Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 15.06.2004
Untertitel: "Es ist im unmittelbaren Interesse der Wirtschaft, das, was Deutschland immer stark gemacht hat und immer noch Faktor Nummer eins bei der Standortauswahl ist, nämlich qualifiziert ausgebildete Arbeitskräfte, wie es sie nirgendwo sonst in dieser Zahl gibt, zu erhalten, und zwar des Zusammenhalts der Gesellschaft wegen, aber eben auch aus ökonomischer Vernunft." so der Bundeskanzler.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/69/670469/multi.htm
Verehrter, lieber Herr Präsident Kwasniewski, verehrter, lieber Herr Präsident Rogowski!
Wir sehen uns weltweit - eben nicht nur in Europa - rasant schnellen Veränderungsprozessen ausgesetzt. Die Frage, die wir uns in Europa, in Deutschland stellen müssen, ist die, ob wir Schritt halten, ob wir teilnehmen wollen an dem Prozess der Veränderung oder ob wir glauben, wir könnten uns dagegen stellen, gleichsam eine neue intellektuelle, politische, ökonomische Mauer um unser Land herum bauen. Täten wir Letzteres, würden wir einen großen Fehler machen, und zwar nicht nur für die heute lebende Generation, sondern mehr noch für diejenigen, die nach uns kommen: unsere Kinder und deren Kinder. Nicht zuletzt für künftige Generationen tun wir das, was sich mit dem Begriff "Agenda 2010" verbindet.
Aber zunächst einmal: Die Veränderungsprozesse, von denen ich gesprochen habe, sind Veränderungsprozesse sowohl nach außen als auch nach innen. Deutschland definiert in diesen Zeiten seinen Platz neu. Deutschland muss ihn neu definieren. Ich erinnere an den 60. Jahrestag des "D-Day" am 6. Juni, den wir gemeinsam - die damaligen Alliierten und Deutschland - begangen haben. Dieses Ereignis hat deutlich gemacht, dass Deutschland mitten in diesem Veränderungsprozess seinen Platz als ein normales europäisches Land definiert, und zwar als Partner von Ländern, die in früheren Zeiten Gegner waren. Ich gehöre zu denjenigen, die sagen: Ein größeres Glück als diese Partnerschaft mit ehemaligen Gegnern kann Deutschland gar nicht widerfahren.
Herr Präsident Kwasniewski, ich bin Ihnen und auch Ihrer Regierung sehr dankbar dafür, dass Sie mir die große Ehre zuteil werden lassen, zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes Ihr Gast sein zu dürfen. Das bietet uns eine Möglichkeit, von der ich glaube, dass wir sie beide jedenfalls von Herzen wollen: Die Möglichkeit, den gleichen Prozess der Aussöhnung, der Normalisierung, der endgültigen Überwindung der Nachkriegszeit, der sich in dem 6. Juni 2004 in der Normandie widerspiegelte, auch bezogen auf Polen zu vollenden. Ich glaube, ein größeres Glück für die handelnden politischen Persönlichkeiten, aber vor allen Dingen für die Menschen in unseren beiden Ländern ist kaum denkbar. Ich würde es mir wünschen.
Wir sind mitten in diesem Prozess der Überwindung all dessen, was historisch zwischen uns stand. Ich bin davon überzeugt, dass wir und erst recht die Menschen das schaffen. Die Tatsache, dass Polen Mitglied der Europäischen Union ist, erlaubt uns dann einen weiteren Schritt, nämlich den Prozess der Überwindung der Nachkriegszeit, der Aussöhnung mit Russland, ohne dass es je wieder zu Lasten von Polen gehen könnte. Auch dies ist eine historische Möglichkeit von sehr großer Bedeutung, die es jetzt gibt und die man nicht verstreichen lassen darf.
