Redner(in): Christina Weiss
Datum: 07.06.2004
Untertitel: In ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden am 7. Juni 2004 im Bundesrat in Berlin beschreibt Kulturstaatsministerin Christina Weiss das Hörspiel als eine Schule des Hörens.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/33/664033/multi.htm
vor zwei Wochen erschien im "Spiegel" ein Artikel über junge Menschen in Kalifornien, die auf steilen Gebirgspfaden wandern und im unwegsamen Gelände mit ihren Mountainbikes herumrasen. Keine besonders ungewöhnlichen Freizeitbeschäftigungen, könnte man meinen. Doch die jungen Kalifornier orientieren sich ausschließlich mit dem Gehör. Zum Erkunden des Raumes nutzen sie eine uralte Technik der Orientierung, die der in dem Artikel vorgestellte Amerikaner Dan Kish wieder entdeckt und verfeinert hat: Sie schnalzen mit der Zunge und können am Echo, das die Gegenstände zurückwerfen, nicht nur deren Entfernung, Lage und Größe orten, sondern sogar deren Form erkennen.
Die Frauen und Männer, um die es in diesem Artikel ging, sind blind. Ihnen ist - anders als den meisten Sehenden - schon immer klar gewesen, dass man die Welt erhören kann. Der blinde Dan Kish berichtet, wie er als Kind auf die
höchsten Bäume kletterte. Er erinnert sich: "Wenn ich mit der Zunge schnalzte, konnte ich die Dächer ringsum hören. Dann kletterte ich immer höher, bis ihr Echo verschwunden war. Um mich herum nur Äste und Himmel und unter mir die Vögel." Heute, mit 38 Jahren, hat Kish die Technik so verfeinert, dass er sogar Maschendrahtzäune hören kann. In einer Schule bringt er sie anderen Blinden bei und ermutigt sie, ihrem Hörsinn noch mehr zu vertrauen, als sie es ohnehin schon tun.
Wie mir scheint, hat diese Geschichte viel mit dem Preis zu tun, der heute hier verliehen wird. Wie diese jungen Amerikaner waren auch die deutschen Kriegsblinden, die sich 1951 auf Initiative von Friedrich Wilhelm Hymmen entschlossen, eine jährliche Auszeichnung für das beste Hörspiel zu vergeben, eine Avantgarde des Hörens. Herausgefordert durch ihr Schicksal erkundeten sie mit besonderer Sensibilität einen Sinn, den die breite Mehrheit gegenüber der Weltwahrnehmung mit den Augen vernachlässigt. In dem "Spiegel" -Artikel heißt es an einer Stelle einmal, dass das eben beschriebene Sehen mit den Ohren geradezu als Inbegriff des Außermenschlichen gilt - man traut das nur Fledermäusen zu. Wie abgestumpft das Hörempfinden vieler Menschen ist, sehen wir auch daran, dass so viele Radfahrer mit Walkmen-Kopfhörern im Straßenverkehr herumfahren - dabei könnte das Ohr gerade sie, die besonders Verletzlichen, oft früher vor der herannahenden Gefahr warnen als es das Auge tut. Solche Ignoranz ist ein junges Phänomen in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit: Unsere Vorfahren wussten noch, dass ein knackender Ast oder raschelndes Laub einen unsichtbaren Feind verraten konnten. Und sie waren dankbar, wenn sie in der vollkommenen Dunkelheit der vor-elektrischen Nächte, ihren dann nahezu nutzlosen Seh-Sinn durch Hörwahrnehmungen ergänzen konnten. Vielleicht erinnern wir uns heute an solche Wahrheiten, wenn wir einen Stein in einen Brunnen werfen, um herauszufinden wie tief er ist.
Das Hörspiel ist eine Schule des Hörens. Weil auch in dieser Schule ohne pädagogischen Eros nicht gelernt wird, muss es aber zuallererst eine Verführung zum Hören sein. Niemand weiß das besser als die Kriegsblinden. Anders als Menschen, die blind geboren sind, mussten sie sich meist sehr plötzlich mit dem Verlust des Augenlichts abfinden. Sie zahlten den Preis für einen Krieg, den die wenigsten von ihnen gewollt hatten und in den gerade diejenigen, die heute noch leben und die nun hier anwesend sind, als sehr junge ahnungslose Menschen hineingezogen wurden. Etwas von der Niedergedrücktheit, die viele von ihnen empfanden, schimmert noch in der Formulierung aus den Anfangsjahren des Preises durch, die da lautet: "Wir suchen also jenes Hörspiel, das vom Menschlichen her uns anredet und uns eine Hilfe gibt, mit dem Dasein besser fertig zu werden oder die Zusammenhänge und Aufgaben unseres eigenen Lebens besser zu verstehen."
