Redner(in): Christina Weiss
Datum: 27.06.2004

Untertitel: Mit einer Festrede eröffnete Kulturstaatsministerin Weiss die Münchner Opernfestspiele 2004.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/55/673855/multi.htm


willkommen im Palast der Verwandlung! Wer hier hereinschreitet, oft zwischen klassischen Säulen hindurch, meist edler gewandet als sonst, der wird als ein anderer hinauskommen. Ist er nur offenen Auges und Ohrs. Die Literatur, die bildende Kunst, die Musik, das Theater, sie alle erheben und entführen uns, bereichern Sinne, Emotion und Verstand, verwandeln uns sogar - im besten Falle, weil eine intensive Erfahrung nicht mehr verloren geht. Überführen uns in eine andere, nicht unbedingt bessere Welt: Die der Hoffung, der Utopie. Auch die des schönen Scheines. Und die der Abgründe. Wir blicken auf andere Lebensentwürfe und sehen - exemplarisch - auch einen Teil von uns selbst wieder.

Doch nichts ermöglicht diese Wandlung, die eine Verwandlung sein kann, so nachhaltig wie das die gesamten Künste vereinende Gesamtkunstwerk Oper. Seit vierhundert Jahren erst, erstanden aus einem Gelehrtenirrtum, weil man glaubte, so das antike Drama mit Gesang und gebundenem Vers wieder geboren zu haben. Die Oper wurde aus kleinen, verschwiegenen Anfängen zu einem Fest der Sinne und Sinnlichkeiten von erstaunlicher Breitenwirkung. Im Frankreich und Italien des 19. Jahrhunderts galt man als Komponist nichts, wenn man in der Oper gescheitert war. Oder sich ihr erst gar nicht stellte. Andere Komponisten wie Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi, Puccini, Meyerbeer und Gounod, aber auch der alle überstrahlende Richard Wagner, sie sind vorwiegend Komponisten für das Musiktheater gewesen.

Schnell war alle Philologie vergessen, man berauschte sich an den nie so gehörten dramatischen Klängen und Farben, dem Zauber einer Ausstattung. In der Oper hören, schauen wir gebannt, freuen uns, leiden mit. Es gibt keinen der sich, sitzt er erst einmal im Saal, diesem Zauber entziehen kann.

Die Oper stellt den singenden Menschen in den Mittelpunkt. Das ist künstlich und naturhaft zugleich, grandios und anrührend. Wenn wir im Alltag etwas nicht mehr sagen können, flüstern oder schreien wir es heraus. Wenige, Privilegierte dürfen es auf einer Opernbühne singen. Mit höchsten Koloraturen und tiefster Bassschwärze. Und diese Künstlichkeit des klingenden Tons, sie kommt uns emotional näher als jedes Wort. Besonders wenn sie sich zum Duett oder Ensemble verschlingt und steigert. Die großen Opern-Tableaux, sie tragen uns widerstreitendes oder harmonisierendes menschliches Sein in einer Komplexität entgegen wie nirgends sonst.

Die Oper ging immer auch mit der Zeit. Aus einem Adelsspielzeug der wenigen wurde ein Massenphänomen. Die Verherrlichung des Herrschenden als Thema wich, wie in anderen Kunstformen auch. Neben den gesellschaftlichen Entwürfen blieben doch meist die demokratischen, mehr oder weniger sublim ausgestalteten Urmotive Liebe, Sex, Eifersucht und Mord.

Die Oper wurde uns Bürgerlichen so lieb und wertvoll, dass sie im Mittelpunkt unserer Städte meist eines der prächtigsten Gebäude erhielt - und bis heute unsere modernen Kulturetats in der Regel mit den höchsten Einzelposten belastet. In der Oper versammeln wir uns immer noch, sie führt ein sinnvoll geordnetes Gemeinwesen zusammen, um im Parkett wie auf dem letzten Stehplatz eine kollektive Erfahrung zu machen. Denn zum Glück kann sich nicht jeder Separatvorstellungen leisten, wie der nicht nur wagnersüchtige König Ludwig II. von Bayern sie zu seiner einsamen Plaisir in dem prächtigen Opernhaus Karl von Fischers nebenan genossen hat.

Vielleicht strömt das Publikum nicht mehr überall so fanatisch wie früher, doch nach wie vor erweist es sich als erwartungsgespannt, diskursfreudig, später lachend, tränenfeucht, emporgehoben oder auch enttäuscht.

