Redner(in): k.A.
Datum: 01.12.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/39/11839/multi.htm


Auszüge aus einem Gespräch zwischen Eva Krings und Staatsminister Dr. Michael Naumann, Kulturpolitische Mitteilungen. Zeitschrift für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, Heft 87 ( IV / 1999 )

Eva Krings: Soziokultur ist eine Kulturform, die sich dem Alltag verpflichtet fühlt - abstrakter gesprochen - , der kommunikativen und sozialen Praxis der Menschen. Sie sucht häufig Felder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen auf, alltagsbezogen etwa im Bereich Stadtentwicklung, Zusammenleben, Armut. Und dann stellt sich heraus, dass der Alltag kein routiniertes Einerlei ist, sondern ein Feld, auf dem man Ungleichheiten, Ungleichzeitigkeiten und Ungerechtigkeiten begegnet. Herr Staatsminister, Sie sind Ansprechpartner für Kultur und Medien und damit auch für die Soziokultur. Welche Bedeutung hat dieser Bereich für Sie?

Michael Naumann: Soziokultur bezeichnet für mich das Handeln von Menschen, die meistens im kommunalen Raum in der Hoffnung tätig sind, durch ihre Tätigkeit vermittelnd, pazifizierend, aber auch konfliktöffnend ein menschliches Zusammenleben durchaus noch in dem alten, fast schon altmodischen Projekt der Moderne, zur Mobilisierung aller menschlichen und schöpferischen Kapazitäten zu organisieren. Vor diesem Hintergrund ist die Soziokultur auf Bundesebene de facto kein ausgeprägtes Handlungsfeld. Es handelt sich bei der soziokulturellen Bewegung, die in Deutschland sicherlich ausgeprägter ist als in vielen anderen Ländern Europas, um ein klassisches grass root-Phänomen, das vom Bund auf Grund der föderalen Zuständigkeiten und Strukturen unserer Verfassung nicht a priori gefördert werden darf und eigentlich auch nicht sollte. Davon abgesehen gibt es natürlich Gelder für Veranstaltungen, für Seminare und Publikationen, wie z. B. diese.

Eine wesentliche Leitidee ist es immer gewesen, gesellschaftliche Konflikte aufzugreifen und kreative Lösungen zu befördern. Das ist nicht nur eine solide, sondern auch eine kulturelle Aufgabe der Soziokultur, da hier die Fähigkeit der Selbstthematisierung der Gesellschaft angesprochen ist. Wird Ihrer Meinung nach die Soziokultur dieser selbstgestellten Aufgabe gerecht? Und findet sie die ihr angemessene öffentliche Beachtung?

Bekannt ist es sicherlich in den Kommunen. Es ist allgemein bekannt, dass die soziokulturellen Zentren in der Bundesrepublik mindestens so viele Nutzer haben wie die städtischen Theater des Landes. Da reden wir von Millionen. Die Subventionen sind allerdings entschieden niedriger. Das hat zu tun mit der Herkunft dieser Bewegung. Die Frage ist, ob der Staat sich dort involvieren soll. Es könnte auch ein Problem damit verbunden sein, wenn auf Bundesebene auch noch Geld für Soziokultur verteilt würde. Dabei bestreite ich nicht die Notwendigkeit der Subvention, aber dafür gibt es z. B. die Zuwender- , und Mittlerorganisationen wie den Fonds Soziokultur und die verbandlichen Organisationen im Überbau der eigentlichen Praxis vor Ort, deren Arbeit auch unterstützt werden sollte. Die finanziellen Nöte dieser Institutionen sind mir durchaus bekannt.

Sie haben etwas anderes gesagt, was ich ansprechen möchte. Ihr Hinweis auf die Genesis der soziokulturellen Zentren hat m. E. mit einem zentralen Thema der Soziologie der 60er-Jahre zu tun, nämlich mit der Konfliktforschung oder der Behauptung, dass gesellschaftliche Konflikte zunächst einmal überhaupt erkannt und thematisiert werden müssen, damit sie nicht durch einen Konsensualbrei zugedeckt werden. Um dieses zu vermeiden, wurde das Thema des Konflikts überhaupt so eine Art Chiffre des liberalen Selbstverständnisses der 60er-Jahre und ist es auch geblieben.

