Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 25.06.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Jahrestagung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft am 25. Juni 2004 in Leipzig
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/92/674792/multi.htm


Sehr geehrter Herr Dr. Oetker, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, verehrter, lieber Herr Altbundespräsident Scheel!

Herr Dr. Oetker hat über die Wissensgesellschaft gesprochen und darüber, welche Schwierigkeiten auf dem Weg in diese Wissensgesellschaft entstehen können. Ich möchte einige Bemerkungen dazu machen, aber zunächst respektvoll sagen: Wenn es den Stifterverband nicht gäbe, müsste man ihn erfinden, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Er ist ein geglücktes Beispiel dessen, was man "Public Private Partnership" nennt, und dies schon über Jahre. Im Verband und durch die Arbeit des Verbandes zeigt sich nach meiner Meinung sehr eindrucksvoll, dass Kennedys berühmter Satz: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage besser, was du für dein Land tun kannst", durchaus lebendig ist in dem, was Sie materiell, aber eben auch ideell tun. In der Arbeit wird deutlich, dass keine Rede davon sein kann, dass es in Deutschland zu wenig Engagement der Zivilgesellschaft gibt. Wenn ich mich richtig an die Zahlen erinnere, so kann sich die Arbeit des Stifterverbandes im Jahr 2003 sehen lassen. Das vom Stifterverband verwaltete Stiftungskapital ist um rund 30 Prozent gestiegen.

Übrigens, Herr Dr. Oetker, was den Bund und dessen Ausgaben für Forschung und Entwicklung angeht, so ist es nicht richtig, dass diese zurückgegangen sind. Seit 1998 ist es uns, bei allgemein schwieriger Finanzsituation, gelungen, die Ausgaben für diesen Haushalt um rund 25 Prozent zu steigern. Wir sind durchaus stolz darauf, dass das möglich gewesen ist. Auch was den Haushalt 2005 angeht, wird es keine Kürzungen geben und auch das Drei-Prozent-Ziel für die Grundlagenforschung wird erreicht werden. Das kann sich in schwierigen Zeiten durchaus sehen lassen. Wir jedenfalls wissen, dass wir Deutschland nur nach vorn bringen können, wenn wir es schaffen, weg von Vergangenheitssubventionen und hin zu Zukunftsinvestitionen zu kommen.

Wir könnten - ich will das gerade in Anwesenheit des Ministerpräsidenten sagen - in dieser Dekade über zehn Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung mobilisieren, wenn uns dieser Sprung weg von Vergangenheitssubventionen und hin zu Zukunftsinvestitionen gelänge. Ich will ein Beispiel nennen. Viele Jahrzehnte gab es in Deutschland eine weit verbreitete Wohnungsnot. Abgesehen von einigen Ballungszentren gibt es diese Not nicht mehr. Im Osten des Landes ist sogar eher Wohnraum im Übermaß vorhanden, und wir müssen Geld aufwenden, um den Rückbau von Wohnraum zu finanzieren. Daher müsste es möglich sein, die Mittel für die Eigenheimzulage auslaufen zu lassen und diese frei gewordenen Ressourcen in Wissenschaft und Forschung zu investieren.

Sie haben Recht, dass Deutschland im europäischen Maßstab eine recht gute Position einnimmt. Wir liegen mit unseren Forschungsinvestitionen an der Spitze der großen Industrieländer, aber weit hinter Schweden und Finnland. Wir könnten mit den zusätzlichen Ressourcen ganz an die Spitze kommen. Nach meiner Auffassung gehören wir dort hin. Und wir werden dort hinkommen, wenn wir Zukunftssicherung wirklich betreiben und nicht nur darüber reden. Das wäre ein Punkt, an dem man deutlich machen könnte, dass in einem föderalen System gleichwohl Entscheidungen, und zwar schnelle Entscheidungen, im Sinne der Zukunftssicherung möglich sind. Wir verbinden dies mit der Bitte an die Mehrheit im Bundesrat, positiv auf diesen Vorschlag zu reagieren, um die frei gewordenen Ressourcen aus der Eigenheimzulage in Forschung und Entwicklung zu investieren. Ich jedenfalls glaube, dass das der richtige Weg wäre, und setze darauf, dass wir, anders als beim Zuwanderungsrecht, nicht fast vier Jahre brauchen, diesen notwendigen und richtigen Weg einzuschlagen.

Der Prozess der Agenda 2010, in dem wir uns gerade befinden und der von harten und sehr kontroversen Diskussionen in unserer Gesellschaft begleitet wird, ist die Antwort auf zwei zentrale Herausforderungen.

Die erste ist mit dem Stichwort "Globalisierung" verbunden - Globalisierung in den Märkten und als Folge dessen ein ungeheuer verschärfter Wettbewerbsdruck, der nicht nur einzelne Unternehmen erfasst, sondern ganze Volkswirtschaften.