Aber natürlich formuliert dieser schöne, wahrhaftige Satz nicht nur ein Bedürfnis der Kriegsblinden, sondern einen ganz elementaren Wunsch, mit dem viele Menschen an Kunstwerke herangehen. Erst recht galt das wohl in der Nachkriegszeit. 1951 war man von der Selbstzufriedenheit der Wirtschaftswunderjahre noch weit entfernt. Die Katastrophe, die das Leben aller Deutschen beeinflusst hatte, war noch nicht verdrängt. Die Kriegsblinden konnten sich also mit hohem Recht zum Stellvertreter jener Millionen Menschen machen, die im damals noch einzigen Massenmedium Radio den Hörspielen lauschten. Auch weil, wie es der damalige Intendant des Hessischen Rundfunks Eberhard Beckmann gesagt hat, bei einer Hörspielsendung alle Hörer sozusagen blind sind.
Diese Historie ist im Namen des Preises, dessen Verleihung wir heute festlich begehen, für alle Ewigkeit eingeschrieben. Machen wir uns nichts vor: Wir alle haben schon einmal erlebt, dass uns unser Gegenüber befremdet bis belustigt angeschaut hat, wenn wir vom "Hörspielpreis der Kriegsblinden" geredet haben. Dahinter stecken eben auch eine Unfähigkeit und ein Unwille zum genauen Hinhören. Es ist die spontane Abwehr einer geschichtsvergessenen und leidensfernen Zeit, die nicht mehr so viel davon hören möchte, dass es hier einmal einen Krieg gab, der Menschen in mehr als einer Hinsicht blind gemacht hat.
Nach den Regeln des modischen Produktmanagements ist der Name "Hörspielpreis der Kriegsblinden" ja auch ganz objektiv eine Katastrophe. Wenn heute noch einmal ein ähnlicher Preis ausgelobt würde, dann würde man vermutlich eine Kommission aus Namensdesignern berufen. Und am Ende hieße der Preis dann "Audio Award" oder "Listeners Choice".
Nicht nur deshalb bin ich sehr froh, dass alle Debatten über eine Namensänderung oder gar eine Einstellung des Preises, wie sie im vergangenen Jahr geführt wurden, vom Tisch sind. Ganz egal, wie sich die Jury zusammensetzt: Mit dem Namen "Hörspielpreis der Kriegsblinden" verbinden sich ein historisches Gewicht, eine Verantwortung und eine Ernsthaftigkeit, die aufzugeben weder im Sinne der Kriegsblinden noch der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen sein kann - und erst recht nicht im Sinne all der anderen, die sich für Hörspiele interessieren.
Die Zahl der Menschen, die ihren Ohren trauen, hat sich in den vergangenen Jahren gewaltig erhöht. Das so genannte "Hörbuch" ist zum Massenmedium geworden. Oft genug handelt es sich bei den dort präsentierten Audio-Versionen von Literatur um hörspiel-artige Aufbereitungen oder um Mitschnitte der leider auch im öffentlich-rechtlichen Kulturradio immer mehr gefährdeten Radio-Lesungen. Aber die Hörbuchbranche beschert auch "echten" Hörspielen ein zweites Leben auf CDs. Und der Gedanke an solche Zusatzverwertungen hat umgekehrt die Lust der Radiosender auf Hörspiele erneut beflügelt.
Das war ja nicht immer selbstverständlich. Anfang der neunziger Jahre galt das Hörspiel außerhalb der Kreise seiner engsten Liebhaber als kauziges und aussterbendes Genre. Heute lädt ein Berliner Radiosender sein Publikum zu "Hörspielnächten unterm Sternenhimmel" im Planetarium Prenzlauer Berg ein, und diese Veranstaltungen sind Kult.