Ich bin inzwischen der Meinung, dass pluralistische, demokratische Gesellschaften sich nicht dadurch definieren, dass sie Konflikte anerkennen. Das reicht nicht aus. Man muss einen Schritt weiter gehen. Es muss möglich sein, im Rahmen von demokratischen Tugenden Konflikte "auszutragen", aber nicht zu lösen, sondern stehen zu lassen. Natürlich ist dafür zu sorgen, dass die sozialen Schmerzen der Konfliktbetroffenen nicht zu groß werden. Jedenfalls ist die Hoffnung, dass sich durch kulturelle Pazifizierungsmaßnahmen diese Konflikte bereinigen ließen oder verschwänden, illusorisch. Hinter dieser soziokulturellen Grundhaltung verbirgt sich ein zentraler Kulturbegriff, der im Grunde genommen auch mit den Förderungsmaßnahmen für Kultur seit der Nachkriegszeit verbunden ist.

Diese Hoffnung auf eine konfliktmindernde Funktion der Kultur ist a priori falsch und nicht erfüllbar. Ich glaube, dass Sie das aus Ihrer eigenen Arbeit auch wissen. Sie können noch so viele wunderbare erhebende Veranstaltungen machen, aus denen die Teilnehmer dann mit einem Goldlicht über ihre Existenz weggehen, und morgen ist der Schimmer des Schönen verschwunden, und die Konflikte sind dieselben geblieben. Mit anderen Worten: Die Frage nach dem Trostwert von soziokulturellen Aktivitäten stellt sich für mich nicht mehr. Meine Meinung ist lediglich, dass Ihre Arbeit sich vielmehr darauf kaprizieren sollte, erstens die Fähigkeit zu entwickeln, Konflikte zu ertragen, zweitens in dem Ertragen andere demokratische Tugenden wie Toleranz und Neugier usw. einzuüben und drittens diese Konflikte dann aus dem kulturellen Bereich in den politischen Raum zu transferieren. Das heißt auch, in den demokratischen Parteien tätig zu werden. Meine Befürchtung ist, dass ein nicht geringer Teil der politisch interessierten Geburtsjahrgangskohorten meiner Generation sich in kulturelle Arbeit, in soziokulturelle Arbeit zurückgezogen hat und nicht in die Politik zurückgegangen ist.

Bedauern Sie das?

Nein, worüber ich gesprochen hatte, ist der Sachverhalt, dass eine ganze Generation, die sich selbst kulturell im Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen im Westen der Republik wähnte, nämlich die 68er Generation, dass das der entscheidende Teil, also derjenige, der sich in der Politik und auch in kulturpolitischen Fragen engagiert hat, dass dieser Teil nicht in den dafür historisch vorgesehenen Institutionen wieder aufgetaucht ist, nämlich in den Parteien.

Das Gerede davon, dass jetzt die 68er an der Macht seien, ist der reine Unsinn. Wenn Sie sich im Parlament und im Kabinett einmal umgucken, sind ganz wenige dabei, vielleicht zwei oder drei. Mit anderen Worten: Da fehlt eine Generation, und meine Anmerkung lief darauf hinaus, dass die Wiedererweckung, die Lust an institutioneller Parteipolitik wieder ein großes Thema werden müsste. Mit anderen Worten: Der Parteiennachwuchs ist erstens nicht in dem Maße generationsrepräsentativ wie er es sein könnte und zweitens sind es buchstäblich zu wenige. Das führt langfristig zu sehr ernsten Personalkrisen der Demokratie, das muss man einfach erkennen. Sie werden fragen, was hat das mit Soziokultur zu tun? Das hat u. a. damit zu tun, dass zwar im soziokulturellen Bereich ein enormes politisches Engagement da ist, dass aber gleichzeitig in den Parteien bereits in den mittleren Rängen buchstäblich Nachwuchsmangel herrscht.

