Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 30.11.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/47/11747/multi.htm


Eine Rede vor der traditionsreichen und ehrwürdigen französischen Nationalversammlung zu halten, ist für mich eine ehrenvolle Herausforderung. Ich danke Ihnen, Herr Präsident Fabius, für die Gelegenheit, das Wort vor diesem hohen Haus ergreifen zu können.

Das französische Parlament hat die Entwicklung der französischen Demokratie in den letzten Jahrhunderten maßgeblich geprägt.

Ihr Haus hat darüber hinaus entscheidend zur Definition, zur Weiterentwicklung und zur Umsetzung von demokratischen Ideen in Europa beigetragen. Manche Debatte, die hier im Laufe der Zeit geführt wurde, hat Aufsehen weit über die Grenzen Frankreichs hinaus erregt.

Der Funke der Revolution von 1848, der die deutschen Länder und weite Teile Europas erfasste, ging von Paris und von der französischen Nationalversammlung aus.

Die hier von Aristide Briand vorgetragene Vision eines friedlichen Europas fand im Deutschen Reichstag bei Gustav Stresemann Gehör; die europapolitischen Debatten der Nachkriegszeit hatten ihren Widerhall im Bonner Bundestag.

Überhaupt stehen die Assemblée Nationale und der Deutsche Bundestag in einer Tradition des engen Austauschs. Dadurch sind sie repräsentativ für viele Institutionen in unseren beiden Ländern, Ausdruck des breiten Fundaments der deutsch-französischen Beziehungen.

Gibt es überhaupt einen Bereich, in dem Deutschland und Frankreich nicht eng verflochten sind, sich nicht aufs Engste durchdrungen und beeinflusst haben?

Natürlich ist Frankreich für meine Landsleute zunächst Synonym für Kunst, für kreative Mode und klassisch schöne Städte, die ihr Erbe in Ehren halten, ohne sich der Moderne zu verweigern.

Französische Museen und Landschaften werden Jahr für Jahr zum Ziel von Millionen deutscher Touristen. Französische Kultur und Zivilisation haben einen hohen und festen Rang in Deutschland.

Dieses Frankreich-Bild sichert Ihrem Land im Herzen der Deutschen einen herausragenden Platz. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Rainer Maria Rilke einige seiner schönsten Gedichte in Paris geschrieben hat."Der Fluss, die Brücken, die langen Straßen und die Plätze, die sich verschwenden, das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie auf Seide", so empfindet er Paris.

Unsere Länder durchdringen sich im kulturellen Bereich. Sie geben einander seit jeher gegenseitige Impulse.

Voltaire, einer der geistigen Wegbereiter der französischen Revolution, fand Sicherheit im Schloss Sanssouci in Potsdam. Heinrich Heine wiederum fand ein Jahrhundert später in Paris Zuflucht. Sein Werk "Deutschland, ein Wintermärchen" zeugt von einem in Frankreich geschärften kritischen Blick auf sein Vaterland.

Frankreich steht aber auch für Spitzentechnologie, für wissenschaftlichen Einfallsreichtum und für eine moderne und leistungsfähige Infrastruktur.

Frankreich und Deutschland sind füreinander die bei weitem größten Handelspartner - wesentlich bedeutsamer als die USA oder Japan.

1997 kamen 17 Prozent der französischen Importe im Wert von ca. 316 Milliarden Französischen Francs aus Deutschland, 16 Prozent der französischen Exporte im Wert von ca. 271 Milliarden Französischen Francs gingen nach Deutschland.

Frankreich ist auch ein bevorzugtes Ziel für deutsche Investitionen. Französische Investitionen leisten ihrerseits einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der neuen Bundesländer.

Sie haben zum neuen Start nach der Wiedervereinigung beigetragen, wobei diese wiederum auch dem französischen Export nach Deutschland einen durchaus bemerkenswerten Zuwachs bescherte.

Angesicht dieser engsten Verflechtung ist es nicht verwunderlich, dass es gerade zwischen unseren beiden Ländern zu Fusionen großer Unternehmen kommt.

