidt und Valéry Giscard dŽEstaing gerecht. Wir sollten uns sputen, diese Erwartung zu erfüllen. Ich jedenfalls möchte auch weiterhin meinen Beitrag dazu leisten. Ich danke sehr für die Aufmerksamkeit.