Oper ist uns wichtig. Oper ist wichtig. Nach wie vor für jeden erschwinglich, wenn auch nicht auf allen Plätzen und zu allen Zeiten. Man muss Oper nur wollen. Oper muss sein. Oper muss für alle sein. Eine Erziehung zur Oper, wie sie früher noch weitverbreitet war, tut nicht mehr Not, ist aber durchaus nützlich. Diese freilich kann nicht nur im privaten Rahmen geleistet werden. Sie hat weiterhin unabdingbarer Teil unseres Erziehungssystems zu sein, das nicht nur Computerexperten und Börsensurfer, Mikrobiologen und Vorstandsvorsitzende heranzuziehen hat, Facharbeiter, kaufmännische Angestellte und Handwerker, sondern den ganzheitlichen, zum Humanen fähigen Menschen. Dazu gehört ästhetische Erziehung, die ja das spielerischste und sinnlichste Fach sein kann. Zur Ausbildung von Subjektivität ist es notwendig, sich für Musik zu sensibilisieren, sich von Musik berühren zu lassen, egal ob sie uralt ist oder der jüngste Tageshit.

Die Oper ist in der Krise und im Aufwind, sie wird groß geredet und klein gemacht - seit es sie gibt. Auch das hat sie mit den anderen Künsten gemein. Und doch ist sie anfälliger, weil sie komplexer ist - und so aufwändig. Oper ist eine altmodische, eine handwerkliche Kunst. Sie braucht die Fertigkeiten vieler Spezialisten in zum Teil anderswo längst verschwundenen Berufen und das rare Talent großer Künstler, zusammengeführt in hoffentlich glücklicher Konstellation.

Sie alle arbeiten auf die eine Entladung dieses Könnens, dieser Kraft und dieser Visionen hin, um sich schließlich in den wenigen Stunden des Opernabends zu verströmen. Viele auf der Bühne und noch mehr hinter den Kulissen. Versagt eine helfende Hand ist der Erfolg diese so fragilen, immer in Echtzeit vor uns ablaufenden Produkts gefährdet.

Ein Opernabend ist von Menschen für Menschen verfertigt. Er entsteht zeitgleich mit unserem Erleben. Von vielen hinter den Kulissen, unsichtbar, wird für uns, im dunklen Zuschauerraum, der Zauberkasten der Szene bespielt. Eine hochkomplexere Form des gleichzeitigen, lebendigen Zusammenwirkens aller Künste hat sich das Menschengeschlecht nie erdacht.

Dabei ist Oper natürlich auch Illusion, Lüge, Betrug, ein "Als Ob" aus Stahl, Holz, Pappe und Farbe, aus Schminke, Klängen, Raum, Licht und Bewegung. Trotzdem ist Oper immer Wahrheit. Weil wir gebannt Teilnehmende sie für uns empfinden - und mit den anderen um uns, in der Stille des atemlosen Raumes aufsaugen, kollektiv und ritualhart. Wo gibt es ähnliches noch?

Oper ist da, um uns zu beglücken und zu bereichern. Vielleicht auch herauszufordern, zu provozieren. Denn Oper war nie schöner als Rest der Welt. Nur vielleicht ein wenig trügerischer in ihrem Schein, den freilich die Realität draußen unweigerlich einholen wird. Ehret eure deutschen Meister, dann bannt Ihr gute Geister! Und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst, zerging' in Dunstdas heilige römische Reich, und bliebe gleichdie heilige deutsche Kunst! "

Diese - umstrittenste - Passage aus den "Meistersingern" von Richard Wagner singt Hans Sachs in seiner Schlussansprache seit der Uraufführung durch Hans von Bülow 1868 am Münchner Nationaltheater, wo der Komponist auf Befehl des König die Ovationen stehend in der Mittelloge entgegen nahm. Und Hans Sachs wird sie auch übermorgen singen, wenn diese nicht nur komische "Oper in 3 Aufzügen" nach 25 Jahren eine Neuinszenierung durch Thomas Langhoff, mit Zubin Mehta am Pult erfährt. Wie, in welchem Kontext, in welcher Interpretation der Regisseur sie uns anbieten wird, darauf dürfen wir gespannt sein wie bei jeder Neuinszenierung, die jede Oper jeweils wieder in eine neue Lesart, in eine neue Deutung überführt.

