Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 11.05.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Festveranstaltung "100 Jahre Automobile" im VW-Werk Zwickau am 11. Mai 2004.
Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Dr. Pischetsrieder, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/07/661507/multi.htm


in den vergangenen Tagen und Wochen hat es viele intensive Diskussionen über den "Aufbau Ost" gegeben. Ich hätte mir gewünscht, dass diejenigen, die diese Debatte nur kritisch geführt haben, und diejenigen, die alles besser wissen, einmal hier nach Zwickau gekommen wären. Hätten Sie das getan, dann hätten sie feststellen können, dass manches, was jetzt als so genannte Neuorientierung vorgeschlagen wird, hier in Sachsen - in Chemnitz und in Zwickau - eine gute Tradition hat, zum Beispiel die Automobilproduktion in dieser Region.

Schon 1932 gab es hier einen echten Wachstumskern. Neudeutsch würde man wohl "Cluster" dazu sagen. Damals wurde die Auto Union gegründet, übrigens auf Anhieb der zweitgrößte Automobilkonzern in Deutschland. Aber begonnen hatte die Geschichte mit August Horch hier in Zwickau, und zwar am 10. Mai 1904, als er seine Firma von Köln hierher verlegte, um Automobile zu produzieren. In der Auto Union hatten sich neben Horch, Audi und DKW noch die Wanderer-Werke eingefunden, ebenfalls ein tolles Produkt, das noch in den 50-er Jahren - jedenfalls ich erinnere mich daran - auf den Straßen Deutschlands zu sehen waren.

Hier wurden ja nicht nur erstklassige Fahrzeuge für alle Segmente des Marktes hergestellt. Die Auto Union dominierte auch über viele Jahre die Formel Eins im Motorsport - mit Autos, die Professor Porsche entworfen hatte und mit Fahrern wie Hans Stuck und Bernd Rosemeyer. Es ist schön, wenn man hier den alten Silberpfeil, einen Zwölfzylinder, sehen kann. Er hat ein Stück Automobilgeschichte nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Welt geschrieben.

Nach dem Krieg wurde die Auto Union in Ingolstadt weiter geführt. Zur Geschichte des Automobilbaus in dieser Region gehört ganz sicher auch der Trabant. Insgesamt drei Millionen Fahrzeuge liefen vom Band. Er ist nicht unbedingt tauglich für die Formel Eins, aber immerhin ein Fahrzeug, auf das sich viele in der damaligen DDR gefreut und lange haben warten müssen. Auf die Zuverlässigkeit und den besonderen Charakter des Trabants schwören jetzt noch viele Fans überall in Europa. Das wird sich zeigen, wenn - wie ich gehört habe - hier im nächsten Monat das nächste Trabi-Treffen stattfindet. Auch da wird man sehen, wie emotional die Verbundenheit mit der Geschichte hier ist.

Volkswagen hat hier 1988 begonnen, als in den damaligen Barkas-Werken Motoren gefertigt wurden. Man kann wirklich sagen, dass die Vision, die Sie, Herr Dr. Hahn, seinerzeit für diese Region hatten, wichtig war. Ich darf in dem Zusammenhang sagen: auch darüber hinaus, wenn ich beispielsweise an Skoda denke, wurde sie von den Vorstandsvorsitzenden Piech und jetzt von Herrn Dr. Pischetsrieder fortgeführt. Es war wichtig, weil man an die Tradition des Automobilbaus sowohl in dieser Region als auch im benachbarten Tschechien anknüpfen wollte. Ich hatte ab 1990 acht Jahre lang im Präsidium des Aufsichtsrates von Volkswagen Gelegenheit, an einigen Entscheidungen zu Gunsten von Mosel und auch dieser Region mitwirken zu können. Übrigens: Das, was heute unter dem Stichwort Globalisierung diskutiert wird, war uns damals schon nicht ganz unbekannt. Volkswagen war immer schon ein "Global Player", der begriffen hat, dass, wenn man in Märkten erfolgreich sein will, auch Produktion in den Märkten nötig ist. Das gilt heute wie morgen.

Es ist Produktion in den Märkten nötig, um Märkte zu erobern, aber als Rückwirkung auch, um Unternehmen und Betriebe in Deutschland auszulasten. Gerade vor dem Hintergrund einer gelegentlich mit Angst erfüllten Diskussion muss man immer wieder betonen, dass das Engagement von Volkswagen in Osteuropa der Getriebefertigung in Kassel ebenso zu Gute kommt wie dem Motorenbau in Salzgitter. Es kommt auch denen zu Gute, die Entwicklung in Wolfsburg betreiben. Ich denke, wir müssen in der augenblicklichen Diskussion über die Erweiterung der Europäischen Union mehr als in der Vergangenheit gerade diesen Aspekt betonen.

