Redner(in): Christina Weiss
Datum: 02.09.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss eröffnete am 02. September 2004 die Reihe "Konzerte Oper 04" der Berliner Festspiele.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/11/708111/multi.htm


der Begriff "Interzone" hätte gut auch als Motto über einem Festival stehen können: Zwischenzone, oder Wechselzone - das verheißt Experimentelles, Widerstand gegen eigene Vorlieben, das Zusammentreffen von Verschiedenartigem, unbestimmten Entwicklungen, Offenheit, Übergängen, Wechselwirkungen. Ich finde in den angekündigten Programmen für die Reihe "Konzerte Oper 04", die an die Stelle der Berliner Festwochen getreten ist, vieles, auf das diese Beschreibung passen würde.

Der Komponist Enno Poppe und der Librettist Marcel Beyer beziehen sich gemeinsam mit ihrer künstlerischen Partnerin Anne Quirynen auf William S. Burroughs 1989 erschienene Textsammlung "Interzone", die unveröffentlichtes Material seines Buches "Naked Lunch" enthält. Dort führt Burroughs den Namen "Interzone" in die Literatur als einen - seinen Drogenphantasien entsprungenen - alptraumhaften Ort zwischen Realität und Fiktion ein. Die "Interzone" wurde für ihn zu einer Zwischenwelt, in der er sich auch mit seinen eigenen Ängsten und Obsessionen auseinandersetzen konnte, vor allem aber zum ideellen Ereignisraum, in dem alles möglich schien.

In dieser Bedeutung hat die "Interzone" sogar einen realen Hintergrund, denn sie war die Bezeichnung für das marokkanische Tanger, das in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als steuerbegünstigte Insel nicht nur zum Anziehungspunkt der internationalen Finanzwelt, sondern zur geistig-anregenden Heimat vieler Intellektueller wurde. Burroughs fühlte sich neben Tennessee Williams, Truman Capote und Paul Bowles von dieser Schnittstelle zwischen Orient und westlicher Welt angezogen, weil er hier seine Vorstellung von Freiheit leben konnte. Heute wird das Bild von Tanger eher von Berichten über afrikanische Flüchtlinge bestimmt, die sich ins Meer stürzen, um den nur 14 km entfernten europäischen Kontinent zu erreichen. Auch dieser Wahrnehmungswandel, diese Geschichten von Verheißung und Vergeblichkeit wären ein spannendes Thema für die Kunst. Naked Lunch "wurde für die" Beat-Generation "insbesondere wegen seiner sprachlichen Radikalität und der unbemäntelten Notiz permanenter Drogenerfahrungen zu einem Kultbuch; die" Interzone "auch zu einem Synonym für einen Rauschzustand, von dem man sich anschwellende Kreativität erhoffte. Die Autoren der heute erlebten" Interzone "folgen den - wie ich finde - interessanteren Ansätzen: William Burroughs" Interzone "regt nämlich auch an, feste Begrifflichkeiten in Frage zu stellen, die Assoziationskraft von Worten zu sezieren und sich mit der Simultanität von Wahrnehmungen zu beschäftigen. Schon" Naked Lunch "ist durch permanente Schnitte geprägt, durch das geordnete Chaos von Bildern und Ereignisfetzen. In seinem Spätwerk entwickelt Burroughs eine noch radikalere Collage-Technik. Er zerschneidet Texte und setzt sie - auf der Suche nach neuen Sinnzusammenhängen - neu zusammen. Der Gedanke, dass sich auch in der heutigen, derart stark von Medien geprägten Welt ständig Worte und Satzfetzen mischen und bewusst oder unterbewusst neue Inhalte aufgenommen werden, ist auch für Kunstprozesse außerordentlich reizvoll. Wenn man diese Technik nicht nur auf Texte, sondern auch auf Bilder und Töne münzt, dann stellt sich ein weiterer Bezug zu der heutigen" Interzone " her.

Erfahrungen, Geschichten, Traditionen - Bilder, Töne, Worte - verschiedene Wahrnehmungsebenen treffen in dieser "Interzone" zusammen, beeinflussen sich, überlagern sich, verstärken sich. Ich möchte den Künstlern, die zwei Jahre an diesem assoziationsreichen Auftragswerk der Berliner Festspiele des Bundes gearbeitet haben, herzlich danken ( und ihnen zum Erfolg gratulieren ) . Man tut sich vielleicht etwas schwer, das Werk "Oper" zu nennen. Aber wenn man Schlingensiefs großartigen "Parsifal" gesehen hat, sind die verwandten ästhetischen Mittel vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt.... Es ist jedenfalls interessant festzustellen, wie weit sich unsere Sinne inzwischen in der multimedialen Welt auf ein unablässiges Changieren zwischen Aufnehmen, Verarbeiten und Kommunizieren eingestellt haben.

Ich hoffe, dass die "Interzone" der jungen Autoren Enno Poppe, Marcel Beyer und Anne Quirynen noch ein größeres Publikum findet. Dass das Publikum hier in Berlin auf der Bühne platziert war, macht einmal mehr bewusst, dass es für diese multimedialen und Genregrenzen überschreitenden Kunstprojekte nur sehr wenig geeignete Aufführungsstätten gibt. Das Musiktheater der Gegenwart ist noch immer weitgehend in der Hülle des 19. Jahrhunderts gefangen. Solche Bindungen aufzubrechen, Neues zu wagen, der Kunstentwicklung neue Räume zu öffnen - darin sehe ich ein wichtiges Anliegen und auch eine Existenzberechtigung der Berliner Festspiele des Bundes. Die Bundesregierung engagiert sich für Festival wie dieses, weil es darum geht, mit einem interessanten, intellektuell herausfordernden, musikalisch außergewöhnlichen, innovativ aufgeladenen, aber gleichzeitig auch festlichen Programm den Ruf Berlins als Musikstadt zu heben. Und wenn immer ich immer wieder damit zitiert werde, ich hätte gefordert, dass eine "Sehnsucht nach Glanz" befriedigt werden müsse, so sind damit keinesfalls nur oberflächliche Reize gemeint, sondern spektakuläre Aufführungen und Konzerte, die wir besonders auch im nächsten Jahr erleben werden. Ich bin sehr glücklich, dass die Berliner Philharmoniker wieder mit von der Partie sind. Die Berliner Festspiele des Bundes sind auf einem guten, einem mutigen Weg. Sehen Sie uns unsere Ungeduld nach, lieber Herr Sartorius!

Ich wünsche der Reihe "Konzerte Oper 04" einen erfolgreichen Verlauf und uns noch einen Abend anregender Gespräche.