Diese Passage, die ganze Oper "Meistersinger" überhaupt, hat in den Jahren seit 1868 einiges durchgemacht. Sie ist national, nationalistisch und nationalsozialistisch interpretiert worden, sie wurde dröhnend gesungen und schamhaft beiseite gesäuselt. Und schließlich wurde sie, natürlich von Regisseur Peter Konwitschny in Hamburg, die Oper zum Stillstand bringend, verbal ausdiskutiert.

Jede Sängerin, jeder Sänger, jede Dirigentin, jeder Dirigent, jede Regisseurin, jeder Regisseur und auch jede Zuhörerin, jeder Zuhörer muss sich in diesen Zeilen der Auseinandersetzung mit der Geschichte stellen. Ob er will oder nicht. Wegschauen- und -hören gilt nicht. Deshalb ist die Oper an sich lebendig geblieben. Und am Rang der "Meistersinger" haben ihre historischen Missverständnisse und Missbräuche nicht wirklich kratzen können, denn das wahre Kunstwerk ist immer auch überzeitlich. Das große Kunstwerk bietet eine unerschöpfliche und zeitlose Fülle an Verstehensvariationen.

In München hat sich inzwischen sogar der Brauch eingebürgert, der schon fast eine Tradition zu nennen ist, mit den "Meistersingern" die Festspiele und damit auch die Spielzeit abzuschließen. Das ist wohl mehr als nur Lokalkolorit.

Oper ist die Überzeitliche, Völker und Klassen, Anschauungen und Stile Verbindende. So wie "Pelléas et Mélisande" - auch eine Münchner Neuinszenierung. Dieses 1902 in der Opera Comique, der kleineren, eigentlich weniger bedeutenden Schwester der Pariser Grand Opéra uraufgeführte Meisterwerk von Claude Debussy, das damals nichts so recht verstanden wurde. Und das uns doch heute in seinem rätselvollen Symbolismus und seiner feinsinnigen Prosodie, die den natürlichen Wortfluss Melodie werden lässt, so magisch modern anmutet wie am ersten Tag.

Mélisande ist die schweigsame, silbrig singende, seltsam uneigentlich sterbende, ihr Leben aushauchende blonde Schwester der heißblütigen Carmen, ihrer französischen Gegenfrauenfigur, die übrigens auch an der Opéra Comique uraufgeführt wurde. So hat die Oper immer auch Archetypen geschaffen, denken wir nur an Mozarts Don Giovanni, die einzige, südlich sinnliche Gegenfigur zu unserem nordischen Sinnsucher Faust!

Auch die neue Münchner Debussy-Inszenierung, sie steht - als löbliche Koproduktion mit der English National Opera in der Regie von Richard Jones und mit Paul Daniel im Graben - übrigens in der Tradition dieser Festspiele. Und so wie man bei den "Meistersingern" sich gerne an die letzte Inszenierung August Everdings mit dem Oktoberfestzelt-Finale erinnert, so kommen bei vielen älteren Münchner Opernfreunden die glücklichen Bilder von Jean Pierre Ponnelles letzter Visualisierung von 1973 um eine sich stetig drehende Trauerweide zurück. Auch die Münchner Publikumslieblinge von damals, Edith Mathis und Wolfgang Brendel, hat noch so mancher im Ohr. Das ist gelebte und verstandene Tradition. Ein Umstand, den die Oper immer sehr hoch gehalten hat.

Tradition ist gut. Sie ermöglicht die Wiederbegegnung mit den großen Meisterwerken der Vergangenheit. Wir lernen und wachsen an ihnen, dringen tiefer in sie ein, lernen sie in immer neuen Visualisierungen und musikalischen Interpretationen tiefer kennen. Sie kommen unserem Herzen näher. Sie verwandeln sich stetig und sie verwandeln uns. Das ist der Impuls immer wiederkehrender Neugier auf sie. Die Oper - das offene, im Noten- und Librettotext nur ungefähr zu fixierende Kunstwerk, das den Menschen zum Weiterleben braucht. Nichts ist hier sicher, wir müssen immer offen sein für neue Sichtweisen - und hören doch auch das Altvertraute. Ein beruhigendes Gefühl. Freilich, auch Innovation ist notwendig. Der immer neue Blick auf das Werk schließt auch Irritationen ein - neue Ungewissheiten, wo man sich früher schon auf sicheren Pfaden wähnte. Oper - Kunst generell - darf nicht nur Erwartungen befriedigen, das ist zu bequem. Kulinarischer Genuss nutzt sich rasch ab. Oper muss Herausforderungen stellen und selbst wagen, muss auch Experimentierfeld sein. Oper war immer repräsentativ und avantgardistisch, obwohl die Musik stilistisch oft dem Vorwärtsdrängen anderer Künste hinterher hinkte.

