Redner(in): Christina Weiss
Datum: 05.06.2004

Untertitel: Ein grenzüberschreitendes Kunstprojekt wurde am 5. Juni 2004 durch Kulturstaatsministerin Weiss in Frankfurt/Oder eröffnet.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/49/662949/multi.htm


Kunst ist das, was wird, nicht das, was ist." Karl Kraus hat das einmal so formuliert und mir scheint, dass sich dieser Satz auch gut auf das Kunstprojekt münzen ließe, das wir heute eröffnen. Die Kunst, sagt Kraus, ist etwas genuin in die Zukunft Gerichtetes.

Und so wünsche ich mir auch von dieser Ausstellung, das sie Teil einer Entwicklung sein möge, die sich in den nächsten Jahren zwischen Deutschland und seinen Nachbarn im wiedervereinten Europa vollzieht. Ich bin fest überzeugt davon, dass Kunst wunderbar dazu taugt, sich einander anzunähern und das gegenseitige Verständnis zu fördern.

Das Kunstprojekt Goetzen trägt im Untertitel den Zusatz "Ich und die Anderen". Gemeint ist damit nicht nur ein eigenständiger Bereich des Projekts, sondern auch eine inhaltliche Programmatik: die Gegenüberstellung des Einzelnen mit dem Fremden, Unbekannten, die Suche nach Identität, nach Orientierung und Selbstbildern.

Mit der Erweiterung der Europäischen Union haben diese Fragen an Aktualität gewonnen. Ich habe allerdings manchmal den Eindruck, dass nicht jeder gedanklich gleich gut auf diese einmalige historische Chance vorbereitet ist. Künstler dagegen sind mit "dem Anderen" schon von Berufs wegen wohl vertraut. Der Drang, sich auf etwas einzulassen, das man noch nicht kennt, das Verlangen, etwas Neues zu kreieren und diesem Neuen Geltung zu verschaffen, das sind Dinge, mit denen sie tagtäglich bei der Arbeit in ihren Ateliers zu tun haben. Und mehr noch: All das bedingt auch ihr Tun. Meiner Erfahrung nach herrscht in den Kunstszenen diesseits und jenseits der alten Grenzen ein quicklebendiger Austausch. Kunst ist eine internationale Sprache. Mit ihr kommt Bewegung in die Köpfe, und das brauchen wir mehr denn je.

Ich freue mich, dass es Ihnen, Herr Cordes, als Initiator gelungen ist, so viele profilierte und renommierte Kunstschaffende zusammen zu bringen. 21 Künstlerinnen und Künstler aus zehn Ländern, aus Mexiko und China, aus Russland, der Türkei und der EU, das verspricht eine verheißungsvolle Vielfalt. Ihr Publikum wird es Ihnen danken. Das vereinte Europa ist in Frankfurt und Slubice vielleicht präsenter als an vielen anderen Orten. An Stellen wie dieser entscheidet sich, ob das große historische Projekt auch wirklich gelingt. Deshalb wird die Europa-Skulptur mit Statements der Staatspräsidenten und EU-Kommissare hier auch sicher auf rege Anteilnahme und freundlich-kritische Aufmerksamkeit stoßen.

Was mir an dem Kunstprojekt besonders gut gefällt, ist die Art, wie Sie damit an die Öffentlichkeit treten. Zum Beispiel finde ich die Goetzen-Häuser, die in den beiden Stadtzentren aufgestellt wurden, eine großartige Idee. So werden Sie auch Menschen erreichen, die zu neugierig sind, um wortlos daran vorbeizugehen, in der Regel aber den Aufwand scheuen, in ein Museum oder eine Galerie zu gehen. Dabei bieten sie genau das: ein Museum oder eine Galerie.

Diese äußerlich identischen, im Inneren von dreizehn Künstlerinnen und Künstlern jeweils individuell gestalteten Holzhütten sind das Gegenteil von effektheischender, schnell verdampfender Event-Kultur. Es sind Orte, an denen sich die geschäftige Gleichförmigkeit des Alltags umkehrt und verwandelt in Ruhe, Sehlust und Versenkung, in Konzentration, Kontemplation und Studium um des Studieren willens.

Mit großem Interesse habe ich auch einige der Antworten gelesen, die bisher auf Ihre Frage-Aktion "Was gibt mir in meinem Leben Halt?" eingegangen sind. Diese Frage, erlauben Sie mir das Kompliment, ist ausgesprochen gut gestellt. Sie geht jeden etwas an, denn sie rührt an das Innerste, zwingt zum Innehalten und zur Selbstreflexion. Oft bleibt dafür einfach keine Zeit oder man sieht keinen speziellen Anlass, sich zu fragen: Ja, was ist es eigentlich, das meinem Leben Halt gibt? Sind es vielleicht die Künste? War es nicht das geliebte Buch, der beeindruckende Film, die anrührende Arie, das raffinierte Bild? Wenn Kunst es vermag, dass der Betrachter sich direkt in Beziehung dazu setzt, wenn sie ein Leben verändern kann, dann hat sie eine Menge geleistet.

Es ist diese permanente Aufforderung zur Nachdenklichkeit, die ich am Kunstprojekt "Goetzen" so sympathisch und angemessen finde. Das betrifft den Künstler-Workshop in der Friedenskirche, den sie unter das Motto "Kein Bild ist wahr" gestellt haben. Das gilt aber auch für das Projekt insgesamt. Es trägt den kritischen und selbstkritischen Denkansatz ja schon im Namen. Ein Götzenbild kann ein falscher Gott sein, ein Trugschluss oder eine Täuschung. Es kann sich aber auch genau anders herum verhalten. Das, was für den einen ein Götze ist, ist für den anderen die Projektionsfläche für wahre, echte Anbetung. Es existiert nie nur eine einzig gültige Wahrheit. Es ist immer eine Frage der Perspektive. Und das heisst in diesem Fall: der Bereitschaft, sich mit dem zu beschäftigen, was einem selber vielleicht bislang verschlossen blieb, dem anderen dafür aber um so wichtiger ist.

Ich erhoffe mir sehr von dem Kunstprojekt Goetzen, dass es den Geist der Verständigung fördert. Das ist der Grund, weshalb die Bundesregierung das Projekt gern unterstützt hat. Wir tragen die Hälfte der Gesamtkosten, weil dieses Projekt nicht nur grenzüberschreitend wirkt, sondern ein Signal ist für Offenheit und Toleranz, für das gemeinsame kulturelle Erbe Eropas. Wir werden in Zukunft noch viel in die gegenseitige Annäherung investieren müssen, finanziell, aber vor allem auch ideell. Das "Andere" als Teil des eigenen Ichs zu begreifen und zu akzeptieren, ist ein Prozess, der von Natur aus nie zuende ist.

Hier, in Frankfurt und Slubice, kann man die Nähe des vertrauten Fremden überall spüren. Hier ist eine der Werkstätten des neuen alten Europa. Es liegt an jedem einzelnen von uns, ob die Mission gelingt. Ich denke, ein Ausstellungsprojekt wie dieses kann dazu beitragen und ungeahnte Kräfte freisetzen. Die Kunst weist nach vorne, hat schon Karl Kraus gesagt - folgen wir ihr! In diesem Sinn wünsche ich den "Götzen" auf beiden Seiten der Oder viele begeisterte, angeregte, inspirierte Besucher!