Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 06.06.2004
Untertitel: Heute vor 60 Jahren war Caen, war die Normandie Schauplatz unendlichen Leids und zehntausendfacher Opfer - und zugleich der Ort soldatischen Mutes zur Befreiung Europas. Die Erinnerung Frankreichs an den 6. Juni 1944 ist eine andere als die Deutschlands. Und doch münden sie in einer gemeinsamen Überzeugung: Wir wollen Frieden.
Anrede: Herr Staatspräsident, Herr Premierminister, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/60/663560/multi.htm
liebe europäische Mitbürger!
Heute vor 60 Jahren war Caen, war die Normandie Schauplatz unendlichen Leids und zehntausendfacher Opfer - und zugleich ein Ort soldatischen Mutes zur Befreiung Europas. Die Erinnerung Frankreichs an den 6. Juni 1944 ist eine andere als die Deutschlands. Und doch münden sie in einer gemeinsamen Überzeugung: Wir wollen den Frieden.
Wir Deutsche wissen, wer den Krieg verbrochen hat. Wir kennen unsere Verantwortung vor der Geschichte und wir nehmen sie ernst. Tausende alliierter Soldaten starben an einem einzigen, grausamen Tag. Sie zahlten den höchsten Preis für die Freiheit. Deutsche Soldaten fielen, weil sie in einen mörderischen Feldzug zur Unterdrückung Europas geschickt wurden. Doch in ihrem Tod waren alle Soldaten über die Fronten hinweg verbunden, verbunden nämlich in der Trauer ihrer Eltern und Frauen, ihrer Geschwister und Freunde. Vor ihrer aller Schmerzen verneigen wir uns.
Ich gedenke auch der Bürger von Oradour. Sie fielen vor 60 Jahren einer entfesselten, unmenschlichen Waffen-SS zum Opfer.
Frankreich und seine Verbündeten, aber auch die Bürger der schwer geprüften Stadt Caen haben jenen 6. Juni 1944 anders in Erinnerung als viele Deutsche. Für Frankreich begann an diesem historischen Tag das ersehnte Ende der Besatzung. Für viele Deutsche symbolisierte der 6. Juni das endgültige militärische Scheitern. Andere Deutsche hatten schon lange zuvor erkannt, dass mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft der moralische Untergang Deutschlands begonnen hatte. Viele mussten ihre Opposition gegen das Terror-Regime mit dem Tod in Konzentrationslagern bezahlen. Unter dem Eindruck des alliierten Vormarsches holten deutsche Widerstandskämpfer am 20. Juli 1944 zum vergeblichen Schlag gegen die Diktatur aus. Sie starben für ein besseres Deutschland.
Die Soldatenfriedhöfe und die Narben der beiden Weltkriege haben den Völkern Europas, besonders dem deutschen Volk, eine andauernde Pflicht auferlegt: Rassismus, Antisemitismus und totalitären Ideologien zu widerstehen. Unsere Ziele heißen Freiheit, Gerechtigkeit und ein würdiges Leben für alle - in Frieden, ohne religiösen Hass, ohne nationalen Hochmut und politische Verblendung. Wir setzen auf das Erbe der Aufklärung, auf Toleranz und auf die tröstliche Schönheit der europäischen Kultur. Diese Ziele zu retten, war und bleibt der Auftrag des 6. Juni 1944. Europa hat seine Lektion gelernt, und gerade wir Deutschen werden sie nicht verdrängen. Europas Bürger und ihre Politiker tragen Verantwortung dafür, dass auch anderswo Kriegstreiberei, Kriegsverbrechen und Terrorismus keine Chance haben.
Meine Damen und Herren, der Sturz der Hitler Diktatur war das Werk der Alliierten in West und Ost. Unvergessen sind auch die Millionen Nazi-Opfer in Osteuropa, unvergessen sind nicht nur die Frauen und Männer der westlichen Allianz, sondern auch jene russischen Soldaten, die ihr Leben für die Befreiung ihrer Heimat gaben.
Niemand wird die furchtbare Geschichte der Hitler-Herrschaft je vergessen. Meine Generation ist in ihrem Schatten aufgewachsen: Das Grab meines Vaters, eines Soldaten, der in Rumänien fiel, hat meine Familie erst vor vier Jahren gefunden. Ich habe meinen Vater nie kennen lernen dürfen.
Meine Damen und Herren, es ist nicht das alte Deutschland jener finsteren Jahre, das ich hier vertrete. Mein Land hat den Weg zurück in den Kreis der zivilisierten Völkergemeinschaft gefunden. Es war ein langer Weg zu einer erfolgreichen und stabilen Demokratie. Die Bürger im Osten Deutschlands haben in einer friedlichen Revolution 1989 die kommunistische Diktatur gestürzt, die Freiheit erreicht und die Einheit gewonnen. Doch ohne die Hand, die auch Frankreich meinem Land in Großmut und politischer Weisheit reichte, hätten wir den Weg, der zur Wiedervereinigung führte, nicht vollenden können.
Und Ihnen, Herr Präsident, bin ich in besonderer Weise für ihre stetige Hilfe und ihren stetigen Einsatz für die gemeinsamen Ziele dankbar. Es ist ein guter Tag, heute, am 6. Juni 2004 Frankreich und seinen Verbündeten für all das, was sie für Deutschland und seine demokratische Entwicklung getan haben, zu danken.
Zum Sturz der Hitler-Diktatur brauchte es Patrioten und Soldaten. Weil wir Deutsche das wissen, sind wir keine Pazifisten. Wir sind aber auch nicht leichthin bereit, zu militärischen Mitteln zu greifen. Wo militärisches Eingreifen jedoch nötig war und ist, entzieht sich Deutschland seiner Verantwortung für Frieden und für Menschenrechte nicht.
Meine Damen und Herren, wir schauen auf die Schlachtfelder Europas in großer Trauer. Umso dankbarer sind wir dafür, dass Frankreich und Deutschland heute einander näher stehen denn je zuvor. Aus nationalistischem Irrsinn ist europäische Partnerschaft geworden. Lassen Sie uns diesen Tag des Erinnerns nutzen, um unser gemeinsames Friedenswerk voranzutreiben. Wir wollen ein vereintes, freiheitliches Europa, das seine Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit auf dem eigenen Kontinent und in der Welt wahrnimmt. Das ist unsere Hoffnung. Hoffnung stand auch am Anfang der deutsch-französischen Freundschaft. Vertrauen und Verlässlichkeit sind heute ihr Kennzeichen. Was am 6. Juni 1944 unmöglich schien, ist wahr geworden, weil die Menschen in unseren beiden Ländern es so wollten.
Verehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich möchte als Beispiel das Schicksal des deutschen Soldaten Hans Flindt aus Usedom erwähnen. Er hat in der Normandie gekämpft und kam in Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung heiratete er eine Französin und blieb in diesem wunderbaren Land. Heute sagt der 78-jährige über den 6. Juni 1944: "Es war für uns alle der Beginn eines neuen, glücklichen Lebens."
Denjenigen, denen vor 60 Jahren dieses glückliche Leben verwehrt wurde, gilt unsere Erinnerung, unser tiefer Respekt. Wir wissen, ihr Tod war nicht vergeblich: Wir leben in Freiheit und Frieden. Dafür danken wir ihnen. Unser Versprechen ist und wird bleiben: Wir werden die Opfer niemals vergessen!