Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 23.09.2004

Untertitel: In seiner Rede vor der UN-Generalversammlung am 23. September 2004 in New York, hat sich Bundesaußenminister Joschka Fischer für eine Reform des Systems der Vereinten Nationen ausgesprochen.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/62/719162/multi.htm


Herr Präsident,

lassen Sie mich zunächst Ihnen, Herr Präsident Ping, zu Ihrer Wahl gratulieren und für Ihr wichtiges Amt viel Erfolg wünschen. Gleichzeitig spreche ich dem scheidenden Präsidenten für seine engagierte Arbeit meinen aufrichtigen Dank aus. Den Ausführungen der niederländischen EU-Präsidentschaft schließe ich mich an.

Herr Präsident,

zu Beginn des 21. Jahrhunderts verändert sich die Welt mit dramatischer Geschwindigkeit. Die Menschheit wird in wenigen Jahrzehnten auf 8 Milliarden angewachsen sein. Durch die Vernetzung des Welthandels, durch die globale Kommunikationstechnologie wachsen wir immer mehr zusammen. Wirtschaftlich und technisch werden wir zunehmend voneinander abhängig werden.

Gleichzeitig sind wir alle mit einer Vielzahl neuer Herausforderungen konfrontiert; mit neuen Gefahren, die uns gleichermaßen bedrohen: den Süden wie den Norden, die sich entwickelnde wie die entwickelte Welt.

Es sind zum einen Bedrohungen für die nationale und globale Sicherheit wie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Nukleargefahr, die Bedrohung durch zerfallene Staaten oder - uns allen hier in dieser Stadt in schmerzlicher Erinnerung - durch den Terrorismus.

Zum anderen sind es auch so genannte "weiche" Bedrohungen wie weitreichende Umwelt- und Klimaveränderungen, Armut, Bildungs- und Ausbildungsnotstände und die Schattenseiten der Globalisierung, Flüchtlingsströme, Krankheiten und Epidemien wie HIV / AIDS und Malaria. Sie bedrohen Sicherheit und Stabilität und fordern viele Opfer.

Zwischen beiden,"harten" wie "weichen" Bedrohungen, besteht ein enger Zusammenhang: Denn wir wissen, dass Ursachen für Krieg und Gewalt, für Armut, für Not, für Unterdrückung vielschichtig sind und weit zurückreichen. Und wir wissen auch, dass Krisen in Wechselwirkung mit Armut und Perspektivlosigkeit stehen. Wir werden keinen Frieden ohne Entwicklung - aber auch keine Entwicklung ohne Frieden bekommen. Wir müssen daher Frieden und Stabilität umfassend sichern - vor allem durch wirtschaftliche und soziale Entwicklung.

Herr Präsident,

die Staaten der Welt müssen die wirtschaftliche, technologische und ökologische Globalisierung gemeinsam gestalten und sich den daraus erwachsenden Herausforderungen stellen. Dies werden sie nicht leisten können, ohne eng zu kooperieren. Allein mit den Mitteln der klassischen Diplomatie ist dies nicht mehr möglich. Deren Lösungskompetenz zur Sicherung und Stabilisierung des internationalen Systems allein wird sich in Zukunft als immer unzureichender erweisen.

Was wir brauchen ist eine tief greifende Reform des internationalen Systems und seiner Institutionen, die diesen Veränderungen Rechnung trägt. Und diese Reform brauchen wir dringend. Denn wir müssen einen effektiven Multilateralismus schaffen, der uns in die Lage versetzt, Krisen gemeinsam zu verhindern und, wo dies nicht gelingt, dauerhaft zu lösen.

Auf regionaler Ebene gibt es hier bereits hoffungsvolle Entwicklungen: Aufgrund ihrer historischen Erfahrung haben sich die Staaten Europas zur Europäischen Union zusammengeschlossen und damit eine neue Dimension des Multilateralismus erreicht. Diese politische und wirtschaftliche Gemeinschaft von mittlerweile 25 Staaten hat sich zu einem Stabilitätsanker für Europa und darüber hinaus entwickelt.