Rhone-Poulenc und Hoechst haben ihre Kräfte vereinigt. Das neue Unternehmen Aventis hat seinen Sitz in der auf beiden Seiten des Rheins symbolträchtigen, europäischen Stadt Straßburg.

Die enge 30-jährige Zusammenarbeit in der Luft- und Raumfahrt hat zur Fusion von DASA mit Aerospatiale sowie Matra geführt. Hier haben Spitzenunternehmen auf unserem Kontinent aus freien Stücken ihre Kräfte vereint, um gemeinsam weltweit aus einer Position der Stärke heraus agieren zu können.

Man könnte diese Auflistung fortsetzen. Sie zeugt von den unzählbaren Verbindungen, die in allen Bereichen des Lebens bestehen. Es sind im Lauf der Zeit Bande entstanden, die in ihrer Dichte das unvergleichlich engmaschige Geflecht der deutsch-französichen Beziehungen darstellen.

Uns verbindet Freundschaft und Vertrauen. Im europäischen Sprachgebrauch spricht man von dem "Acquis", das heißt von der in jahrzehntelanger, enger Zusammenarbeit gemeinsam erarbeiteten Grundlage, auf der unsere Beziehungen sich dynamisch fortentwickeln werden.

Unser "Acquis" ist solide. Die Zuschauer des deutsch-französischen Fernsehkanals Arte können sich jeden Abend ein Bild davon machen.

Diese Realität des Austauschs zwischen unseren beiden Ländern widerspricht den immer wieder vorgebrachten Vermutungen eines vermeintlichen gegenseitigen Desinteresses.

Eine solche Kritik vernachlässigt die breite Grundlage unserer Beziehungen und misst ihren Zustand einzig und allein an einigen symbolträchtigen Gesten. Die deutsch-französische Zusammenarbeit besteht aber vor allem aus zahllosen, häufig von der Öffentlichkeit wenig beobachteten Realitäten. So gibt es mit keinem anderen Land der Welt einen so engen Jugend- und Studentenaustausch.

Unsere Aufgabe ist es, das gegenseitige Interesse wach zu halten und weiter zu stärken. Es gibt viele gute Gründe, aufeinander neugierig zu sein, die Sprache des Nachbarn zu erlernen und ihn, sein Land und seine Traditionen kennenzulernen.

Die Selbstverständlichkeit, mit der ich über die engen deutsch-französischen Beziehungen spreche, zeugt bereits von dem großen, nach der Ära der Konfrontationen, geleisteten Werk der Verständigung, der Freundschaft und der erfolgreichen Suche nach gemeinsamen Wegen.

Auch die engste Partnerschaft bleibt, meine Damen und Herren, allerdings nicht von gelegentlichen Interessenkonflikten verschont. Dies ist in einer sich schnell wandelnden Welt des Wettbewerbs, der permanenten Herausforderung und immer rascher aufeinander folgenden Umbrüche nur natürlich.

Wir haben gemeinsam gelernt, diese Unterschiede in fairer Weise und im gegenseitigen Vertrauen auszutragen. Vor diesem Hintergrund sollten wir immer wieder auftretende Unterschiede nicht überbewerten, sondern vielmehr als Ansporn zur Suche nach gemeinsamen Lösungen verstehen.

Unsere Beziehungen haben sich, trotz mancher Unkenrufe, als äußerst stabil und widerstandsfähig erwiesen. Dabei haben sie sich im letzten Jahrzehnt in rasantem Tempo an sich ändernde Umstände anpassen müssen.

In diesem Jahr haben wir am 9. November den 10. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer gefeiert. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie dieses Ereignis, das in Deutschland zunächst mit ungläubigem Staunen wahrgenommen wurde, bevor es Jubelstürme auslöste, in Frankreich in einem Atemzug mit der französischen Revolution von 1789 genannt wurde.

In der Tat stand der Fall der Mauer für die Befreiung der Hälfte unseres Kontinentes und die Rückkehr weiter Teile Europas in die Familie der demokratischen Staaten.