Es ist eine alltägliche Erfahrung in der Kultur- und Jugendarbeit, dass die Konfliktparteien immer weniger Interesse haben, miteinander in einem Konflikt verbunden zu sein. Reibungsfläche, an der sich auch Neugier aufeinander entzünden kann, setzt voraus, dass die konfligierenden Interessen es zumindestens eine Weile miteinander aushalten. Wir erleben aber heute oft, dass sich Einzelne und Gruppen bei unterschiedlichen Meinungen sofort voneinander separieren. Das führt dazu, dass Konflikte zunehmend nicht ausgetragen werden. Eine Aufgabe für Kulturarbeit könnte sein, dazu beizutragen, Konflikte so "zu bebildern", dass ein Konflikt nicht umgehend geflohen wird.

Das ist sicher richtig. Dafür gibt es viele Gründe. Der erste ist, dass die Gesellschaft als solche unendlich viele Möglichkeiten zur Verfügung stellt, sich zu separieren, sich zurückzuziehen. Das beginnt bei der privatisierten Unterhaltungsindustrie des Fernsehers. Du gehst eben in dein Privatkino, du bewegst dich in deinem eigenen Milieu. Es hat aber auch mit etwas ganz anderem zu tun, und das muss die Soziokultur wahrscheinlich akzeptieren. Ich lerne es jedenfalls zu akzeptieren, es regt mich nicht mehr so auf.

Die Mehrheit der Minderheiten in der Gesellschaft hat kein Interesse daran, gewissermaßen in dem großen konsensualen, fröhlichen, kirchentagsähnlichen Miteinander zu existieren, weil es nämlich in dem Getto der eigenen Gruppengemütlichkeit angenehmer ist. Es ist einfach angenehmer, aus Gründen, die es zu erforschen gilt. Warum bleiben, auch in dem berühmten melting pot, die Milieus über Generationen hinweg miteinander verbunden? Ist es die pure Sentimentalität, ist es der Sachverhalt, dass in dem eigenen kulturellen Umkreis deine Aufstiegschancen besser sind? Ist es die Kohärenz von mitgeschleppten Erzählungen, Mythen, Familiengeschichten? Ist es in anderen Worten der Trost der Gemeinschaft? Oder kommt auch noch etwas ganz anderes Furchtbares hinzu: nämlich eine, wie auch immer vermittelte Erfahrung, die sich auch ins Aggressive wenden kann, dass du in deiner Gruppe buchstäblich vor physischen Angriffen geschützt bist? Das kann sich auch in das Gegenteil wenden. Die Gruppe wendet sich dann gegen die andere.

Woher kommt das? Ich möchte in diesem Zusammenhang nur sagen, weil das so ist, stellt sich die Frage: Kann ich durch eine wie auch immer geartete konfliktbereinigende Arbeit zwischen Minderheiten etwas erreichen? In der äußersten Konsequenz, die wir ja kürzlich in Albanien oder im Kosovo beobachten konnten, heißt das, dass diese Konflikte sich offenkundig durch die klassischen Mittel der Kultur, nämlich die Überredung, nicht lösen lassen. Für die soziokulturelle Arbeit will ich an dieser Stelle auf eine Tragödie von Sophokles verweisen: "Die Schutzflehenden". Das ist die Geschichte einer kleinen Inselpolis, auf die sich eine ägyptische Prinzessin auf der Flucht vor ihrer sie verfolgenden Familie flüchtet. Und die Gebote der Gastfreundschaft zwingen die polis, ihr Asyl zu gewähren, allerdings mit der Konsequenz, dass in dem Kielwasser dieser geflohenen Prinzessin die gesamte ägyptische Armee kommt und die polis mit samt ihren Menschen umbringen wird. Wie entscheidet die Stadt? Wie löst sie dieses Minderheitenproblem? Hier die Griechen, dort die Ägypter, die Flüchtige, die Fremde. Die kulturelle Leistung, das Leistungsangebot von Sophokles, das kulturelle Angebot der Tragödie lautet hier: Opfer. Die gesamte Kommune opfert sich für das Prinzip der Gastfreundschaft bzw. der Liebe. Wir reden hier über Konflikt und Kultur, und ich meine, dass dies das zentrale Thema überhaupt von Kultur ist: Wie gehe ich mit dem Fremden, dem Unbekannten, dem Neuen um? Und das manifestiert sich bisweilen auch in solch tragischen Situationen.