Heute beschäftigt Volkswagen in Zwickau, Mosel und Chemnitz mehr als 7.000 Mitarbeiter. Ich denke, es ist mir erlaubt zu sagen, dass diese Aufzählung, was Automobilanbau und übrigens auch Zulieferung angeht, nicht vollständig wäre, wenn man nicht das Engagement von Porsche und von BMW in Leipzig erwähnte. Insgesamt gibt es in dieser Region in der Automobilindustrie 65.000 hoch qualifizierte Arbeitsplätze. Warum ist das hier geschehen? Herr Dr. Pischetsrieder hat auf die Tradition hingewiesen, die man bewahren muss. Aber es sind auch die Verkehrsinfrastruktur, attraktive Förderbedingungen und eine mustergültige Zusammenarbeit zwischen Industrie einerseits und öffentlicher Hand andererseits zu erwähnen.

Auch gibt es in dieser Region traditionell Investitions- und Innovationsfreude; keineswegs nur, aber eben auch im Automobilbau. Es existieren sehr gute wissenschaftliche Einrichtungen, aber vor allen Dingen - das gilt es mit großem Respekt zu sagen - ist hier ein hohes Qualifikationsniveau der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vorhanden. Die Betriebe und Verwaltungen in dieser Region machen es richtig. Sie setzen auf Innovation einerseits und auf Ausbildung der jungen Leute andererseits, also auf das, was man wirklich die Entwicklung von Zukunftspotenzialen nennen kann. Auch deswegen haben Sie zum 100. Geburtstag des Automobilbaus in Zwickau eine Bildungseinrichtung eröffnet, nämlich das "Berufsschulzentrum für Technik", das den Namen von August Horch trägt. Ich würde mir wirklich wünschen - in einer Zeit, in der wir gegen Ende des Jahrzehnts einen Facharbeitermangel in einem großen Umfang befürchten müssen, in einer Zeit, in der wir jetzt damit beginnen müssen, die jungen Leute auszubilden, die übermorgen die qualifizierten Facharbeiter ersetzen sollen - , dass dieses Beispiel Schule macht.

Meine Damen und Herren, ich habe die Diskussion zum "Aufbau Ost" erwähnt. Ich bleibe gerade angesichts der Fakten in dieser Region dabei: Diese Diskussion, so weit sie ausschließlich negativ geführt wird, bildet das, was hier im Osten unseres Landes tatsächlich geschieht, sehr unvollkommen ab. Es gehört zum Beginn jeder ernsthaften Analyse, die enormen Leistungen vor allen Dingen der Beschäftigten, der Menschen hier, für den Aufbau Ost zu betonen. Natürlich lassen sich die Folgen der Teilung eines Landes nicht in wenigen Jahren endgültig beseitigen. Aber wer sich in den Städten und Dörfern Ostdeutschlands umschaut, der kann sehen, was an neuer Infrastruktur und an wirtschaftlicher Substanz entstanden ist. Natürlich reicht das nicht. Dass weiß jeder von uns. Aber anknüpfen an das, was entstanden ist, und zwar sehr selbstbewusst und bisweilen auch stolz, kann man, darf man und - das füge ich hinzu - sollte man sogar. Wer also aufmerksam ist, wird erkennen, wie leistungsstark, wie flexibel die Region und die Menschen in dieser Region hier sind.

Die ostdeutsche Industrie insgesamt - das betrifft nicht nur die Automobilindustrie - ist auf den Weltmärkten spürbar wettbewerbsfähiger geworden. Ich füge hinzu: Durch die Erweiterung der Europäischen Union rücken diese Regionen in die Mitte Europas. Natürlich sind damit auch Belastungen verbunden. Wer wollte das bestreiten? Aber auch in diesem Zusammenhang möchte ich zwei Gesichtspunkte nennen: Durch den Beitritt von zehn Ländern aus Mittel- , Ost- und Südosteuropa wird die Spaltung Europas endgültig aufgehoben. Wir erwerben die politische Chance, dieses Europa zu einem Ort dauerhaften Friedens zu machen. Wenn man sich vergegenwärtigt, was auf diesem Kontinent allein im vergangenen Jahrhundert an Kriegen - und mit welchen Opfern - geführt worden ist, dann wird klar, dass die Generation der heute Entscheidenden - die in der Politik, die in der Wirtschaft, die in der Kultur - fahrlässig gehandelt hätte, wenn sie nicht alles daran gesetzt hätte, dieses großartige Ziel der Einheit Europas und der damit verbundenen politischen Möglichkeiten zu realisieren. In Einem bin ich mir ganz sicher: Unsere Kinder und deren Kinder hätten völlig zu Recht eine schreckliche Diskussion gegen uns geführt, wenn wir diese historische Chance verpasst hätten.

Ich füge hinzu: Mit diesen politischen Möglichkeiten sind mehr ökonomische Chancen verbunden als Widrigkeiten auftreten werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir jene Märkte, in denen wir jetzt bereits die Nummer Eins sind, was den Handel angeht, brauchen, wenn wir auch in Zukunft unsere Produkte in diesen Märkten verkaufen wollen. Wir brauchen die Entwicklung dieser Märkte nicht allein um der Menschen dort Willen - auch das ist ein vernünftiges Ziel - , sondern um unser aller Willen, auch um unseren eigenen Wohlstand Willen. Wir brauchen den Zusammenhang zwischen den Märkten, in denen man auch in Produktion präsent sein muss, und der Auslastung der Produktion im eigenen Land.