Obwohl beständig neue Opern uraufgeführt werden, allein in den letzten paar Monaten beispielsweise völlig unterschiedliche Stücke von so eigensinnigen Komponisten wie Mark André , Johannes Maria Staud und Brian Ferneyhough bei der Münchner Biennale, oder aber Werke von Matthias Pintscher, Siegfried Matthus, Thomas Adès, Friedrich Schenker, Giorgio Battistelli, Adriana Hölszky, Moritz Eggert, Georges Apergis oder Helmut Oering - nicht zu vergessen - das Schalke-Musical von Enjot Schneider, kreiselt in den meisten Opernhäusern ein immergleiches Repertoire von etwa fünfzig Stücken beständig wieder. Das ist schade.

Damit wird das Publikum wie in den Massenmedien unterschätzt. Sollte das Publikum wirklich so wenig neugierig sein auf Altes und Neues, Verschüttetes, Vergessenes, Übergangenes? Oder ist die Attraktivität des Angebotes Oper heute nicht auch eine Frage des sich aggressiver Verkaufens, des Mitmachens auf dem Marktplatz der Möglichkeiten? Wir alle wollen umworben werden, das steigert nicht zuletzt unser Selbstwertgefühl. Wir wollen auch verführt werden. Marketing ist wichtiger denn je auch für Kunstprodukte. Und das ist nicht verwerflich - ebenso wenig wie die kulturpolitische Forderung nach einem angemessenen Eigenfinanzierungsanteil. Einnahmensteigerung durch die gute Attraktivität eines klug gemachten Programms, das ist eine Herausforderung an die Oper.

In München ist beides gelungen, das Wir-Gefühl und das Verführen. Durch die mitreisenden "Oper für alle" -Abende zum Beispiel, umsonst und draußen, als Live-Übertragung auf dem Max-Joseph-Platz. Durch die unverwechselbaren Plakate von Pierre Mendel. Durch den fantasiesprühenden, auch streitbaren Direktor dieses Zirkus Opera, den längst als Münchner eingemeindeten Engländer und Weltmann Sir Peter Jonas. Er hat das Nationaltheater zu einem weit ausstrahlenden Zentrum, die Oper zu einem geliebten Mittelpunkt gemacht.

Es mag in der Oper Erweiterungen und Bereicherungen am Rande des Repertoires geben. Wie etwa die Neubewertung der durch die tragischen Verwerfungen unserer Geschichte ins Abseits gedrängten sogenannten "entarteten" und durch Doktrinen geschmähte, nach wie vor tonal komponierende Komponisten der zwanziger und dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ich denke hier an Victor Ullmann, Pavel Haas oder Erwin Schulhoff, an Alexander Zemlinsky, Erich Wolfgang Korngold, Paul Hindemith oder Walter Braunfels. Es ereignen sich populäre Wiederentdeckungs-Wellen wie die der Barockoper etwa als Comic-Musikkunst von heute, wie jüngst hier in München Händels Heldenepen unter Sir Peter Jonas.

Auch die Alte Musik erweist sich als erstaunlicher Jungbrunnen, aus dem wir erfreut und berührt immer neue, längst vom Staub der Vergangenheit verwehte Meisterwerke schöpfen. Claudio Monteverdi, Georg Friedrich Händel und Jean-Philippe Rameau, Jean Baptiste Lully und Francesco Cavalli, sogar der Opernkomponist Antonio Vivaldi, sie sind in unseren Kanon zurückgekehrt. Auch das - vor allem in unseren so gerne rationalen Breiten - längst abgetan geglaubte Belcanto-Repertoire von Gioacchino Rossini, Vincenzo Bellini und Gaetano Donizetti steht mit jugendfrisch agilen Stimmen in farbigster Blüte.