Für uns Deutsche war er auch der Beginn der deutschen Wiedervereinigung.

1991 beschloss der Deutsche Bundestag, die Bundeshauptstadt nach Berlin zu verlegen. Wie Sie wissen, fiel die Entscheidung zugunsten Berlins erst nach einer intensiven Debatte. In ihrem Zusammenhang wurde der Begriff der "Berliner Republik" geprägt. Von zahlreichen Gesprächspartnern, insbesondere auch aus Frankreich, weiß ich, dass dieser Begriff ursprünglich bei einigen Freunden gewisse Befürchtungen weckte.

Eine oft gestellte Frage lautete: Würde Deutschland von Berlin aus nicht anders regiert werden, würden sich die Koordinaten der deutschen Außenpolitik verschieben und letztlich die Beziehungen zu Frankreich darunter leiden?

Diese Frage kann ich mit einem Satz beantworten: Auch in Berlin steht die deutsche Außenpolitik unter dem Zeichen der Kontinuität.

In unseren Beziehungen zu Frankreich nimmt die Stadt Berlin einen ganz besonderen Platz ein. Frankreich hat wie kaum ein Land Berlin im Laufe seiner Geschichte geprägt.

In einer kurzen Zeitspanne am Ende des 17. Jahrhunderts emigrierten etwa 20.000 französische Hugenotten nach Brandenburg und vornehmlich nach Berlin. Bei einer damaligen Berliner Gesamtbevölkerung von ca. 50.000 Einwohnern haben diese Menschen die Entwicklung der Stadt nachdrücklich beeinflusst. Zeitweilig war jeder vierte Berliner ein Franzose!

Die Einwanderer belebten das Wirtschaftsleben und prägten den Geschmack ihrer Zeitgenossen als Buch- und Hutmacher, Handschuhweber, Goldschmiede, Juweliere, Weinhändler und Café-Inhaber.

Berlin profitierte sehr vom Strom dieser Menschen. Im Gegenzug erhielten sie umfangreiche Starthilfe und die Erteilung der Bürgerrechte. Der französische Einfluss in der Landwirtschaft und der Wissenschaft, der Kunst und der Kultur, dem Unterrichtswesen und der Gastronomie war beträchtlich.

Ein Berliner würde jetzt auf einige beliebte Klassiker der Berliner Küche hinweisen: Frikassee, Buletten und Rouladen.

Der französische Dom verewigt den architektonischen Einfluß der Hugenotten in Berlin. Die französischen Emigranten gehörten zu einer der ersten Gruppen zahlreicher Einwanderer, die Berlins Gesicht geprägt haben.

Die Stadt hat im Laufe ihrer Geschichte gezeigt, dass sie Neues aufgeschlossen aufnimmt, integriert und sich dadurch auch immer wieder neu formt.

Derzeit erleben wir, wie Berlin die Wunden der Vergangenheit schließt. Gleichzeitig geben neue Gebäude der Stadt ihre unverkennbare Identität zurück.

Am Pariser Platz, neben dem Brandenburger Tor entsteht die neue französische Botschaft: Ein helles und einladendes Gebäude, mit dem die französische Diplomatie an ihren angestammten Platz in Berlin zurückkehrt.

Sicherlich: Mit dem Umzug nach Berlin hat sich der Rahmen, in dem Deutschland regiert wird, geändert. Deutsche Politik wird jetzt in einer dynamischen, spannungsreichen Stadt viel näher an der Wirklichkeit gestaltet.

Eines ist allerdings ebenso sicher: Die Parameter der deutschen Außenpolitik haben sich in Berlin nicht verschoben und werden sich dort auch nicht verschieben.

Deutsche Außenpolitik war und ist, genauso wie die Politik unserer Partner, eine in der Europäischen Union und dem Nordatlantischen Bündnis eingebettete, gleichsam "aufgeklärte" Interessenpolitik.