Ich denke, dass die Vorstellung, dass alle die, die sich durch die Hochkultur nicht angesprochen fühlen, in den soziokulturellen Zentren einmütig miteinander Kultur betreiben, eine sehr romantische Idee ist. Auch dort treffen Gruppen aufeinander, die sich auf den ersten Blick wenig zu sagen haben, möglicherweise sich sogar ablehnen. Wie kann man vor diesem Hintergrund an der Leitidee von Toleranz und Integration festhalten? Die Hoffnung, dass etwa Punks, Drogenabhängige und Feministinnen in einem Zentrum miteinander die ersehnte Gegenwelt aufbauen, ist oft genug an der Praxis gescheitert. Zentren, die wiederum nur noch von einer Gruppe, etwa einer bestimmen Generation, genutzt und betrieben werden, haben auch Probleme, eine Perspektive zu entwickeln. Insofern spiegeln die Zentren eine gesellschaftliche Problemlage wider. Können sie Ihrer Ansicht nach dazu beitragen, mit diesen Schwierigkeiten anders umzugehen?

Ich sehe da ein Problem. Ich sagte, und da herrscht meine Skepsis weiter vor, dass die Hoffnung, diese ausdifferenzierten und atomisierten Menschen in den in ihren Einzelteilen zerfallenden Gesellschaften, ob das Drogenabhängige sind, ob das Minderprivilegierte sind, ob das Behinderte sind, könnten durch Kultur in die Gesamtgesellschaft integriert werden, dass diese Hoffnung beschädigt ist.

Dies ist mein prinzipieller Zweifel, den halte ich aufrecht, schon allein der Diskussion wegen. Dieses Reparieren durch einen wie auch immer gearteten Kulturbegriff habe ich angezweifelt. Das setzt aber, ich wiederhole mich, keineswegs einen Zweifel, ein Fragezeichen hinter die Arbeit von soziokulturellen Zentren. Die Frage ist: Was sind denn die Ziele, die Handlungsziele von soziokulturellen Zentren? Ich frage mich, ob dieser Begriff der soziokulturellen Arbeit seine Hoffnungen nicht vielleicht aus etwas ganz anderem schöpfen sollte, denn aus einem übergeordneten Begriff von Kultur? Das zu definieren, könnten wir einmal anfangen. Für mich kommen dann ganz traditionelle Begriffe wie Solidarität, soziale Hilfe, Rechtsbeistand usw. und klassische Überlebenshilfe, die auch kulturelle Dimensionen hat, zur Sprache.

Ich fürchte, dass unsere bisherige Diskussion eine typisch deutsche Diskussion war. Sie sind ja nicht immer nur hier zu Lande tätig gewesen, sondern haben auf das deutsche Kulturverständnis auch von außen schauen können. Hat die amerikanische Station in ihrer Biografie dazu beigetragen, dass Sie kulturpolitische Diskussionen - vielleicht auch die über Kultur und Konflikt, die wir mit dieser Tagung führen wollen - anders bewerten?

Ich kann dazu nur eines sagen: Einer der Impulse, die innerhalb der soziokulturellen Arbeit liegen und im Übrigen auch in der Hochkultur, die dieses Land unterscheidet von anderen Ländern, ist die Hoffnung des 19. Jh. in Deutschland, im großen und sehr ausdifferenzierten und viel interpretierten Raum von Kultur etwas zu finden wie ein zu Hause, ein romantisches Daheim, eine nationale Identität. Weil das in der deutschen Geschichte so war, hat bei uns Kultur immer noch diesen enormen quasi religiösen Kirchencharakter. Das bedeutet auch, dass die politischen Fördermaßnahmen auf Bundesebene das auch noch transportieren bis hin zu den Fördermaßnahmen für Bayreuth, das ursprünglich mal als musikalisches Religionszentrum der Nation vorgesehen war. Von außen betrachtet sieht für mich deutsche Kulturpolitik so aus, als ob sie für immer unter der Glocke der Nationsbildung des 19. Jh. stehen wird. Wie weit sich das nach und nach auflösen wird innerhalb des europäischen Kontextes, fehlt mir die soziologische Fantasie.