Redner(in): Christina Weiss
Datum: 14.06.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Christina Weiss eröffnet mit ihrer Rede "Die Rolle der Museen im vereinten Europa" das Symposium zum 10jährigen Bestehen im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/87/667787/multi.htm


in seinem Buch "Vom Ursprung des Museums" diskutiert der polnisch-französische Philosoph Krzysztof Pomian, ob es die "fundamentale Dualität der menschlichen Psyche" sei, die bei uns den Wunsch wecke,"das Unsichtbare sichtbar zu machen" und uns dazu bringe, als "sichtbare Wesen einen Kontakt mit dem Unsichtbaren als solchem" zu suchen. Die "Dualität unserer Psyche" erscheint dabei als Motor, der nicht nur uns Menschen, sondern auch das Museum an sich antreibt, denn nichts auf der Welt ist so unsichtbar wie das Vergangene. Zwar geben uns heute auch die Medien die Chance, einen mehr oder minder realen Blick in die Geschichte zu werfen. Doch die elektronischen Bilder besitzen nicht jene Aura des Authentischen, die uns im Museum zu fesseln versteht, ganz egal, ob wir ihr in einem Kunstmuseum oder einem Museen für Technik oder Naturkunde begegnen. Nur die Aura eines Originals, einer Inkunabel oder eines Relikts ist in der Lage, die Tiefen unserer Psyche zu erreichen und eben jenen Kontakt herzustellen, der trotz ( oder gerade wegen ) der medialen Bilderflut unserer Zeit unsichtbar bleibt. Welchen besonderen Stellenwert der museale Kontakt zu unserer eigenen Vergangenheit hat, wird dabei ganz besonders in einem Geschichtsmuseum offenbar, und Ihr Haus hier in Bonn, lieber Herr Professor Schäfer, zeigt trotzt mancher Schmähung beispielhaft, wie man eine Sammlung klug und öffentlichkeitswirksam gestalten und zum wahren Bildgedächtnis eines Staates machen kann.

Wie kann aus einem Museum ein Gedächtnisraum werden, der es den Besuchern erlaubt, auf engstem Raum große Zusammenhänge zu begreifen? Gerade die europäische Museumslandschaft hält dafür viele Antworten parat: Ein Museum kann seinen Besuchern Bildung und Zerstreuung anbieten, seine Sammlung darf unsere Neugier aber auch unseren Wissensdurst bedienen. Museen können ein großes intellektuelles, aber auch ein freudiges Vergnügen bereiten. Ein Vergnügen, das mit dem etwas schroffen Wort von der "Belehrung" längst nicht mehr verbunden wird."Aufklärung!" sollte vielmehr über jedem Museumsportal stehen, obwohl dies Versprechen auch Anstrengung bedeuten kann. Sich mit der Geschichte, mit hellen und dunklen Kapiteln unseres Kontinents, mit der Kunst der Zeit und der Kunst in der Zeit auseinander zu setzen, ist so schwierig wie unabdingbar, und so kommt den Museen eine nicht zu unterschätzende Funktion im Gefüge einer jeden Gesellschaft zu: Museen wirken integrativ auf unser Selbstbild, und sie stellen es zugleich immer wieder zur Diskussion.

Dieser dialogische Prozess ist es, der aus den Museen das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft macht, in dem sich deren Struktur und Eigenart materialisieren. Und so lebt das Museum vor allem durch seine Nutzung, durch seine Besucher, die sich mit den Dingen auseinandersetzen, die zusammengetragen wurden, um dem Vergessen entgegenzuarbeiten, um Wurzeln zu schlagen in Verständnis und Erinnerung. Das Sammeln, Bewahren und Präsentieren ist aber zugleich auch - und das sei hervorgehoben - eine Positionsbestimmung unserer eigenen Anschauung von der Welt und damit so pluralistisch und veränderlich beweglich wie diese. Ganz gleich, ob wir uns in einer großen Sammlung befinden oder in einem Heimatmuseum: immer stellen Museen Fragen nach unseren Lebenszusammenhängen und versuchen, ihrem Publikum eine Antwort mit nach Hause zu geben; oder auch nur eine Frage, was mitunter noch viel wertvoller sein kann.