Für mich bedeutet wohlverstandene Interessenpolitik die Verfolgung von Zielen, die wir Europäer, aber insbesondere wir Deutschen und Franzosen teilen: Vornehmlich denke ich dabei an die Sicherung von Frieden, Freiheit, Wohlstand und unsere eigene nationale wie europäische Identität.

Es ist, meine Damen und Herren, nicht denkbar, über unsere beiden Länder, deren Beziehungen, deren Zukunft zu sprechen, ohne das große, einigende Band Europa in den Mittelpunkt zu setzen.

Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Gemeinschaft und später der Europäischen Union lässt sich nicht nur an den volkswirtschaftlichen Zahlen messen, die unseren wachsenden Wohlstand spiegeln, sondern auch an der zunehmenden Anziehungskraft der Europäischen Union.

Europa ist von der deutsch-französischen Zusammenarbeit geprägt. Dieses Werk hat aber von Anfang an den bilateralen Charakter gesprengt.

Es ging um ein Versöhnungswerk für die Zukunft, das auf Europa hin angelegt war. Ausgangspunkt war in beiden Ländern ein starker Gestaltungswille, der sich langfristige Ziele setzte.

Das Spezifische des deutsch-französischen Miteinanders war, ist und wird auch in Zukunft unverzichtbar sein. Dies begründet die gemeinsame Verantwortung unserer beiden Völker für Europas Zukunft.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist die Vision eines geeinten, friedlichen und demokratischen Europa keine Utopie mehr, sondern fester Bestandteil unseres täglichen Lebens.

Europäischer Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion, gemeinsame Justiz- und Innenpolitik sowie eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bilden das Fundament für eine neue politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung in Europa.

Europa zählt auf Deutschland und Frankreich. Keine der großen europäischen Aufgaben ist je gelöst worden, wenn Deutschland und Frankreich sich nicht einig waren.

Keines der großen europäischen Integrationsprojekte wäre jemals verwirklicht worden, hätten nicht Frankreich und Deutschland den Anstoß gegeben.

Am Ausgang dieses Jahrtausends kommt es nun wiederum auf Deutschland und Frankreich an. Die Europäische Union muss die internen Voraussetzungen schaffen, um für die Aufnahme neuer Mitglieder bereit zu sein.

Unter deutscher Präsidentschaft wurde in Berlin der Finanzrahmen für die Jahre bis 2006 vereinbart, der eine Aufnahme erster Kandidatenländer in die Union möglich macht.

Bei seinem Treffen in Köln legte der Europäische Rat einen Fahrplan für die institutionelle Reform der Europäischen Union fest.

Diese Reform soll unter französischer Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2000 abgeschlossen werden, wenn die Union - wie auf deutsch-französischen Vorschlag im Oktober im finnischen Tampere erörtert - bis zum Jahr 2003 aufnahmefähig für neue Mitglieder sein will.

Dieser enge Zeitplan bringt es mit sich, dass das Mandat der kommenden Regierungskonferenz begrenzt werden muss: Wir werden die drei in Amsterdam offen gebliebenen institutionellen Fragen - Größe der Kommission, Ausweitung der Entscheidungen im Rat mit qualifizierter Mehrheit und Neuverteilung der Gewichte im Rat - zu lösen haben.

Daneben gilt es die Lehren aus dem Rücktritt der Kommission zu ziehen und die bis dahin erzielten Fortschritte hin zu einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union im Vertrag zu verankern.

Mit Präsident Jacques Chirac und Premierminister Lionel Jospin bin ich mir einig, dass die zeitgerechte Regelung dieser Fragen für das Gelingen der Erweiterung absolut unverzichtbar ist.

Frankreich und Deutschland stehen bei unseren Freunden und Partnern in Mittel- und in Südosteuropa im Wort. Die Erweiterung ist ein Gebot unserer historischen Verantwortung gegenüber diesen Ländern, aber auch der politischen und wirtschaftlichen Klugheit.

Wir werden daher im Dezember in Helsinki gemeinsam darauf drängen, mit sechs weiteren Kandidaten Verhandlungen aufzunehmen. Und wir werden uns auch mit allem Nachdruck dafür einsetzen, der Türkei den Status eines Kandidaten für den Beitritt zu verleihen.