Doch solche archäologischen Aktivitäten und musikologischen Wiedergutmachungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen: Die Oper als kreative Kunstform steht ziemlich still, tritt auf der Stelle, hat sich in bisweilen esoterisch komplexe Phänotypen des Neuen, auf einen preziösen Abseitsplatz der wenigen Eingeweihten geflüchtet. Hier wird häufig immer noch dem Gedanken eines ewig linearen Vorschreitens, eines längst zweifelhaften Avantgarde-Begriffs gehuldigt. Ist der einmal aufgebrochen, ist nicht selten zweifelbehafteter, von schlechtem Gewissen getrübter Polistilismus die Folge. Was nicht heißen soll, Oper darf nicht sperrig sein. Sie muss es sogar. Schließlich bekommt sie ihre Gelder nicht nur für den leichten Genuss, das problemlose Schlucken, das wohlige Zurücklehnen. Der Staat finanziert sie als Kunst mit dem Auftrag, Repertoire und künstlerisches Wagnis anzubieten - zu erschwinglichen Preisen für alle.

Nur selten versuchen sich heute leider Komponisten und Librettisten an einer so zeitgenössischen Vorlage wie im letzten Sommer mit ihrem Münchner Festspiel-Auftrag "Das Gesicht im Spiegel" des damals 28 Jahre alten Komponisten Jörg Widmann und des auch noch jung zu nennenden Dramatikers Roland Schimmelpfennig.

Massentauglich wird die musikalische Moderne wohl nie werden. Doch gerade die zeitgenössische Oper als unmittelbar theatrale Form könnte in dieser Hinsicht vom deutschen Film lernen, der inzwischen auch relevanter und international beachteter, weil eigener Stoffe Herr geworden ist. Warum soll ein traurigkomisches "Good-Bye, Lenin" oder ein mit seiner Wucht berührendes "Gegen die Wand" nicht auch als ureigentlicher Opernstoff möglich sein? Schließlich geht es auch hier um Verwandlung durch Gefühle.

Doch stattdessen muss weiterhin das Repertoire in nachschöpferischer Weise befragt werden, immer radikaler, provokativer, schlagzeilenträchtiger. Das stete Drehen an der Spirale ist kaum aufzuhalten, schließlich will auch die Oper präsent sein im immer grellen Mediengetümmel. Der Elfenbeinturm wäre schließlich das Schlimmste und das Ende.

Das "Regietheater" ist nicht zuletzt ein internationaler deutscher Begriff wie "Kindergarten" geworden, weil er hierzulande besonders intensiv gepflegt wird. Auch die Kulturwelt arbeitet gern mit Klischees, und deshalb muss dem radikalen Bilderstürmer auf der Bühne immer auch das Gegenbild des erzkonservativen Lordsiegelbewahrers und Verteidigers einer selbstredend dubiosen Werktreue am Dirigentenpult vorgehalten werden. Irgendwo in der Mitte wird es dann meistens gut.

Und noch scheinen, anders als auf dem Theater, wo Texte oftmals so virtuos wie mitunter krampfig gebrauchte Verfügungsmasse geworden sind, die Partituren sakrosankt, auch wenn schon an ihren Rändern gekratzt wird. Doch eine Sache, die diskutiert wird, die Kontroversen hervorruft, kann noch nicht tot sein. Sie lebt. Und auch die Musik lebt aus der Vielfalt der Interpretationen.

Wir stehen sicherlich an einem Wendepunkt der Theatergeschichte - so wie sie dieses Land mit dem weltweit einzigartigen, unbedingt schützenswerten Kleinstaaterei-Erbe seiner über achtzig Opernbühnen und seinem Repertoiresystem geprägt hat. Unser Staat hat nicht 1, 5 oder zehn Opern, er hat mehr als achtzig! Das darf man hierzulande nie vergessen. Nicht alles wird erhalten werden können, altmodische, schwerfällige Systeme müssen umstrukturiert werden. Das Konsumverhalten der heutigen Gesellschaft hat sich dramatisch geändert.

Ein Opernabend ist da nur ein Teilangebot in einer immer bunter werdenden Palette von Freizeitbeschäftigungen. Für die wir freilich immer weniger Zeit haben. Und deren Angebote wir als gleichwertig prüfen. Kino, Fußballspiel, Essen mit Freunden, Fitnessstudio, ein gutes Buch, ein Popkonzert, eine Diskussionsveranstaltung, ein abendlicher Museumsbesuch oder die Oper - alles zählt gleich, alles buhlt um uns.

