Redner(in): Christina Weiss
Datum: 09.06.2004
Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss verleiht den Architekturpreis Taut-Stipendium 2004 am 9. Juni 2004 im Bundeskanzleramt in Berlin. Das Stipendium ermöglicht den besten Absolventen der deutschen Architekturschulen einen Auslandsaufenthalt.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/13/665213/multi.htm
Reisen bildet - eine Binsenweisheit, und doch scheint es Berufsgruppen zu geben, die aus einer "Bildungsreise" mehr intellektuelles Kapital schlagen als andere. Zimmerleute gehören traditionell dazu, auch Kunsthistoriker und Journalisten. Am stärksten aber inspiriert die Fremde noch immer Architektinnen und Architekten, Stadtplanerinnen und Stadtplaner.
Im Unvertrauten weitet sich das Vertraute. Der ältesten Kunst des Menschen - dem Hausbau und der Stadtgestaltung - schenkt das Reisen neue Sichtweisen und neue Formen. Dabei gibt es kaum mehr jenen Reisekanon aus Renaissance, Barock oder Aufklärung, der Rom und Athen, Paestum und Jerusalem vereinte. Man kann heute wie Schinkel nach Sizilien aufbrechen oder wie Gilly in die preußische Provinz. Man kann sich in England auf die Spuren von Hermann Muthesius begeben oder es in Russland Leo von Klenze gleich tun. Man kann sich Schritt für Schritt oder eben doch direkt seinem Traumziel nähern. Man kann aber auch, wie Le Corbusier, die Reise selbst zum Ziel ausrufen. - Für welche Route, für welchen Ort man sich auch immer entscheidet, das Wichtigste ist, dem Fernen und dem Unbekannten, dem Neuen und dem Andersartigen offenen Herzens und offenen Blicks gegenüberzustehen.
Landschaften, Straßen, Städte, Plätze und Gebäude speisen den Bilder- und Inspirationsvorrat eines jeden Architekten, und wir haben das Taut-Stipendium ins Leben gerufen, um den besten Absolventen der deutschen Architekturschulen durch einen gut ausgestatteten Auslandsaufenthalt das Sammeln von möglichst vielen prägnanten Bildern und Erfahrungen zu ermöglichen. - Sie sind in diesem Jahr für Ihre außergewöhnlichen Abschlussarbeiten von einer fachkundigen Jury ausgewählt worden, und ich freue mich, Sie im Bundeskanzleramt begrüßen zu können. Womöglich gehört dieses außergewöhnliche Haus ja bereits zu den ersten Entdeckungen auf Ihrer nun bald beginnenden Reise.
Bevor Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, nun gleich Gelegenheit haben, uns Ihre Arbeiten vorzustellen, möchte ich nicht versäumen, eine zweite Hoffnung zu formulieren, die ich - über Ihre persönliche wie berufliche Bildung hinaus - mit der Verleihung unseres Taut-Stipendiums verbinde: Es meint eher eine Verheißung auf neue, engagierte wie kreative und auch ungewöhnliche Antworten. Es geht um herausfordernde Antworten auf die drängendsten Fragen, die sich im Prozess der gerade erst beginnenden und notwendigen Reform unseres Landes stellen. Auch in den Bereichen Architektur und Städtebau bedarf unsere Gesellschaft Mut zur Veränderung und phantasievolle Anstöße zu mehr Flexibilität und zur Schaffung von guten Gemeinschaftsräumen.
Hatten Architektinnen und Architekten, Planerinnen und Planer bislang vornehmlich damit zu tun, den Aufschwung zu verwalten, Wachstum zu steuern, Freiräume zu erobern und Nachfragen zu befriedigen - besser, schöner und / oder mehr zu bauen als bisher - , sind sie nun immer öfter mit Stagnation und Schrumpfen, mit Fragen der Nachhaltigkeit und des "Rückbaus" konfrontiert. Bevölkerungsrückgang, Wohnungsleerstand und "schrumpfende Städte" sind längst kein spezifisches Problem der neuen Bundesländer mehr. In ganz Europa stellt sich die Frage, wie sich Städte oder sagen wir besser: verstädterte Regionen entwickeln werden. Immer öfter klaffen Planungsziele und Baurealitäten weit auseinander. Immer öfter ist das Mögliche nicht mehr das Machbare. Alte Fragen erscheinen in einem neuen Licht: Wie sieht die Zukunft unserer Innenstädte aus?