Das Europa der Zukunft muss seine Interessen weltweit wirkungsvoll vertreten können.

Der Euro ist als Weltwährung neben den Dollar getreten, der europäische Binnenmarkt ist der größte Wirtschaftsraum weltweit und bei den nun beginnenden WTO-Verhandlungen spielt die Europäische Union eine Schlüsselrolle.

Europa darf international nicht Beobachter sein, sondern muss als starker Akteur auftreten, der die Schaffung der globalen Ordnung für das 21. Jahrhundert entscheidend mitbestimmt.

Dies setzt voraus, dass wir Europäer in der Welt mit einer Stimme sprechen und unseren Anliegen gemeinsam und wirkungsvoll Geltung verschaffen.

Mit der Berufung Javier Solanas zum Hohen Repräsentanten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist uns ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung gelungen.

In einem nächsten Schritt müssen wir nun daran gehen, die Grundlagen für eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und für ein wirksames europäisches Krisenmanagement zu schaffen.

Unter deutscher Präsidentschaft und mit französischer Unterstützung haben wir beim Europäischen Rat in Köln im Juni die Weichen in diese Richtung gestellt.

In seinem Aktionsplan vom Juli hat Präsident Chirac Vorschläge zur Ausgestaltung und Umsetzung der Kölner Beschlüsse unterbreitet, die wir sehr unterstützen.

Im Dezember soll in Helsinki der Europäische Rat wichtige Orientierungen für die weitere Ausgestaltung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geben.

Deutschland und Frankreich ziehen hier an einem Strang. Ich rege an, auch und gerade in den Kontakten zwischen der Assemblée Nationale und dem Deutschen Bundestag diese Fragen schon jetzt aufzugreifen.

Gemeinsam mit unseren britischen Freunden werden Deutschland und Frankreich das Dossier weiter vorantreiben, so dass die Arbeiten auch auf diesem Feld unter französischer Präsidentschaft im nächsten Jahr abgeschlossen werden können.

Im Vordergrund steht dabei neben der Schaffung krisentauglicher Entscheidungsmechanismen vor allem die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der Europäischen Union. Nicht zuletzt die Krise im Kosovo hat gezeigt, dass wir Europäer sowohl im Bereich der Aufklärung als auch beim Lufttransport Defizite haben.

Hier müssen wir handeln, denn wir können nicht darauf zählen, die Hilfsbereitschaft unserer amerikanischen Freunde stets und überall grenzenlos in Anspruch nehmen zu können.

Unsere Verantwortung, aber auch unser Selbstwertgefühl als Europäer gebieten es, dass wir Europäer selbst uns mit den hierzu notwendigen Mitteln ausstatten.

In einem ersten Schritt habe ich heute morgen mit Präsident Chirac eine deutsch-französische Initiative vereinbart, die die Schaffung eines Europäischen Lufttransportkommandos zum Ziel hat.

Der jetzt erreichte europäische Integrationsstand und die anstehende Erweiterungsrunde markieren eine tiefgreifende Zäsur in der Geschichte der Europäischen Integration.

Es stellt sich in ihrer vollen historischen Dimension die Frage, wohin dieses Europa gehen, welche Gestalt es schließlich annehmen wird. Um es auf den Punkt zu bringen: Es stellt sich immer drängender die Frage nach dem Ziel des europäischen Integrationsprozesses.

Am Anfang stand das karolingische Europa. Danach hat sich die Europäische Gemeinschaft und später die Europäische Union nach Süden und nach Norden ausgedehnt.

Die Erweiterung nach Osten steht bevor. Mit ihr stößt die Europäische Union in eine neue Dimension. Um den Zusammenhalt der Union zu wahren, wollen wir ihre verfassungsmäßige Grundlage mittelfristig ausbauen. Dies ist kein Thema für die nächste Regierungskonferenz. Eine Debatte über diese Fragen sollten wir allerdings bereits jetzt einleiten.