Seit ihrer Gründung stellt sich die Afrikanische Union der gemeinsamen Verantwortung für die Abwehr humanitärer Katastrophen und die Lösung schwerer regionaler Konflikte auf beeindruckende Weise. Dies ist ein wichtiger Schritt nach vorne. Dieser Durchbruch zum Multilateralismus auf dem afrikanischen Kontinent wird eine immer größere Dynamik entwickeln.

Angesichts der weltweiten Abhängigkeiten und Verflechtungen sind wir aber auf eine Weltorganisation angewiesen, die mit diesen Regionalorganisationen eng verzahnt ist und so die Effizienz des gemeinsamen Handelns steigert. Die Vereinten Nationen sind das wichtigste Forum globaler Regelsetzung. Ihre Stärke ist die Stärke des Rechts, wie es der Generalsekretär in seiner beeindruckenden Rede zur Eröffnung dieser Generalversammlung dargelegt hat.

Mit ihrer Legitimität steht uns eine einzigartige, universelle Kompetenz zur gemeinsamen Problemlösung zur Verfügung. Seit dem Ende ihrer inneren Blockade durch den Kalten Krieg spielen sie zwangsläufig eine immer wichtigere Rolle.

Die Staatengemeinschaft nutzt die Vereinten Nationen als Forum zur Bewältigung der großen Menschheitsherausforderungen immer mehr. Für Millionen von Menschen bedeutet die blaue Flagge heute ganz konkrete Hilfe in existenziellen Fragen, heißt sie Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dafür sind wir alle der Organisation und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu tiefem Dank verpflichtet. Sie sind in zahlreichen Krisengebieten in Lateinamerika, Europa, Afrika und Asien präsent. Dabei wird immerdeutlicher, dass für die Verhinderung und Beilegung jeder dieser Krisen unterschiedliche Wege gefunden werden müssen.

Das zeigt das Engagement der VN in allen Krisengebieten: in Afghanistan wie auf dem Balkan, in Haiti wie in der Region der Großen Seen. In all diesen Einsatzgebieten leisten die VN schon heute Beachtliches. Wir müssen uns jedoch darauf einstellen: Die Konflikte werden nicht weniger, die Anforderungen an die Organisation wachsen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Strukturen, die die Vereinten Nationen bei ihrer Gründung vor fast sechzig Jahren erhalten haben, zur Erfüllung dieses Auftrags noch geeignet sind; ob ihr Wirken international die nötige Akzeptanz erfährt. Gerade die Auseinandersetzungen um die Irakkrise haben diese Problematik nochmals deutlich gemacht.

Wir sind davon überzeugt: Zu einer multilateral handelnden Welt gibt es keine Alternative. Und um diese multilaterale Kooperation nachhaltig und durchsetzungsfähig zu gestalten, benötigen wir eine mutige und umfassende Reform der VN.

Herr Präsident,

der Generalsekretär selbst - und dafür gebührt ihm Dank - hat die Initiative dazu ergriffen. Zu diesem Zweck hat er eine Gruppe hochrangiger internationaler Fachleute berufen, die ihm Ende des Jahres Reformvorschläge vorlegen werden. Wir sehen diesem Bericht und der anschließenden Debatte mit großem Interesse entgegen.

Dabei geht es auch um ein neues, gemeinsames Verständnis des Systems der Charta: Wie gestalten wir Prävention effektiver und Friedenskonsolidierung nachhaltiger? Wie setzen wir die Vorschläge zur Reform des Peacekeeping weiter um? Was genau verstehen wir unter dem Recht auf Selbstverteidigung? Und wie definieren wir Terrorismus? Gerade die Antwort auf diese Frage scheint klar zu sein, aber ein echtes Einvernehmen würde uns einen Schritt weiterbringen.