Noch eine zweite Tendenz der letzten Jahre hat die Vitalität des Hörspiels beflügelt: Es gibt unübersehbar ein neues Interesse junger und experimentierfreudiger Autoren an diesem Genre. Es ist wieder so wie in den fünfziger Jahren, als fast jeder Schriftsteller selbstverständlich auch fürs Radio schrieb. Die Ursachen dieser Renaissance der künstlerischen Neugier sind vielfältig. Sie haben einerseits mit einem generell wieder erwachten Interesse an der dramatischen Form zu tun - es gab ja vor zehn Jahren auch fast gar keine jungen Autoren, die fürs Theater schrieben, und auch das hat sich gründlich geändert. Andererseits - und das ist vielleicht noch entscheidender - muss doch das Hörspiel einer Generation als ureigene Ausdrucksform nahe liegen, deren Lieblingsmusik weniger auf instrumentaler Virtuosität als auf Studiozauberei beruht. Gerade Hiphop-Schallplatten mit ihren vielen musikfremden Klangeffekten, mit ihren pausenlosen Übergängen zwischen den Stücken, mit ihrem erzählenden Charakter und mit den dramatischen Rollen, in die die Rapper schlüpfen, sind doch oft genug so eine Art Hörspiele.
Mit der aktuellen Popkultur hat allerdings die in diesem Jahr preisgekrönte Hörspielproduktion nur wenig zu tun. Die Verbindung besteht vor allem in der Person des Regisseurs Karl Bruckmaier, der seit langen kompetent in Buch und Zeitung über Musik schreibt, und manches von den dort gesammelten Hörerfahrungen wohl auch auf unaufdringliche Weise in seine Inszenierungsarbeit einfließen lässt. Und vielleicht darf man die Hauptfigur Jackie Bouvier-Kennedy-Onassis wohl auch eine Pop-Ikone nennen. Dieser Titel wird heute zwar inflationär verliehen, aber doch selten mit so viel Berechtigung wie bei ihr.
Die Autorin des ausgezeichneten Hörspiels ist selber so eine Art Ikone. In Theaterinszenierungen ihrer Stücke genügen oft wenige optische Signale, um eine Schauspielerin als ein Abbild oder eine Chiffre der Elfriede Jelinek erkenntlich zu machen. So berühmt ist sie sogar bei denen, die von ihren einzigartigen Texten irritiert oder gar abgestoßen sind.
Wie manche von Ihnen wissen, gehöre ich ganz und gar nicht zu jener Gruppe der Jelinek-Skeptiker. Denn Elfriede Jelinek und ich sind uns in den vergangenen Jahrzehnten des öfteren begegnet. Mal persönlich, mal rein geistig als Teilnehmer an einer Debatte, die durch ihre Texte ausgelöst wurde - als Literaturkritikerin besonders an der Debatte um das Buch "Lust".
Später hatte ich dann als Hamburger Kultursenatorin das Glück, insgesamt vier Uraufführungen von Jelinek-Dramen miterleben zu dürfen. Die erste war Jossi Wielers Inszenierung von "Wolken Heim" - eine der Eröffnungspremieren des Intendanten Frank Baumbauer, der von 1993 an das Deutsche Schauspielhaus wieder zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Bühnen machte. Eineinhalb Jahre später folgte "Raststätte", in einer längst legendären, hellwachen und bitterbösen Skandalinszenierung von Frank Castorf. Beide Male ist mir die Schauspielerin Marion Breckwoldt unvergesslich geblieben, eine der großen Persönlichkeiten des Baumbauer-Ensembles. Auch für sie ist Elfriede Jelinek offenbar eine andauernde Herausforderung. Es hat mich besonders gefreut, Marion Breckwoldts Stimme jetzt im "Jackie" -Hörspiel wieder zu begegnen. Besser wäre es wahrscheinlich zu sagen: Ihren Stimmen. Aber es gehört heute nicht zu meinen Aufgaben, das Sprachereignis zu preisen, das sie aus dem Text macht. Dafür gibt es eine Laudatio.
Ich zügele also meine Begeisterung und komme zum Ende meiner Rede. Denn auch bei den geübten und leidenschaftlichen Zuhörern, die hier versammelt sind, gibt es doch eine Grenze des Fassungsvermögens. Ich danke dem Bund der Kriegsblinden Deutschlands für die Erfindung dieses Preises und dafür, dass er nun schon seit weit mehr als fünfzig Jahren für Qualität bürgt. Ich danke der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen dafür, dass sie seit 1994 diese wichtige Auszeichnung mitträgt. Und ich gratuliere den Schöpfern des preisgekrönten Hörspiels ganz herzlich. Auch ihnen vielen Dank.