Es ist richtig, was Sie, Herr Präsident Kwasniewski, gesagt haben, nämlich dass wir Europa in eine feste partnerschaftliche Beziehung zu Russland bringen wollen, denn ohne diese Beziehung gibt es keinen dauerhaften Frieden und kein dauerhaftes Wohlergehen für Europa. Es ist richtig, dass dieses Europa Partner und Freund der Vereinigten Staaten von Amerika sein muss. Übrigens von Vereinigten Staaten, die - das hat sich auf dem letzten G8 -Gipfel in den Vereinigten Staaten bewiesen; das ist Kennzeichen der Resolution der Vereinten Nationen zum Irak - erkannt haben, dass man militärische Auseinandersetzungen, Kriege allein gewinnen kann, für das Gewinnen von Frieden aber verlässliche Freunde und Partner braucht. Und das wollen wir sein. Das werden wir sein.
Wir sind weitergekommen, in diesem Sinne Deutschlands Platz in der Welt und damit in Europa neu zu definieren. Ich denke, es kann ruhig auch deutlich werden, dass das ein erfolgreicher Weg, eine Bewegung in die richtige Richtung gewesen ist und bleiben wird. Wir müssen jetzt erklären, dass dies natürlich innenpolitische Konsequenzen hat. Die Vorstellung also, alles um unser Land herum verändert sich, aber im Innern könnte alles so bleiben, wie es ist, ist falsch.
Was bedeutet das? Wir haben zwei Entwicklungslinien, mit denen wir uns in der Innen- , Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auseinander setzen müssen. Es sind politische Entwicklungslinien, die man auch nicht wegschieben kann. Die eine hat etwas mit dem Thema dieser Jahrestagung zu tun, mit den Veränderungen an der wirtschaftlichen Basis nicht nur unserer, sondern der europäischen, ja der Weltgesellschaft überhaupt, und zwar unter dem Stichwort Globalisierung.
Letztlich heißt Globalisierung, dass der Wettbewerb nicht nur zwischen Unternehmern, sondern inzwischen auch zwischen Volkswirtschaften härter geworden ist, und zwar sehr viel härter als je in der Vergangenheit. Natürlich hat der polnische Präsident ein gutes Recht zu sagen: "Kommt zu uns. In Polen habt ihr Möglichkeiten zu produzieren, zu investieren. Wir haben gut ausgebildete Leute." Richtig gemacht kann das beiden Seiten helfen. Aber natürlich muss verstanden werden, dass in Deutschland Menschen vor diesem Prozess Angst haben, weil sie glauben, Vertrautes, für sich Bewährtes preisgeben zu müssen. Das muss gar nicht so sein. Aber zunächst einmal sind das die Ängste, mit denen wir umzugehen haben.
Auf die Entwicklungslinie Globalisierung eine Antwort zu finden heißt, sich im Innern zu verändern und den Wettbewerb anzunehmen. Und es heißt zu begreifen, dass ein sich entwickelndes, ein prosperierendes Polen für uns als Deutsche eine viel größere Chance ist, als es augenblicklich Belastungen mit sich bringt. Wir können aus der Entwicklung der neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch für die deutsche Wirtschaft und damit für die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine "win-win" -Situation machen. Wenn Polen gewinnt und seine wirtschaftliche Entwicklung mit der gleichen Dynamik vorantreibt, dann wird Deutschland davon profitieren, weil wir in fast allen Bereichen die Nummer eins auf den polnischen Märkten sind. Das ist unsere Chance, die wir ergreifen müssen.
Die zweite Entwicklungslinie hängt mit den Veränderungen des Altersaufbaus unserer Gesellschaft zusammen. Dieses Älterwerden unserer Gesellschaft und die Tatsache, dass bei uns zu wenig Kinder geboren werden, drückt auf die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherheitssysteme. Daher gilt: In einer älter werdenden Gesellschaft müssen auch die sozialen Sicherungssysteme verändert werden, damit wir sie erhalten können. Wir wollen sie erhalten.