Zur Reform der VN-Institutionen liegen bereits eine Reihe sehr konkreter Vorschläge vor. Lassen Sie mich daher zu diesem Bereich einige Gedanken erläutern:

Ich möchte mit der Generalversammlung beginnen: Sie ist das zentrale Organ der VN, das einzige mit universeller Mitgliedschaft. Gerade deshalb muss die Generalversammlung mehr sein als ein Forum jährlicher Anpassungs- und Wiederholungsübungen. Was wir brauchen ist zum einen eine größere Konzentration in der Themenauswahl. Wir müssen die wirklich wichtigen Fragen diskutieren - sonst wird das Wesentliche in anderen Foren behandelt. Und zum anderen benötigen wir auch eine effizientere Arbeitsweise.

Herr Präsident,

der Wirtschafts- und Sozialrat muss endlich das zentrale Beratungs- und Entscheidungsorgan des VN-Systems in wirtschaftlichen und sozialen Fragen werden. Wir glauben, dass der ECOSOC auf zwei Ebenen großes Potenzial hat, das bislang nur im Ansatz genutzt wird:

Zum einen verfügt dieses Gremium über ein weltweit einmaliges Expertisenetzwerk. Dies müssen wir besser und zielorientierter nutzen. Und zum anderen sehen wir ihn als Partner des Sicherheitsrats bei der Friedenssicherung, so wie es Art. 65 der Charta vorsieht. Bei Bekämpfung von Ursachen für Konflikte und bei Krisennachsorge hat der ECOSOC eine wichtige Rolle zu spielen, die die Bemühungen des Sicherheitsrats um Konfliktprävention und Friedenskonsolidierung flankieren kann. Wir sollten ihm mehr Kompetenzen im operativen Bereich geben.

Denn unsere Anstrengungen in den Friedensmissionen werden nur dann erfolgreich sein, wenn dem militärischen Engagement eine längere Stabilisierungsphase folgt. Die Beratungsgruppen des ECOSOC zur Krisennachsorge in Afrika sind ein Schritt in die richtige Richtung. So könnte das entscheidende Bindeglied zwischen Konfliktmanagement und Entwicklungszusammenarbeit aussehen.

Ein solcher ganzheitlicher Ansatz erfordert eine entsprechende finanzielle Ausstattung. Das Instrument der freiwilligen Beiträge hat sich als unzureichend herausgestellt. Ich schlage daher vor, einen festen Anteil des Haushalts der VN-Friedensmissionen für die Krisennachsorge vorzusehen. Damit würde uns gelingen, was wir sei langem anstreben. Ein "Präventionsanteil", der uns - denken wir an Haiti - die Kosten der Bewältigung eines Wiederaufflammens des Konflikts ersparen helfen könnte.

Herr Präsident,

von vielen wird die Ausweitung von Neben- und Unterorganisationen der VN kritisiert. Natürlich kann eine Reduzierung hier kein Selbstzweck sein. Aber wir sollten selbstkritisch genug sein, uns mit der Frage zu beschäftigen, ob eine Bündelung von Kompetenzen in dem einen oder anderen Fall nicht der bessere Weg ist.

Andererseits gibt es auch Bereiche, die besser ausgestattet werden müssen. Ich denke hier zum Beispiel an die Behandlung von Umweltfragen im VN-System. Wir unterstützen daher den im letzten Jahr vom französischen Staatspräsidenten Chirac gemachten Vorschlag, UNEP in eine Sonderorganisation mit universeller Mitgliedschaft umzuwandeln. Dies könnte den Beitrag von UNEP zur nachhaltigen Entwicklung beträchtlich stärken.

Herr Präsident,

im Zentrum der Reform der Vereinten Nationen steht das Organ, das die Hauptverantwortung für den internationalen Frieden trägt: der Sicherheitsrat.