Die Oper, die Opernbühnen müssen sich dem stellen. Sonst sterben sie. Nur mit kreativen Maßnahmen wird sie ihr Publikum, auch ihr junges Publikum umwerben können.

Das Schwarzsehen ist zu schick geworden. Doch man soll es nicht nur Schönfärben nennen, wenn man angesichts der am Horizont bedrohlich sich auftürmenden finanziellen Schwierigkeiten und veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von der großen Chance für neue Spiel- und Organisationsformen spricht. Der Bund hat sich an der Umstrukturierung und Anschubfinanzierung der uns die letzten zehn Jahre so tragikkomisch beschäftigenden Berliner Opernlandschaft mit ihren drei noch nicht wirklich zu neuen Ufern strebenden Bühnen beteiligt. Auch um ein Zeichen zu setzen für andere Opernhäuser in Deutschland.

Egoistisches Denken einzelner Berufsgruppen, blinde Geschäftigkeit, Ignoranz gegenüber Besucherbedürfnissen muss dort der Vergangenheit angehören. Berlin hat nun eine - wohl letzte - Chance und muss sie nutzen. Schon weil die Hauptstadt national wie international Vorbildfunktion hat. Es muss uns dort gelingen, einen neuen Zugang zu den Menschen zu finden, die Organisationsform Oper kostengünstiger und ein wenig flexibler, durchlässiger und effizienter zu gestalten - ohne dass ihr künstlerischer Ertrag leidet. Im Gegenteil, der muss glänzen und strahlen, uns animieren, durch Säulen oder Stahltüren in den Palast der Verwandlung zu schreiten.

Wir brauchen Politikerinnen und Politiker, die solche Weichenstellungen ermöglichen. Die nicht immer nur kleinkariert in vierjährigen Wahlperioden denken, sondern länger greifende Konzepte mitentwickeln. Die sich kundig machen, wer auf dem längst globalisierten Opernmarkt die Solistenrolle spielt, die um die Schwierigkeiten, Nöte und Bedürfnisse dieser uns so teuren Kunstform wissen, deren Verheißungen aber auch zu schätzen wissen. Kulturpolitik ist Fachpolitik, und "Qualität" ist ein Schlüsselwort für die gesamte Präsenz der Künste.

Doch nicht nur die Politik ist gefordert, sondern auch die Bürger. Privates Engagement darf nicht nur wenigen, von Kursschwankungen geleitete Firmen überlassen werden. Wobei auch hier wiederum die Münchner Oper mit ihren noch gar nicht so lange bestehenden Sponsorenzirkeln Vorbildliches geleistet hat. Oper muss viele angehen, die auch kleine Solidaritätsbeiträge zu leisten gewillt sind.

Oper muss Menschen ansprechen. Sie zu besuchen, dort ein sie verwandelndes Glück zu erfahren, aber auch für sie zu bezahlen. Mit Eintrittskarten, besser noch mit zusätzlichen Kontributionen. Auf dass wir uns noch lange an dem wunderbaren Kunstwerk Oper delektieren, von ihm erhoben oder niedergedrückt, begeistert oder enttäuscht werden. Ihm gegenüber jedenfalls nicht kalt und gleichgültig bleiben. Das nämlich wäre wirklich der Tod der Oper.

Ich möchte noch einmal aus Richard Wagners "Meistersinger" zitieren, auf deren Neuinszenierung wir uns übermorgen alle freuen."Euch macht ihr's leicht, mir macht ihr's schwer", singt darin der bürgerlich festverwurzelte, nur von einer kurzen Liebesaufwallung gestreifte Meister Hans Sachs fast am Ende, wenn nur noch der Ritter Walther seine Goldschmiedtochter Eva mit dem Preislied erringen muss, wenn die wieder frische Kunst "morgendlich leuchtend im rosigen Schein" aufbricht, um Neues zu schaffen. Mir haben Sie es heute mit diesem Thema nicht schwer gemacht. Ich konnte schwärmen und nachdenken über den so geliebten Palast der Verwandlung. Und ich habe gern geschwärmt. Ich danke Ihnen.