Es werden also enorme Möglichkeiten entstehen. Mit hochwertigen Produkten und qualifizierter Arbeit wird man die Wettbewerbsnachteile, die es in bestimmten Segmenten gibt, egalisieren können. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir es schaffen. Wenn wir gerade im Automobilbau weiterhin intelligente Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung nutzen - VW hat in diesen Fragen nun wirklich Geschichte geschrieben - , dann werden wir die Konkurrenz auf den globalisierten Märkten vor der Haustür und in der Welt aushalten.

Übrigens: Es ist ein Irrtum davon auszugehen, was gelegentlich in der öffentlichen Debatte geschieht, man könne zwischen "new economy'" und "old economy" unterscheiden, also zwischen modernen Technologien und der alten Ökonomie, also beispielsweise dem Automobilbau. Wer sich einmal mit der hundertjährigen Geschichte des Automobilbaus befasst hat und wer die neuen Produkte sieht, wird wissen, dass die deutsche Stärke gerade in der Integration der neuen Techniken liegt und dass die Produkte, die wir erfolgreich auf den Märkten der Welt absetzen, genau von dieser Integration leben.

Meine Damen und Herren, dass das weiterhin gerade in diesen Regionen Unterstützung braucht, ist klar. Deswegen werden wir an dem festhalten, Herr Ministerpräsident, was wir mit dem Solidarpakt II miteinander vereinbart haben. Wir müssen daran festhalten, weil noch Vieles zu tun übrig bleibt, wenn auch - wie man hier sehen kann - eine Menge geschaffen worden ist.

Zwei Entwicklungslinien will ich noch nennen, die nicht nur für die Zukunft dieser Region, sondern des Landes und für unsere Wettbewerbsfähigkeit in Europa und darüber hinaus wichtig sind. Eine wird durch das definiert, was man Globalisierung nennt, also weltweit schärfere, härtere Arbeitsteilung und damit verbunden weit höherer Wettbewerbsdruck als jemals zuvor. Die andere Entwicklungslinie, mit der wir uns auseinander setzen müssen, ist die der Veränderung im Altersaufbau unserer Gesellschaft. Dieser veränderte Altersaufbau übt Druck auf die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme aus, und zwar in einem bisher nie gekannten Maße. Es gilt, auf diese beiden Entwicklungslinien zu reagieren. Das haben wir mit der "Agenda 2010" getan, weil wir davon ausgehen, dass die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme nur durch Veränderung zu sichern ist. Weil ich gerade den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden, Klaus Volkert, sehe, möchte ich sagen: Es ist ja richtig, über soziale Gerechtigkeit zu reden. Das muss man. Man muss auch immer etwas dafür tun. Aber man darf den Begriff der sozialen Gerechtigkeit nicht nur auf die heute lebende Generation beziehen, sondern richtig verstanden muss er auf diejenigen bezogen werden, die als unsere Kinder und deren Kinder auch noch eine faire Chance für ein Leben in Wohlstand und in Selbstbestimmung haben wollen. So verstanden ist derjenige sozial gerecht, der heute das tut, was nötig ist, um soziale Sicherungssysteme auch morgen noch intakt zu halten.

Das Zweite, die ökonomische Herausforderung in Deutschland, ist nur durch Innovation und durch bessere Qualifikation zu erreichen. Wenn es wahr ist, dass mehr und mehr die Produkte der Zukunft Folge von Forschung, Entwicklung und Wissenschaft sind, dann müssen wir die Ressourcen, die wir durch Veränderung der sozialen Sicherungssysteme frei bekommen, in diesen Bereich investieren. Wir müssen weg von Vergangenheitssubventionen und hin zu Zukunftsinvestitionen.

Das sind die beiden großen Aufgaben, die gesehen und realisiert werden müssen. Dann und nur dann- davon bin ich überzeugt - , wird es uns gelingen, das, was hier so traditionsreich seinerzeit begonnen worden ist und fortgeführt werden konnte, nämlich eine wirklich in der Welt Seinesgleichen suchende Automobilproduktion in dieser Region, in Deutschland überhaupt zu erhalten.

Ich will denen, die seinerzeit Volkswagen in diese Region gebracht haben - ich habe die drei Vorstandsvorsitzenden genannt - , ausdrücklich sagen, dass sie das mit Energie und mit Überzeugungskunst zu Recht denen nahe gelegt haben, die zu entscheiden hatten. Sie haben damit Entscheidungen erzielt, die zum Wohle der Region, aber auch zum Wohle des Automobilunternehmens waren.

Ich bin wirklich froh darüber, dass wir seinerzeit nicht gezögert haben, sondern gesagt haben: Das Engagement in dieser Region ist gut, weil es zukunftsträchtig ist und weil es den Menschen in dieser Region hilft. Wenn das geleistet worden ist, dann können wir getrost froh die 100 Jahre feiern und uns auf die nächsten vorbereiten.