Selbst die Geschichte der Institution Museum, der Idee Museum liefert uns interessante Einblicke in ein sich wandelndes Weltbild. Als in der frühen Neuzeit sowohl Herrscher als auch betuchte Privatleute damit begannen, Sammlungen zusammenzutragen, die allesamt einen enzyklopädischen Charakter trugen, folgten sie einem paneuropäischen Phänomen, das Rom, Amsterdam und Paris, Leipzig, Berlin und Prag, Krakau und Moskau miteinander verband. In einem einheitlichen Kulturraum handelten sie nach den gleichen Werten und waren am Beginn einer verwissenschaftlichten Weltbetrachtung in gewissem Sinne sogar schon etwas weiter als wir "modernen" Europäer, die erst im Europa der 25 beginnen, einen historisch gewachsenen und gewaltsam zerteilten Kulturraum neu zu entdecken. In ganz Europa waren in ihrer Zeit die florentiner Medici-Sammlungen legendär, oder das im 17. Jahrhundert in Rom aufgebaute "Museum Kircherianum", das sein Besitzer als Spiegel der Welt und ihrer Geschichte verstand. Durch Reisebeschreibungen und pompöse Prachtdrucke gewannen die Kunstkammern der großen Residenzstädte schnell an Berühmtheit und entwickelten sich zu den Keimzellen großer Museen, die von Anbeginn "jedem Gebildeten" offen standen - wie es zumeist einschränkend hieß. Ihr intellektueller Wert blieb dabei vom ersten bis zum heutigen Tag unschätzbar, und so schrieb der Kameralist Paul Jakob Marperger bereits 1704, Museen könnten "einem verständigen Anschauer tausend Gelegenheiten geben, seinen Verstand zu ergötzen und täglich reicher an guten Einfällen und Gedanken zu werden." Treffender kann man es auch heute nicht sagen.

Als ich gebeten wurde, mich auf Ihrem Symposium zur Bedeutung der Museen im vereinten Europa zu äußern, veranlassten meine ersten Überlegungen sofort einen Selbsttest. Warum reise ich, worin bestehen die Gründe, mitunter entlegende Orte im eigenen und anderen Ländern aufzusuchen? Sind es die Museen oder historischen Stätten an diesen Orten, die Erinnerungs- und Gedenkplätze, die die private Reise wesentlich motivieren?

Ohne Ihrer Versammlung schmeicheln zu wollen: natürlich ist es häufig so. Die meisten von uns reisen nach Petersburg, um in die Eremitage zu gehen, nach Paris und London, um den Louvre oder das British Museum zu sehen, zu den Pinakotheken in Warschau oder Prag. Wir suchen aber auch das Ruhrgebiet auf, wo eine alte Industriekultur museal neu erlebbar ist, oder wir fahren nach Seiffen ins Erzgebirge, das seine alte Tradition, Spielzeug herzustellen, mit einem Museum präsentiert."Reisen bildet", wie es gemeinhin heißt, das Bereisen von Museen lehrt aber nicht nur etwas von dem dort gezeigten. Ein Besuch ist - wenn man so will - auch immer eine soziale Erkundung, die dem Museumsbesucher etwas über ein fremdes Land, eine fremde Mentalität offenbart. Kurz gesagt: Museen sind die Schaufenster unserer Kultur, unserer Geschichte und unseres Wissens. Sie künden davon, worauf Menschen stolz sind, sie erzählen von ihren Leistungen, von ihren Erfahrungen und sozialen Verbindlichkeiten. Sie verschweigen aber auch die dunklen Seiten unserer Geschichte nicht. Sie berichten davon, dass gewaltsame Auseinandersetzungen, Kriege und Pogrome Schatten auf eine Gesellschaft warfen und fordern damit zum Nachdenken und zur Selbstreflexion auf.