Wir stehen gemeinsam vor neuen Herausforderungen.

Wir brauchen eine gemeinsame europäische Antwort auf die Globalisierung, die wirksame Vertretung unserer Interessen nach außen, die Erweiterung der Europäischen Union, die Stärkung der politischen Handlungsfähigkeit unserer gemeinsamen Institutionen und die Bekräftigung ihrer demokratischen Legitimation.

Das sind Aufgaben, auf die sich Deutschland und Frankreich konzentrieren müssen.

In Frankreich hat man den Begriff "Europe Puissance" geprägt, der treffend unser gemeinsames Ziel bestimmt.

In der deutschen Europa-Debatte ist dieser Gedanke leider bisher auf wenig Resonanz gestoßen. Ich mache mir diese treffende französische Bezeichnung für unsere gemeinsame Vision des künftigen Europas hier und heute zu eigen.

Wir wollen ein Europa, das selbstbewusst und erfolgreich seine Interessen vertritt und dabei offen für den weltweiten Wettbewerb um die besseren Lösungen für die dringenden Zukunftsfragen ist. In fünf Bereichen sehe ich dringenden Handlungsbedarf.

Erstens: die kulturelle Selbstbehauptung Europas. Unser Kontinent ist von einer breiten Vielfalt geprägt, sprachlich, künstlerisch, musikalisch und geisteswissenschaftlich. Diese Vielfalt ist unser gemeinsames Erbe und unser Reichtum.

Wir müssen lernen, unsere Kultur sowohl innerhalb Europas als auch außerhalb unseres Kontinents besser bekannt zu machen. Dabei müssen wir auch neue Wege gehen. Kulturelle Spitzenleistungen, künstlerische Avantgarde sind ebenso unverzichtbar wie ein erfolgreiches - auch wirtschaftlich erfolgreiches - Angebot für ein breites Publikum.

Wenn wir hierbei keinen Erfolg haben, droht kulturelle Verödung, die langfristig mit einem Verlust an geistigem Potential und Innovationsfähigkeit einhergeht.

Dass auch kulturelle Eigenständigkeit erfolgreich sein kann, zeigen weltweit vertriebene Filme mit dem auf allen Kontinenten bekannten Schauspieler Gérard Depardieu.

Warum sollten die Europäer nicht in der Lage sein, eine eigene populäre Kultur zu exportieren, hiermit Märkte zu erorbern und dem drohenden Einerlei eine Alternative zu setzen.

Europa muss raus aus der Defensive und - im Bewusstsein seines großen Erbes - offensiv den Wettbewerb mit anderen suchen. In der Filmindustrie, in der unsere Länder auf eine große Tradition zurückblicken, ist dies besonders deutlich.

Wir sollten in diesem Bereich unsere Ressourcen, unsere Talente und unsere Phantasie bündeln. Deshalb haben wir, Präsident Chirac und, ich angeregt, eine deutsch-französische Filmakademie ins Leben zu rufen.

Unsere Länder verfügen über hervorragende Infrastrukturen, um gute und unterhaltsame Filme zu produzieren, die in Europa wie außerhalb auf dem Markt erfolgreich sein können.

Zum Zweiten: die Sicherung und der Ausbau des Europäischen Gesellschaftsmodells. Deutschland und Frankreich teilen die Grundüberzeugung, dass individuelle Eigenverantwortung und soziale Gerechtigkeit die Grundpfeiler unseres gesellschaftlichen Miteinanders bilden.

Beide Grundprinzipien verdichten sich in der Sozialen Marktwirtschaft, die wie keine andere Gesellschaftsordnung Kraft und Kreativität des Wettbewerbs mit Chancengerechtigkeit verbindet.

Wir wissen, dass wir nur mit und nicht gegen den Markt Wachstum und Wohlstand in unseren Ländern auf Dauer sichern werden. Doch stimme ich Lionel Jospin zu, dass wir eine völlige Kommerzialisierung aller Lebensbereiche nicht zulassen dürfen.