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, wird viel über Gerechtigkeit diskutiert. Aber was heißt das denn? Wenn ich mir die augenblickliche Debatte anschaue, habe ich das Gefühl, dass der Begriff der Gerechtigkeit nur auf die heute lebende Generation bezogen wird. Aber ist das nicht eine Definition von Gerechtigkeit, die verkürzt ist? Müssen wir Gerechtigkeit nicht auch gegenüber kommenden Generationen definieren? Gegenüber unseren Kindern und deren Kindern? Sie haben ein Anrecht darauf. Dies bedeutet, dass wir die Ressourcen, über die wir verfügen, auch den künftigen Generationen zur Verfügung stellen müssen. Sie haben ein Recht auf ein ebenso gutes Leben, wie wir es uns erkämpft haben. Das bedeutet wiederum, dass wir die sozialen Sicherungssysteme in allen Bereichen verändern müssen, um Ressourcen frei zu bekommen für die Zukunftsaufgaben Bildung, Betreuung von Kindern, Forschung und Entwicklung. Das sind die Aufgaben, die vor uns stehen. Dafür müssen wir die gegenwärtigen und zu einem guten Teil auch die zukünftigen Mittel mobilisieren.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns also mit der Verteilungsfrage nicht nur innerhalb der Generationen, sondern auch zwischen den Generationen befassen. Das ist die Aufgabe, die wir mit der "Agenda 2010" anpacken. Was bedeutet das im Einzelnen?
Es bedeutet erstens, dass wir bei der Rente auf die veränderte Situation im Altersaufbau unserer Gesellschaft reagieren müssen. Das ist unabwendbar, wenn wir die Alterssicherung für die künftigen Generationen bezahlbar und für die jetzige Generation so sicher machen müssen und wollen, wie es in einer sich verändernden Gesellschaft geht.
Wir haben zweitens eine Gesundheitsversorgung und Gesundheitsvorsorge in Deutschland, die weltweit seinesgleichen sucht, bei der Prinzip ist, dass das medizinisch Notwendige unabhängig vom persönlichen Einkommen getan wird. Aber wir mussten dafür sorgen, dass ein Trend gebrochen wird, der darauf hinauslief, dass dieses System auch dann genutzt wurde, wenn man es nicht nutzen musste. Diese Fehlentwicklung hat Kosten verursacht, die von aktiven Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf der einen Seite und den Unternehmen auf der anderen Seite aufgebracht werden mussten. Das hat zu Wettbewerbsschwierigkeiten geführt.
Die Erfolge der Gesundheitsreform sind inzwischen spürbar - und wir können es bei den Überschüssen der Krankenkassen errechnen. Die Menschen beginnen jetzt einzusehen, dass man mit dem Gut Gesundheitsversorgung und Vorsorge sorgsam umgehen muss. Es ist inzwischen klar, dass sich die Gesundheitsreform auszuzahlen beginnt, und zwar im Übrigen auch bei der Möglichkeit zur Beitragssenkung, bei der ich davon ausgehe, dass sie auch von denen gemacht wird, auf die es ankommt. Dies hat wiederum positive Einflüsse auf die Lohnzusatzkosten.
Drittens werden wir auch bei der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte in Deutschland weitere Schritte tun müssen. Mein Eindruck ist, dass die letzte Tarifrunde auch ein paar Einsichten bei den gesellschaftlich handelnden Akteuren und nicht nur bei der Politik in Richtung von mehr Flexibilität geschaffen hat. In meinen Gesprächen mit Unternehmen, auch mit dem Präsidium des BDI, kommt immer, wenn wir über Flexibilisierung reden, der Einwand: "Na ja, in meinem Betrieb kriege ich das überall in guten Gesprächen mit den Betriebsräten und auch mit den Gewerkschaften hin." Was folgt daraus? Daraus folgt, dass wir miteinander dafür sorgen müssen, dass wir die Verbandserklärungen auf allen Seiten den betrieblichen Realitäten anpassen müssen, damit es möglich ist, flexibler nach Auftragslage zu produzieren.