Die zweite Herausforderung ist durch einen radikal veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft definiert.

Diese Veränderungen drücken auf die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme. Diesen beiden Herausforderungen treten wir mit der Agenda 2010 entgegen. Das bedeutet, dass wir die sozialen Sicherungssysteme umbauen müssen, zum einen um diese Systeme zukunftsfest zu machen, und zum anderen um Ressourcen frei zu bekommen, um sie in Bildung, Forschung und Entwicklung und - ich füge hinzu - in Betreuung von Kindern zu investieren.

Das sind die Aufgaben, die wir als Reaktion auf diese Herausforderungen vor uns haben. Ich denke, dass diese Aufgaben keineswegs von der Politik allein zu lösen sind, sondern dass sie Angelegenheit der gesamten Gesellschaft werden müssen, weit mehr noch, als sie es gegenwärtig sind. In diesem Zusammenhang kann der Stifterverband eine antreibende Rolle spielen, wenn er sich in die Diskussion um eine Modernisierungsstrategie in dem gekennzeichneten Bereich, aber zum Beispiel auch für die Hochschule einmischt. Ich will deutlich machen: Wir sind für jede Diskussion - mit Ihnen und mit der Gesellschaft insgesamt - dankbar. Ich möchte jedoch deutlich werden lassen, dass wichtige Entscheidungen für mehr Flexibilität und mehr Wettbewerb an den Hochschulen bereits getroffen worden sind, zum Beispiel hinsichtlich der auch nicht unkontroversen Frage, wie der Personalkörper der Hochschulen beschaffen sein soll. Ich bin fest davon überzeugt, dass das, was wir mit den Juniorprofessuren auf den Weg gebracht haben, richtig ist. Das, was in etlichen Ländern, die dafür allein zuständig sind, im Hinblick auf mehr Autonomie für die Hochschulen in Gang gesetzt worden ist, ist ebenfalls ein richtiger Weg. Aus mehr Autonomie für die Hochschulen kann auch mehr Wettbewerb zwischen den Hochschulen entstehen. Und - dessen bin ich sicher - wird auch entstehen.

Wir sind also auf einem vernünftigen Weg, auch was die Investitionen in diesen Bereich angeht. Außerdem haben wir Erfolge bei der Modernisierung des Systems Hochschule und auch der Forschungssysteme insgesamt.

Sie können aus guten Gründen sagen: "Das reicht nicht. Die Entscheidungsfindung in unserem föderalen System ist zu langsam." Das spricht übrigens nicht gegen das föderale System als solches, aber es spricht schon gegen einige Fehlentwicklungen, die wir abstellen müssen. Als dieses System im Jahre 1949 etabliert wurde, war das Verhältnis zwischen zustimmungspflichtigen Gesetzen und nicht zustimmungspflichtigen Gesetzen 10:90. Heute sind zwei Drittel der Gesetze zustimmungspflichtig und ein Drittel nicht. Dass dies zu Unbeweglichkeiten im System und des Systems führt, liegt auf der Hand. An diese Unbeweglichkeiten müssen wir herangehen. Das heißt, wir müssen dazu kommen - es scheint, die Bundestagskommission schafft das - das System effektiver zu machen, übrigens auch, um es europafest zu machen. Ich kann den Herrn Ministerpräsidenten beruhigen. Ich war selber lange genug Ministerpräsident, so dass ich um den Wert des Systems weiß. Ich weiß aber auch um seine Schwächen. Genau die Schwächen müssen wir beseitigen, wenn wir unser System transparenter und effektiver machen wollen. Insofern habe ich die Ankündigung, dass Sie sich gutachterlich äußern werden, nicht als Drohung, sondern als Hilfe verstanden.

Eine Bemerkung will ich zum Thema Bildung machen. Bei allem Respekt vor den Zuständigkeiten der Länder in diesem Bereich brauchen wir eine nationale Anstrengung, um besser zu werden. Wir brauchen in diesem Bereich mehr an Zusammenarbeit. Wir brauchen in diesem Bereich übrigens nicht Vereinheitlichung in jedem Fall, aber schon mehr Einheitlichkeit bei der Definition der Ziele, die wir mit unserer Bildungspolitik erreichen wollen. Ich hoffe, dass wir das in der nächsten Zeit schaffen können. Bei gutem Willen müsste das möglich sein. Wir befinden uns mitten in diesem Prozess. In dieser Legislaturperiode finanzieren wir mit vier Milliarden Euro eine bessere Ausstattung unseres Bildungssystems mit Ganztagsbetreuung.

Das hat drei Gründe.

Der erste Grund liegt darin, dass wir Begabungsreserven in unserem Volk, die wir mobilisieren müssen, wenn wir erfolgreich bleiben und erfolgreicher werden wollen, nur dann ausschöpfen können, wenn wir zur Ganztagsbetreuung übergehen. An der Pisa-Studie war der Hinweis interessant, dass wir es uns mangels Betreuung in dieser Gesellschaft leisten, Begabungsreserven unausgeschöpft zu lassen.