Weil es für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft unverzichtbar ist, steht die Bekämpfung der viel zu hohen Arbeitslosigkeit ganz oben auf der politischen Tagesordnung - in Deutschland, in Frankreich, in Europa. Dafür setzen wir auf Innovationen und Investitionen.

Wir setzen auch auf einen leistungsfähigen Sozialstaat, der Eigenverantwortung und Selbständigkeit des Einzelnen fördert, der sich nicht darauf beschränkt zu beschützen, sondern aktivierend wirkt.

Und wir setzen auf Bildung und Ausbildung, auf lebenslanges Lernen in der Erkenntnis, dass dies der Schlüssel ist für die Teilhabe der Menschen in der heraufziehenden Informationsgesellschaft.

Unsere Gesellschaften müssen und werden sich dem Wandel durch Innovation und Globalisierung stellen. Deutschland und Frankreich werden auch hier, trotz gelegentlich unterschiedlicher Nuancierungen im Einzelfall, engstens zusammenarbeiten - bilateral wie auf europäischer Ebene.

Durch eine vorausschauende Politik der Nachhaltigkeit wollen wir die Lebensgrundlagen für die künftigen Generationen sichern.

Europa muss, drittens, seine Interessen - auch seine wirtschaftlichen Interessen - international erfolgreich zur Geltung bringen. Wir müssen uns als Europäer gegen unsere Konkurrenten behaupten. Dies gilt insbesondere für Bereiche, bei denen es neben Arbeitsplätzen und Know-how auch um die Unabhängigkeit, die Gestaltungsfähigkeit und die politische Zukunftsfähigkeit Europas geht.

Auch deshalb ist die nächste Verhandlungsrunde der WTO für uns von entscheidender Bedeutung.

Für die enge und erfolgreiche industriepolitische Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich stehen beispielhaft das Airbus- und Ariane-Programm. Die Fusion der Luftfahrtunternehmen DASA, Aerospatiale und Matra schafft ein Unternehmen mit Weltgeltung. Es ist Ausdruck des festen Willens der Europäer, im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb mitzuhalten.

Wir werden gemeinsam stärker, indem wir unsere Kräfte bündeln. Gleichzeitig stellen wir unsere Entschlossenheit unter Beweis, unserer internationalen Verantwortung gerecht zu werden.

Wie bei der europäischen Integration insgesamt geht auch hier von einem deutsch-französischen Schulterschluss die entscheidende Kraft für die unverzichtbare Eigenständigkeit Europas aus. Eine Eigenständigkeit, die im Übrigen Grundlage für eine gleichberechtigte Kooperation mit unseren Partnern jenseits des Atlantiks ist.

Die Europäische Union muss - viertens - ein Freiheitsraum für unsere Bürger werden, in dem sie die Vorteile der europäischen Einigung in vollem Umfang für sich in Anspruch nehmen können.

Beim Europäischen Rat von Tampere haben die Staats- und Regierungschefs ein ambitiöses Arbeitsprogramm verabschiedet, um das Ziel des Amsterdamer Vertrages, die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, zu erreichen.

Dabei geht es darum, dass wir auch auf europäischer Ebene die sorgfältige Balance zwischen den Freiheitsrechten des Einzelnen und des Rechts Aller auf ein hohes Maß an innerer Sicherheit finden. Tampere ist der Beginn einer echten, auf mehrere Jahrzehnte angelegten Innen- und Justizpolitik auf europäischer Ebene.

Von Deutschland und Frankreich wird es maßgeblich abhängen, dieses gewaltige, in seinen Dimensionen von vielen unterschätzte Integrationsprojekt zum Erfolg zu bringen.

Wir werden häufig über unseren eigenen Schatten springen müssen. Dazu brauchen wir gegenseitiges Verständnis und Unterstützung. Die Handlungsfähigkeit der Union nach Außen hat mit dem Fortschreiten der Integration nicht Schritt gehalten.

Deshalb muss - und dies ist mein fünfter Punkt - die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union vorangebracht werden.