Grenzen im engeren Sinne gibt es bei dieser Aufgabe nicht. Rund 35 000 Museen zählen die europäischen Länder. Sie zeigen - das kann man ohne Umschweife sagen - geradezu alles, was sich mit unserer materiellen und immateriellen Kultur verbindet. Sie spiegeln die Vielfalt der Ethnien bis hinunter in das kleine Dorf mit seiner Heimatstube. Sich diese virtuelle Wissenskammer in ihrem Ausmaß zu denken, sprengt wohl unser Vorstellungsvermögen, doch zugleich ist diese Zahl faszinierend. Sie zeigt doch, wie wichtig den Bürgern aller Länder, aller Regionen diese Orte sind, wie gut in ganz Europa verstanden wird, was für eine starke, integrative Kraft Museen entwickeln können. Geschätzte 500 Millionen Menschen besuchen sie jährlich, mehr als ihren Weg in die Fußballstadien finden - ohne dass mit dieser Aussage die gesellschaftliche Relevanz des Fußballs geleugnet werden soll, schließlich ist für 2006 die Eröffnung eines Deutschen Fußballmuseums geplant! Vielmehr belegt diese Zahl - trotz aller zyklisch wiederkehrenden Unkenrufe - die Lebendigkeit des Systems Museum - seiner Methode, durch Ausstellungen Sachzusammenhänge zu erläutern und dabei auf Kurzweiligkeit und Unterhaltung seines Publikums nicht zu verzichten. Tausende von vielköpfigen Vereinen, die sich der Unterstützung von Museen und ihrer Arbeit verschrieben haben, fördern in den einzelnen Ländern mit ehrenamtlichem Engagement "ihr" Museum. Mitunter sichern sie nichts weniger als seine Existenz, indem diese Bürger nicht nur Geld, sondern auch ihre Arbeitskraft unentgeltlich zur Verfügung stellen.

Wie wichtig dieses bürgerliche Engagement für das Leben und Überleben eines Museums ist, wissen Sie sicher am allerbesten. In Zeiten stagnierender oder gar sinkender Etats sichern Förderer und Freunde "ihr" Museum, machen es Mäzene sogar möglich, neue Sammlungsteile zu erwerben, ja ganze Museen neu zu errichten. Die Überzeugung, die Stefan Zweig seinem Sammler in "Die Welt von Gestern" in den Mund legt, dass er sich "nie als den Besitzer dieser Dinge empfand, sondern nur als ihren Bewahrer in der Zeit", könnte heute als eine Anregung zum Weiterdenken dienen.

Es ist eine Tradition des Humanismus und der Aufklärung, dass sie der Bildung und den Orten, wo sie stattfindet, die größte Bedeutung bei der Erziehung des Menschen zuweisen. Über die Jahrhunderte hinweg blieb dies die semantische Konstante eines Museums. Dass dabei in absolutistischen, diktatorischen Gesellschaftssystemen diese Rolle missbraucht wurde, bedarf kaum der Erläuterung. Die unzähligen tendenziösen Ausstellungen und musealen Inszenierungen, die allein während der Naziherrschaft in unserem Land stattfanden, sind Legionen. Indem sie heute selbst Gegenstand von Ausstellungen werden, führen sie ex negativo zur Erkenntnis manipulativer Vorgänge und stärken damit die Kritikfähigkeit der Ausstellungsbesucher. Mit der Kraft, sich selbst in kritischer Reflexion zu betrachten, beweisen sich die Museen somit auch als Plattform der Verständigung und der Zusammenarbeit, die weit über Ländergrenzen hinweg gelingen kann. Sie bieten sich an als Forum für Fragen nach gemeinsamer historischer Identität und Herkunft, sie weisen auf die Teilhabe an Werten und Überzeugungen hin und legen die Irrtümer der Vergangenheit offen. Gerade kulturhistorische Ausstellungen belegen mit ihren oft supranationalen Themen auf welche Weise geistiger und künstlerischer Austausch zwischen den Ländern Europas, aber auch über dessen Grenzen hinaus, funktioniert hat. Museen wie die verschiedenen ethnologischen Sammlungen bieten mit ihrem Blick auf die außereuropäische Kultur - die uns mitunter trotz "des Thailänders" und "des Inders" um die Ecke noch fremd erscheint - die Möglichkeit, wesentliches zu erfahren.