Der zweite Grund hängt damit zusammen, dass wir Gerechtigkeitsgesichtspunkte realisieren müssen, in diesem Fall Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern in der Nutzung von Chancen, insbesondere von beruflichen Chancen. Diesbezüglich liegt in Deutschland vieles im Argen. Andere europäische Länder sind, was die Chancengleichheit von Frauen angeht, sehr viel weiter als wir.

Und es gibt eine dritte, eine ökonomische Begründung: Wir werden in dieser Dekade in etlichen Bereichen einen Mangel an Fachkräften erleben. Die Vorstellung - selbst auf der Basis eines neuen Zuwanderungsrechtes - , dies könnte man mit Zuwanderung allein ausgleichen, ist nicht überzeugend, weil es die Integrationskraft unserer Gesellschaft übersteigen würde. Es bleibt nur die Konsequenz, durch Angebote in der Bildungspolitik dafür zu sorgen, dass das kreative Potenzial der Frauen in Deutschland besser genutzt werden kann als je in der Vergangenheit.

Das wird nur funktionieren, wenn Kinderbetreuung in Deutschland sehr viel besser wird. Auch das ist übrigens nicht nur eine Aufgabe der staatlichen Stellen auf unterschiedlichen Ebenen, nein, es ist auch eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft und nicht zuletzt der Wirtschaft.

Wir befinden uns mitten in einem schwierigen Reformprozess, der gekennzeichnet ist durch die Tatsache, dass wegen einer Praxisgebühr von zehn Euro im Vierteljahr eine fast "vorrevolutionäre Situation" in Deutschland entsteht. Man muss sich einmal vorstellen, was das an Unbeweglichkeit einer Gesellschaft bedeutet, die sich bewegen muss, wenn sie erfolgreich bleiben will.

Diese Unbeweglichkeit und das gelegentliche Ausnutzen dieser Unbeweglichkeit haben zwei Gründe:

Erstens. Wenn Sie heute in Deutschland eine Umfrage zur Reformnotwendigkeit machen, erhalten Sie eine Zustimmung von über 80 Prozent, solange nach abstrakter Veränderungsbereitschaft gefragt wird. Sie erhalten das genau gegenteilige Ergebnis, wenn Gruppen- oder Einzelinteressen von dieser Veränderungsnotwendigkeit betroffen sind. Dies ist eine der enormen Schwierigkeiten, Reformprozesse nicht nur in Gang zu setzen, sondern sie in reichen Gesellschaften auch erfolgreich zu Ende zu bringen.

Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass es eine zeitliche Kluft zwischen den Belastungen, die mit jeder Veränderung verbunden sind, und den positiven Ergebnissen, die sich als Folge der Veränderungen einstellen werden, gibt. Diese zeitliche Kluft macht es unerhört schwierig, Reformen durchzusetzen, weil man politisch ganz leicht in diese Lücke hineinfallen kann. Ich weiß auch in diesem Zusammenhang, wovon die Rede ist. Das können Sie an jüngsten Wahlergebnissen ablesen.

Aber wenn dieser angeschobene Reformprozess, der sich mit der Agenda 2010 verbindet, aus welchen Gründen auch immer - wegen der Unwilligkeit zur Bewegung in der Gesellschaft, wegen der politischen Machtauseinandersetzung, die erlaubt ist in einer Demokratie - scheitert, dann wird er schwer wieder in Gang zu setzen sein, und zwar unabhängig davon, wer es denn versuchte. Ich stimme Ihnen, Dr. Oetker, zu, wenn Sie sagen, wir hätten keine Zeit zu verlieren. Ich glaube zudem, dass die gesamte Gesellschaft - bei aller berechtigten Kritik im Einzelnen - ein Interesse daran hat, dass dieser Reformprozess gelingt. Er muss gelingen, weil Deutschland nicht nur eine Verantwortung für sich selber hat, sondern als größte europäische Volkswirtschaft auch eine Verantwortung für dieses geeinte Europa trägt.

Das sind die Gründe, warum wir den eingeschlagenen Weg erfolgreich durchsetzen müssen. Und das sind die Gründe, warum Institutionen wie der Stifterverband, Institutionen, die aus der Zivilgesellschaft heraus gewachsen sind, eine Verpflichtung haben, den eingeschlagenen Reformweg zu unterstützen. Dies zu tun, darum will ich Sie abschließend bitten. Und im Übrigen möchte ich noch einmal zum Ausdruck bringen, dass unser Land Ihre Arbeit respektiert und schätzt. Das war so, das ist so, und das wird auch so bleiben.

Für Ihre Tagung wünsche ich Ihnen alles erdenklich Gute.