Unter französischer Präsidentschaft sollen die Beschlüsse zur Ausprägung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik getroffen werden, damit die Union im Bereich des Krisenmanagements größere Handlungsfähigkeit erlangt.

Dies ist eine wichtige Etappe, auf der Frankreich unsere volle Unterstützung haben wird. In längerfristiger Perspektive werden Deutschland und Frankreich darüberhinaus gemeinsame Überlegungen anstellen müssen, wie die im Vertrag über die Europäische Union angelegte Gemeinsame Verteidigung ausgestaltet werden kann, ohne die transatlantische Verteidigungssolidarität in Frage zu stellen.

Wir werden uns bei der Behandlung dieser Punkte in aller Konsequenz der Frage nach der politischen Ratio der Europäischen Einigung neu stellen müssen.

Es geht letztlich um die institutionellen Grundlagen einer Union, die einerseits durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zunehmend heterogener wird, andererseits für ein kraftvolles Handeln nach innen wie nach außen noch nicht ausreichend ausgestaltet ist.

Nach fester deutsch-französischer Auffassung ist die Europäische Union mehr als ein Bündnis einzelner Nationen zum Zwecke der nationalen Wohlfahrtssteigerung.

Europa war, ist und bleibt für unsere beiden Länder eine politische Vision:

Mit Europa werden wir immer den unbedingten Anspruch verbinden, gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden und in einer sich rasant wandelnden Welt mit Gewicht aufzutreten - nicht um unsere nationalen Identitäten und Eigenheiten aufzugeben oder gar einzuebnen, sondern weil wir diese Identitäten ja gerade bewahren und sie deshalb in einer umfassenderen europäischen Identität erhalten wollen.

Frankreich und Deutschland werden in diesen schwierigen Fragen gemeinsame Impulse geben müssen. Wir sollten diese notwendige Debatte schon heute anregen.

In diesem Zusammenhang will ich nur daran erinnern, dass unsere beiden Länder eine Schrittmacherfunktion auch für die Schaffung einer Europäischen Grundrechtscharta übernommen haben - ebenfalls ein Projekt, das unter deutscher Präsidentschaft auf den Weg gebracht wurde und unter französischer Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2000 seinen Abschluss finden soll.

Die Grundrechtscharta wird unseren Bürgerinnen und Bürgern wertvolle Orientierung bringen.

Sie wird aber auch, dies muss ich in diesem Hohem Hause nicht eigens betonen, die Diskussion um die künftige institutionelle Verfasstheit Europas entscheidend mitprägen.

Victor Hugo schreibt: "Zwei Nationen haben Europa geschaffen: Frankreich und Deutschland." Deutschland und Frankreich sind in der Tat das Herz Europas.

Wir Deutschen und Franzosen wollen gemeinsam und mit unseren europäischen Partnern unseren Kontinent auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten.

Dabei wollen wir keinen europäischen Superstaat, sondern ein bürgernahes Europa der Vielfalt, das den Beitrag und die Traditionen seiner Mitglieder widerspiegelt.

Letzlich sind es die Menschen, die unseren Kontinent prägen. Franzosen, Portugiesen, Finnen und Tschechen, also die Europäer, haben jeweils ihre Sichtweise und ihre Erfahrungen.

Begegnungen, Studien im Ausland, Handelsbeziehungen, familiäre Bande sowie Besuche tragen dazu bei, das Bild des Nachbarn zu formen. So können wir Abschied nehmen von Klischees die lange Zeit prägend waren.

Alle Europäer sollten teilhaben an diesem großen Aufklärungswerk zum Abbau von Vorurteilen. Ich wünsche mir, dass Deutschland und Frankreich auch in Zukunft hier eine Vorbildfunktion haben, dass unsere beiden Länder für immer mehr Menschen gleichermaßen zum Inland werden.

Unseren Bürgern in Deutschland und Frankreich möchte ich zum Abschluss zurufen: Haben Sie Vertrauen in unseren gemeinsamen Willen, auf diesem Weg unbeirrbar fortzuschreiten!

Ich danke Ihnen.