Wie die der Vororte, der "Speckgürtel", der landwirtschaftlich geprägten Regionen? Welche neuen Ansätze finden wir für den Denkmalschutz, der längst moderne und postmoderne Gebäude erreicht hat? Welche Zukunft hat der Individualverkehr in Zeiten des Klimawandels und endlicher Ressourcen? "In welchem Stile sollen wir bauen?" - wenn wir überhaupt bauen können...
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte hier keine Horrorszenarien beschwören. Ich umreiße nur - ganz knapp - Themengebiete, mit denen sich viele, wenn nicht gar die meisten von Ihnen in einem gerade erst beginnenden Berufsleben beschäftigen müssen. Wie viele Gesellschaften vor uns so leben auch wir in einer Zeit des Umbruchs.
Für Sie, meine Damen und Herren, hat die dritte Revolution gerade erst begonnen, wie der Pariser Urbanist François Ascher kürzlich auf einer Tagung in Berlin bemerkte. Sie stehen am Beginn tief greifender Umwälzungen, die sich nur mit der Renaissance und der industriellen Revolution vergleichen lassen. Beiden Zeitaltern ist es gelungen, den gesellschaftlichen Wandel architektonisch zu begleiten, und so liegt es nun auch an Ihnen, die Unbestimmtheit des Jetzt so präzise wie möglich zu identifizieren, um ihre Auswirkungen auf die Formen des urbanen Lebens abzuschätzen und Steuerungsinstrumente für diese Strukturveränderung zu entwickeln. Unsere Zeit verlangt nach neuen urbanen Antworten, die sich nicht auf die immer wieder andere Anordnung oder Ausgestaltung von Bauvolumen beschränkt. Die Parameter Form und Funktion allein greifen nicht mehr.
Sie müssen mit neuen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Prozessen zusammen gedacht werden. Wir benötigen ein neues Gestaltungs- und Raumdenken, das vom Anspruch her zwar ähnlich umfassend und weitreichend sein müsste wie das der Moderne - Bruno und Max Taut waren hier ja nur zwei der Protagonisten. Ohne neue Raumbilder, ohne eine neue architektonische Metaebene kommen wir nicht weiter. - Oder, um es noch einmal mit den Worten François Ascher zu sagen: "Zu oft vertreten Gestalter noch die Ansicht, das Schöne komme nach dem Funktionalen, Architektur reduziere sich auf Dekoration, städtisches Design sei ein Luxus, Landschaft bestehe einzig darin, ein wenig Petersilie auf den Beton zu setzen, Töne und Gerüche seien belangslose Erscheinungen." ( aus: "Architecture on the Move" ) - Unsere Hoffnung ist es, dass es gerade die "Taut-Stipendiaten" sein mögen, die diese ausgetretenen Pfade der Ignoranz verlassen.
Es sind nicht die architektonischen Glanzlichter, die der deutschen Architekturszene fehlen. Und es ist auch nicht allein das mangelnde Geld, das richtungweisende Entwürfe verhindert, wie viele meinen - nochmals erinnere ich an die Gebrüder Taut, denen gerade größte Sparsamkeit besonders beeindruckende Gebäude bescherte. Was uns fehlt sind schlüssige Konzepte, die mit dem Phänomen unserer Zeit - der "Zwischenstadt" etwa - umzugehen verstehen. Zwischenstadt, Patchwork-Stadt oder Metapolis - das sind zwar alles Vokabeln des aktuellen Diskurses, die so schillernd sind wie die Phänomene, die sie beschreiben. Doch noch immer sind sie deskriptiv; realistische Konzepte bleiben Mangelware. Dabei geht es mir gar nicht um einen neuen Stil, nicht um allgemein verbindliche Regeln oder ideologische Richtwerte.
Wir brauchen Experimente, die auf Programmen basieren, die auch Außergewöhnliches zulassen und mit Fehlplanungen und Irrtümern umgehen können. Mit einem Wort, wir brauchen mutigere Architekten ( und Stadtplaner ) .
Ihr Auslandsaufenthalt soll Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, auch auf diese Aufgabe vorbereiten. In Deutschland allein kann man die Instrumente für die Lösung globaler Probleme nicht finden. Freuen Sie sich daher auf Ihren nächsten Lebensabschnitt. Lassen Sie sich von der Unbestimmtheit nicht lähmen, sondern beflügeln. Erkennen Sie neue Gestaltungschancen und öffnen Sie sich ihnen mit vorurteilsfreier Neugier. Vor allem aber, hier wiederhole ich gern meinen Appell an die Vorjahresgewinner: Kommen Sie zurück! Deutschland braucht Sie.
Vielen Dank