Ich sagte: Wir müssen die sozialen Sicherungssysteme verändern, um sie erhalten zu können, aber auch um Ressourcen für Zukunftsinvestitionen frei zu bekommen. Bei Forschung und Entwicklung befinden wir uns - Staat und Wirtschaft - bereits auf einem guten Niveau. In Europa stehen wir mit 2,5 % Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt an dritter Stelle, und zwar vor allen anderen großen Industrienationen. Aber Schweden und Finnland liegen deutlich vor uns. Wir müssen und wir wollen zu ihnen aufschließen. Wir müssen deshalb das Ziel, das wir uns in dieser Dekade gesetzt haben, miteinander auf einen Forschungsanteil von 3 % zu kommen, auch erreichen. Ein Land, das so rohstoffarm ist wie wir, ist auf die Ausbeutung dessen angewiesen, was in den Köpfen seiner Menschen ist.
In dem Zusammenhang: Präsident Rogowski hat zu Recht das Hin und Her beim Zuwanderungsrecht beklagt. Ich tue das auch. Ich hoffe, wir werden in dieser Woche einig. Es sieht auch so aus. Aber eines muss uns dabei klar sein: Wir können das, was wir in dieser Dekade, erst recht in der nächsten, an Fachkräften für unsere Wirtschaft brauchen, nicht allein durch Zuwanderung mobilisieren. Deswegen müssen wir auch mehr Ausgaben für Betreuung von Kindern aufbringen, damit gut ausgebildete Frauen Familie und Job besser als je zuvor übereinbekommen. Das ist nicht nur ein Gebot der Geschlechtergerechtigkeit, das ist auch ein Gebot ökonomischer Vernunft.
Ich bin froh darüber, dass wir den Ausbildungspakt machen. Wir wollen ihn auf jeder der beiden Seiten einhalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass so viel Einsicht - bei aller Kontroverse über die Instrumente - auf Seiten der Politik einerseits und auf Seiten der Wirtschaft andererseits da sein wird, um zu begreifen, dass die Fachkräfte von morgen die Auszubildenden von heute sind. Es ist im unmittelbaren Interesse der Wirtschaft, das, was Deutschland immer stark gemacht hat und immer noch Faktor Nummer eins bei der Standortauswahl ist, nämlich qualifiziert ausgebildete Arbeitskräfte, wie es sie nirgendwo sonst in dieser Zahl gibt, zu erhalten, und zwar des Zusammenhalts der Gesellschaft wegen, aber eben auch aus ökonomischer Vernunft. Deswegen hoffe ich, dass wir uns in dieser Woche auf einen solchen verbindlichen Pakt einigen können, den wir miteinander dann auch gesellschaftliche Wirklichkeit werden lassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man in Deutschland ein Gefühl dafür breiter publik macht, in welchen Prozessen wir uns nach außen befinden und welche Konsequenzen das nach innen haben muss, dann werden wir auch die Gemeinschaftsanstrengung dafür aufbringen, um diesen Prozess zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
Präsident Rogowski hat sozusagen dazu aufgefordert, dabei zu bleiben. Das ist kein Problem - jedenfalls ist es keines für mich. Ich habe 2002 hoch umkämpft einen Auftrag bekommen. Heute treffe ich den einen oder anderen, der angesichts der Schwierigkeiten sagt: "Gott sei Dank, dass du das damals noch einmal gewonnen hast." Das gibt es auch. Ich habe damals den Auftrag bekommen, das, was ich skizzenhaft erläutert habe, nicht nur zu sagen, sondern auch zu machen. So wird es sein, und zwar so lange und so weit das Mandat reicht: bis 2006. Ich sage: es reicht zunächst. Man wird sich noch wundern. Für mich jedenfalls - und das zeichnet sowohl mein berufliches als auch mein politisches Leben aus - hat immer gegolten, was weiter gelten wird: Wer kämpft kann verlieren. Aber wer nicht kämpft, hat schon verloren. Das will ich auf keinen Fall. In diesem Sinne viel Erfolg für Ihre Tagung.