Gerade aber dem Zusammenwachsen mit unseren osteuropäischen Nachbarn, die nun seit wenigen Wochen offiziell zur EU gehören, können und müssen die Museen eine wichtige Stütze bilden. Hier sind besonders Ausstellungen in der Lage, eine Brückenfunktion beim Dialog der Länder zu erfüllen. Bietet doch die oft über weite Strecken gemeinsame Geschichte - gleich ob sie unter einem guten oder schlechten Stern stand - reiches Material für eine diskursive Auseinandersetzung und zugleich ein Näherrücken. So könnten wir zum Beispiel lernen, unseren Blick auf Osteuropa zu schärfen und von hinderlichem Klischeeballast zu befreien; umgedreht aber auch unsere Beweggründe fern von jedem Revanchismusverdacht verdeutlichen. Gemeinsame Geschichte zu erkennen, sie aufzuarbeiten, bedeutet die Chance zur Vermeidung alter Fehler im Zusammenleben. Aus diesen alten Zusammenhängen Schlüsse für das Heute zu ziehen, ist der pragmatische Endzweck solcher zwischenstaatlicher musealer Unternehmungen.

Viel ist hier schon vorzuweisen. Seit Jahrzehnten gibt es die großen historischen Ausstellungen unter den Auspizien des Europarates, die sich auf vielfältige Weise dem europäischen Kulturraum und seinem Gefüge, seiner Entstehung widmen. Und in den letzten Jahren haben Projekte an Zahl gewonnen, die anhand regionaler Phänomene oder Geschichten Historie greifbar werden lassen. So ging es beispielsweise von polnischer Seite aus, dass die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg und das "Zentrum Kultury Zamek" in Poznan gemeinsam eine Ausstellung mit einem zweisprachigen Katalog realisierten, die sich dem einzigen Schlossneubau Wilhelms II. widmete. Als "Zwingburg im Osten" errichtet, wurde das Schloss nach 1945 vorm Abriss bewahrt und ist heute ein lebendiges Kulturzentrum. Seine Mitarbeiter wandten sich ganz bewusst nach Potsdam, da man gemeinsam an die deutsch-polnische Geschichte dieses außergewöhnlichen Gebäudes erinnern wollte.

Oder denken Sie an Saarbrücken, wo seit ein paar Tagen unter dem Titel "Ètrangement proche / Seltsam vertraut" eine Ausstellung nach dem Verhältnis französischer und deutscher Künstler in der Betrachtung unserer Gegenwart fragt. Und dass für das Jahr 2007 die Eröffnung des Musée de l'Europe in Brüssel vorgesehen ist, brauche ich an dieser Stelle kaum erwähnen.

Wenn man davon spricht, etwas ins zu Museum geben, kann das mitunter einen etwas despektierlichen Beiklang erhalten. Etwas, was dem Leben keinen unmittelbar praktischen Nutzen mehr erweist, wird als Reliquie der Vergangenheit dazu abgestempelt, im Schatzhaus Museum zu verstauben. Dass dies schon immer eine eindimensionale Betrachtung war, ist offensichtlich. Sie entspringt eher einer Denkfaulheit, als dem wahren Charakter eines Museums. Aber Sie alle wissen, wie schwer es ist und welch verschlungene Wege bisweilen beschritten werden müssen, um mitdenkende Besucher zu erreichen. Sie nicht allein zum passiven Konsum, sondern zur Nachdenklichkeit zu verleiten, ist die Aufgabe des modernen, zeitgemäßen Museums. Es ist, lassen Sie es mich so ausdrücken: seine traditionelle Aufgabe.

Vielen Dank!