Die Konflikte nehmen zu. Sie erstrecken sich über alle Kontinente. Sie werden komplizierter. Damit haben Verantwortung und Kompetenzen des Rates ständig zugenommen. Krisenprävention wird einen immer größeren Stellenwert einnehmen. Und beim werden zunehmend umfassendere Strategien, engere Zusammenarbeit und mehr Mittel gefordert sein. Dies führt zwangsläufig immer häufiger zu Entscheidungen, die langfristige Verpflichtungen zur Folge haben, Völkerrecht begründen und weit in die staatliche Souveränität eingreifen können.

Wenn wir wirklich wollen, dass die Entscheidungen des Rates als legitim akzeptiert und effektiv umgesetzt werden, dann müssen wir ihn reformieren. Dann muss er eine Staatenorganisation von heute 191 Mitgliedern umfassender repräsentieren. Dies ist nicht vorstellbar ohne eine Erweiterung seiner Sitzzahl - um ständige wie um nichtständige Mitglieder.

Die Gründe für eine solche Erweiterung sind einleuchtend: Ein Rat mit mehr Mitgliedern würde international über mehr Akzeptanz als Grundlage für mehr Autorität verfügen. Die ausgewogenere und umfassendere Vertretung aller Kontinente auch bei den ständigen Mitgliedern würde zu größerer Identifikation aller Staaten mit dem Sicherheitsrat führen. Und eine Erweiterung würde die Motivation der neuen Sicherheitsratsmitglieder zum nachhaltigeren Einsatz für die Verwirklichung der Ziele der VN klar erhöhen.

Die Erweiterung muss Umbrüche wie die Dekolonisierung, das Ende des Kalten Krieges und die Globalisierung adäquat widerspiegeln. Im Ergebnis muss die Zusammensetzung des Rates den gegenwärtigen geopolitischen Realitäten entsprechen. Dafür müssen alle großen Regionen des Südens im Sicherheitsrat als ständige Mitglieder vertreten sein.

Gleichzeitig sollten die Mitglieder berücksichtigt werden, die einen besonders bedeutenden und nachhaltigen Beitrag zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sowie zur Verwirklichung der Ziele der Organisation leisten können und wollen. Beide Erweiterungsansätze würden die Effizienz, die Handlungsfähigkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Rates vergrößern.

Herr Präsident,

seit 40 Jahren ist die Zusammensetzung des Sicherheitsrats unverändert geblieben. Ich glaube, es ist höchste Zeit, ihn an die neue Weltlage anzupassen. Dabei sind halbe oder Zwischenlösungen nicht nötig und nicht hilfreich.

Wie Brasilien, Indien und Japan ist auch Deutschland bereit, die Verantwortung zu übernehmen, die mit einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat verbunden ist. Besonders wichtig ist allerdings, dass der afrikanische Kontinent unter den neuen ständigen Mitgliedern vertreten ist.

Bei einer Sicherheitsreform muss aber noch ein Zweites berücksichtigt werden: Insgesamt sollten sich mehr Mitgliedsstaaten, die sich für die VN engagieren, stärker in die Arbeit des SR einbringen können. Dafür ist die Schaffung auch zusätzlicher nichtständiger Sitze erforderlich. So bleibt auch ein ausgeglichenes zahlenmäßiges Verhältnis zwischen ständigen und nichtständigen Mitgliedern erhalten.

Herr Präsident,

ich habe es anfangs erwähnt: Diese Generalversammlung wird im Zeichen der Reform der Vereinten Nationen stehen. Ich appelliere daher an die Mitgliedsstaaten: Nutzen wir diese 59. Sitzung bis zur nächsten Generalversammlung 2005 dazu, die überfälligen Reformen in die Wege zu leiten und zu greifbaren Ergebnissen zu kommen.

Wir, die Mitgliedsstaaten müssen die politische Fantasie, den Willen und die Gestaltungskraft aufbringen, die Organisation an die Weltlage anzupassen. Deutschland ist bereit, dabei engagiert mitzuarbeiten.

Ich danke Ihnen.